24. Dezember 2018

Legastheniker gehen unter


Wenn die Mutter fragte, wie es in der Schule war, antwortete Moritz* manchmal: «Ich kann ja eh nichts!» Abends plagte ihn Kopfweh, morgens Bauchweh – dazwischen kämpfte er gegen den Schulfrust.
Das einsame Leiden der Legastheniker, Beobacher, 20.12. von Conny Schmid


Seine Mutter, Christine Fischli*, erinnert sich an eine Prüfung über Bienen. «Er wusste wirklich alles über die Viecher.» Aufs Papier brachte Moritz aber nur schiefe Buchstaben und krumme Sätze. Der Bub ist Legastheniker, sein Gehirn verarbeitet Laute und Buchstaben anders als andere. Er ist sehr langsam beim Lesen, versteht Texte schlecht. Und die Rechtschreibung – ein Mysterium für ihn.

Bis das allerdings einer feststellte, verstrichen Jahre. Dabei ging Moritz regelmässig zur Logopädin – seit dem Alter von vier Jahren. Trotz vielem Üben auch zu Hause hatte er kaum Erfolgserlebnisse. «Viele Übungen waren zu schwierig für ihn und lösten nur Stress aus», sagt Fischli. «Auch ständiges Wiederholen änderte daran nichts.»
Als Moritz in der vierten Klasse war, schritten die Eltern zur Tat. Sie liessen ihn entgegen der Meinung der Logopädin beim Schulpsychologen abklären.

Auffällig schlechte Leistung
Legastheniker ist man laut Definition der Weltgesundheitsorganisation, wenn die Lese- und Schreibfähigkeiten deutlich schlechter sind, als es die Intelligenz erwarten liesse. Betroffen sind acht bis zehn Prozent der Kinder. Der Schulpsychologe stellte fest: auch Moritz.

Seither darf er Aufsätze auf dem Tablet schreiben – mit Rechtschreibkorrektur. Er hat länger Zeit bei Prüfungen, die Aufgaben werden ihm vorgelesen. Weil Legasthenie als Beeinträchtigung gilt, hat er Anspruch auf diesen sogenannten Nachteilsausgleich. Inhaltlich wird Moritz’ Leistung gleich benotet wie bei allen anderen, denn dümmer ist er ja nicht. Statt zur Logopädin geht er seit dem Sommer zu einer Legasthenietrainerin und macht grosse Fortschritte – endlich. «Uns wurde immer wieder gesagt, er brauche einfach länger als andere Kinder. Wir haben viel wertvolle Zeit verloren», sagt seine Mutter.

«Kinder, die untergehen»
Dass eine Logopädin jahrelang erfolglos therapiert und trotzdem keinen Anlass für eine Abklärung sieht, ist sicher nicht der Normalfall. Dass Legastheniker keine ausreichende Förderung erhalten, kommt aber immer wieder vor. Moritz’ heutige Trainerin betreut gleich mehrere Kinder mit ähnlichen Geschichten. Auch beim Schweizer Dyslexieverband klingelt das Sorgentelefon oft aus diesem Grund. «Es gibt zuhauf legasthene Kinder, die im heutigen Schulsystem untergehen, sagt Vizepräsidentin Monika Brunsting, auf Lernstörungen spezialisierte Psychotherapeutin.

Typischerweise sähen betroffene Kinder gar nie eine Logopädin. «Sie werden zusammen mit anderen Kindern mit ganz anderen Beeinträchtigungen von einer schulischen Heilpädagogin gefördert», sagt Brunsting.

Das führe oft dazu, dass man ihre Probleme nicht gezielt angehen könne. «Reine Rechtschreib- und Wiederholungsübungen bringen einem Legastheniker meist nichts.»

So war es auch beim 13-jährigen Corsin*. Kurz vor dem Übertritt in die Oberstufe hat eine Logopädin bei ihm eine isolierte Rechtschreibstörung diagnostiziert. In den ersten zwei Schuljahren hatte man ihn in eine Deutsch-Fördergruppe eingeteilt – zusammen mit fremdsprachigen Kindern. «Man erkannte bei ihm wohl den Förderbedarf. Aber wie gezielt sein eigentliches Problem dabei angegangen wurde, weiss ich nicht», sagt seine Mutter, Sophie Hirscher*. Besser wurde es jedenfalls nicht.

Ab der dritten Klasse sollte Corsin dann doch in die Logopädie, doch es gab eine lange Warteliste. Erst im Jahr darauf wurde ein Platz frei. Danach dauerte es nochmals zwei Jahre, bis endlich klar war, warum ihm die Rechtschreibung so schwerfällt. «Uns wurde stets gesagt, man müsse zuerst abwarten, wie er sich entwickelt», sagt Hirscher.

Sie stören zu wenig
Wie häufig Legastheniker lange unentdeckt bleiben, ist unbekannt. Zahlen gibt es nicht. «Legastheniker stören den Unterricht in der Regel kaum. Sie gehen unter, weil die Heilpädagogen sich zuerst um die Kinder mit Verhaltensproblemen kümmern müssen», so Expertin Brunsting.

Beim Deutschschweizer Logopädinnen- und Logopädenverband will man die Problematik in dieser Form nicht bestätigen. Auch nicht beim Berufsverband Heil- und Sonderpädagogik. Man könne aber nicht ausschliessen, dass es in einzelnen Fällen unglücklich laufe. Gerade in den ersten Schuljahren sei oft nicht so leicht zu erkennen, ob ein Kind einfach etwas mehr Zeit benötige oder ob wirklich eine Störung vorliege.

Der lange Weg zur Abklärung
Die meisten Kinder machen anfangs viele Fehler. Typische Legastheniker-Fehler gibt es aber nicht. «Eine Abklärung verursacht einen relativ grossen Aufwand. Es braucht Berichte, Kostengutsprachen und zudem das Einverständnis der Eltern, die sich manchmal auch sträuben», sagt Katharina Beglinger vom Heilpädagogenverband. «Es kann daher vorkommen, dass die Dringlichkeit einer Abklärung spät erkannt wird.»
Genau das sei das Problem, sagt Fachfrau Monika Brunsting. Bevor die integrativen Schulungsformen eingeführt wurden, habe es eine Abklärung zwingend gebraucht, um überhaupt Förderung zu erhalten. «Da hat man von Anfang an genauer hingeschaut.»
Für die Entwicklung der betroffenen Kinder wäre es jedenfalls wichtig, dass ihre Störung möglichst früh behandelt wird. Die Neurowissenschaftlerin Silvia Brem formuliert es so: «Legasthenie ist teilweise genetisch bedingt und wächst sich nicht einfach aus. Man kann aber mit der richtigen Unterstützung verhindern, dass sie wirklich zum Problem wird.»
Brem forscht an der Universität Zürich und arbeitet unter anderem mit Hirnscans. Diese zeigen: Bei Legasthenikern werden die für die komplexen Vorgänge zuständigen Hirnareale weniger stark aktiviert als bei Nichtlegasthenikern. Zugleich sind oft zusätzliche Hirnareale beteiligt, die normalerweise beim Lesen nicht aktiv sind. Sie springen ein, obwohl sie gar nicht zuständig wären, vermutet Brem. «Deshalb ist der Lernprozess für Legastheniker auch so anstrengend.» Sie müssten sich alles mühsam erarbeiten und einprägen. «Das automatische Lernen funktioniert bei ihnen weniger gut.»

Bis hin zur Depression
Wenn Legasthenie nicht erkannt wird, hat das weitreichende Folgen. Lesen und Schreiben ist in vielen Schulfächern unabdingbar und wird mitbewertet. Für Legastheniker bedeutet das nicht selten schlechte Noten auch in Gebieten, in denen sie eigentlich Bescheid wissen. «Auf Dauer kann das SchulfrustDepressionen oder sogar Suizidgedanken auslösen», sagt Forscherin Silvia Brem. Die schlechten Noten haben manchmal auch Lernzielanpassungen zur Folge – und im Endeffekt schlechtere Chancenbei der späteren Berufswahl.

Beim Dyslexieverband drängt man daher auf ein flächendeckendes Früherkennungssystem. Bereits heute werden am Ende des Kindergartens mancherorts Tests gemacht, um Risikofälle zu erkennen: Kinder mit besonders kleinem Wortschatz oder schlechter Aussprache etwa. Auf diese richtet man dann in der Schule ein besonderes Augenmerk. Der Verband fordert, solche Tests überall obligatorisch einzuführen – in der föderalistischen Schweiz eine Herkulesaufgabe.

Für Moritz ist es vorerst gut ausgegangen. Er schaut nun der Lehrerin beim Händedruck in die Augen, geht aufrechter und meldet sich im Unterricht. Die Übungen in der neuen Therapie sind so auf ihn zugeschnitten, dass er viele Erfolgserlebnisse hat. Seinem angeknacksten Selbstbewusstsein hat das den nötigen neuen Schub gegeben.


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