Wenn die Mutter fragte, wie es in der Schule war, antwortete Moritz*
manchmal: «Ich kann ja eh nichts!» Abends plagte ihn Kopfweh, morgens Bauchweh – dazwischen kämpfte er gegen den Schulfrust.
Das einsame Leiden der Legastheniker, Beobacher, 20.12. von Conny Schmid
Seine Mutter, Christine Fischli*, erinnert sich an eine Prüfung über
Bienen. «Er wusste wirklich alles über die Viecher.» Aufs Papier brachte Moritz
aber nur schiefe Buchstaben und krumme Sätze. Der Bub ist Legastheniker, sein
Gehirn verarbeitet Laute und Buchstaben anders als andere. Er ist sehr langsam
beim Lesen, versteht Texte schlecht. Und die Rechtschreibung – ein Mysterium
für ihn.
Bis das allerdings einer feststellte, verstrichen Jahre. Dabei ging
Moritz regelmässig zur Logopädin – seit dem Alter von vier Jahren. Trotz vielem
Üben auch zu Hause hatte er kaum Erfolgserlebnisse. «Viele Übungen waren zu
schwierig für ihn und lösten nur Stress aus», sagt
Fischli. «Auch ständiges Wiederholen änderte daran nichts.»
Als Moritz in der vierten Klasse war, schritten die Eltern zur Tat. Sie
liessen ihn entgegen der Meinung der Logopädin beim Schulpsychologen abklären.
Auffällig schlechte Leistung
Legastheniker ist man laut Definition der Weltgesundheitsorganisation,
wenn die Lese- und Schreibfähigkeiten deutlich schlechter sind, als es die
Intelligenz erwarten liesse. Betroffen sind acht bis zehn Prozent der Kinder.
Der Schulpsychologe stellte fest: auch Moritz.
Seither darf er Aufsätze auf dem Tablet schreiben – mit
Rechtschreibkorrektur. Er hat länger Zeit bei Prüfungen, die Aufgaben werden
ihm vorgelesen. Weil Legasthenie als
Beeinträchtigung gilt, hat er Anspruch auf diesen sogenannten
Nachteilsausgleich. Inhaltlich wird Moritz’ Leistung gleich benotet wie bei
allen anderen, denn dümmer ist er ja nicht. Statt zur Logopädin geht er seit
dem Sommer zu einer Legasthenietrainerin und macht grosse Fortschritte –
endlich. «Uns wurde immer wieder gesagt, er brauche einfach länger als andere
Kinder. Wir haben viel wertvolle Zeit verloren», sagt seine Mutter.
«Kinder, die untergehen»
Dass eine Logopädin jahrelang erfolglos therapiert und trotzdem keinen
Anlass für eine Abklärung sieht, ist sicher nicht der Normalfall. Dass
Legastheniker keine ausreichende Förderung erhalten, kommt aber immer wieder
vor. Moritz’ heutige Trainerin betreut gleich mehrere Kinder mit ähnlichen
Geschichten. Auch beim Schweizer Dyslexieverband klingelt das Sorgentelefon oft
aus diesem Grund. «Es gibt zuhauf legasthene Kinder, die im heutigen Schulsystem untergehen, sagt Vizepräsidentin
Monika Brunsting, auf Lernstörungen spezialisierte Psychotherapeutin.
Typischerweise sähen betroffene Kinder gar nie eine Logopädin. «Sie
werden zusammen mit anderen Kindern mit ganz anderen Beeinträchtigungen von
einer schulischen Heilpädagogin gefördert», sagt Brunsting.
Das führe oft dazu, dass man ihre Probleme nicht gezielt angehen könne.
«Reine Rechtschreib- und Wiederholungsübungen bringen einem Legastheniker meist
nichts.»
So war es auch beim 13-jährigen Corsin*. Kurz vor dem Übertritt in die
Oberstufe hat eine Logopädin bei ihm eine isolierte Rechtschreibstörung
diagnostiziert. In den ersten zwei Schuljahren hatte man ihn in eine
Deutsch-Fördergruppe eingeteilt – zusammen mit fremdsprachigen Kindern. «Man
erkannte bei ihm wohl den Förderbedarf. Aber wie gezielt sein eigentliches
Problem dabei angegangen wurde, weiss ich nicht», sagt seine Mutter, Sophie
Hirscher*. Besser wurde es jedenfalls nicht.
Ab der dritten Klasse sollte Corsin dann doch in die Logopädie, doch es
gab eine lange Warteliste. Erst im Jahr darauf wurde ein Platz frei. Danach
dauerte es nochmals zwei Jahre, bis endlich klar war, warum ihm die
Rechtschreibung so schwerfällt. «Uns wurde stets gesagt, man müsse zuerst
abwarten, wie er sich entwickelt», sagt Hirscher.
Sie stören zu wenig
Wie häufig Legastheniker lange unentdeckt bleiben, ist unbekannt. Zahlen
gibt es nicht. «Legastheniker stören den Unterricht in der Regel kaum. Sie
gehen unter, weil die Heilpädagogen sich zuerst um die Kinder mit
Verhaltensproblemen kümmern müssen», so Expertin Brunsting.
Beim Deutschschweizer Logopädinnen- und Logopädenverband will man die
Problematik in dieser Form nicht bestätigen. Auch nicht beim Berufsverband
Heil- und Sonderpädagogik. Man könne aber nicht ausschliessen, dass es in
einzelnen Fällen unglücklich laufe. Gerade in den ersten Schuljahren sei oft
nicht so leicht zu erkennen, ob ein Kind einfach etwas mehr Zeit benötige oder
ob wirklich eine Störung vorliege.
Der lange Weg zur Abklärung
Die meisten Kinder machen anfangs viele Fehler. Typische
Legastheniker-Fehler gibt es aber nicht. «Eine Abklärung verursacht einen
relativ grossen Aufwand. Es braucht Berichte, Kostengutsprachen und zudem das
Einverständnis der Eltern, die sich manchmal auch sträuben», sagt Katharina
Beglinger vom Heilpädagogenverband. «Es kann daher vorkommen, dass die
Dringlichkeit einer Abklärung spät erkannt wird.»
Genau das sei das Problem, sagt Fachfrau Monika Brunsting. Bevor
die integrativen
Schulungsformen eingeführt
wurden, habe es eine Abklärung zwingend gebraucht, um überhaupt Förderung zu
erhalten. «Da hat man von Anfang an genauer hingeschaut.»
Für die Entwicklung der betroffenen Kinder wäre es jedenfalls wichtig,
dass ihre Störung möglichst früh behandelt wird. Die Neurowissenschaftlerin
Silvia Brem formuliert es so: «Legasthenie ist teilweise genetisch bedingt und
wächst sich nicht einfach aus. Man kann aber mit der richtigen Unterstützung
verhindern, dass sie wirklich zum Problem wird.»
Brem forscht an der Universität Zürich und arbeitet unter anderem mit
Hirnscans. Diese zeigen: Bei Legasthenikern werden die für die komplexen
Vorgänge zuständigen Hirnareale weniger stark aktiviert als bei
Nichtlegasthenikern. Zugleich sind oft zusätzliche Hirnareale beteiligt, die
normalerweise beim Lesen nicht aktiv sind. Sie springen ein, obwohl sie gar
nicht zuständig wären, vermutet Brem. «Deshalb ist der Lernprozess für
Legastheniker auch so anstrengend.» Sie müssten sich alles mühsam erarbeiten
und einprägen. «Das automatische Lernen funktioniert bei ihnen weniger gut.»
Bis hin zur Depression
Wenn Legasthenie nicht erkannt wird, hat das weitreichende Folgen. Lesen
und Schreiben ist in vielen Schulfächern unabdingbar und wird mitbewertet. Für
Legastheniker bedeutet das nicht selten schlechte Noten auch in Gebieten, in
denen sie eigentlich Bescheid wissen. «Auf Dauer kann das Schulfrust, Depressionen oder
sogar Suizidgedanken auslösen», sagt Forscherin Silvia Brem. Die schlechten
Noten haben manchmal auch Lernzielanpassungen zur Folge – und im
Endeffekt schlechtere Chancenbei
der späteren Berufswahl.
Beim Dyslexieverband drängt man daher auf ein flächendeckendes
Früherkennungssystem. Bereits heute werden am Ende des Kindergartens mancherorts
Tests gemacht, um Risikofälle zu erkennen: Kinder mit besonders kleinem
Wortschatz oder schlechter Aussprache etwa. Auf diese richtet man dann in der
Schule ein besonderes Augenmerk. Der Verband fordert, solche Tests überall
obligatorisch einzuführen – in der föderalistischen Schweiz eine
Herkulesaufgabe.
Für Moritz ist es vorerst gut ausgegangen. Er schaut nun der Lehrerin
beim Händedruck in die Augen, geht aufrechter und meldet sich im Unterricht.
Die Übungen in der neuen Therapie sind so auf ihn zugeschnitten, dass er viele
Erfolgserlebnisse hat. Seinem angeknacksten Selbstbewusstsein hat das den nötigen neuen
Schub gegeben.
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