25. November 2018

Partnerwahl per Kommafehler


Wieder einmal wird um die korrekte Rechtschreibung gestritten, und es geht, wie immer bei diesem Thema, sehr emotional zu und her: Eltern kritisieren lasche Lehrer, die sich wiederum über Helikoptermütter nerven, die sich zu sehr einmischen würden; Pädagogen verweisen auf den «Lehrplan 21», an dem sie jahrelang tüftelten, während Politiker eine Möglichkeit wittern, sich ins Gespräch zu bringen, und von einem Orthographie-Anarchismus sprechen. Neuerdings fordern sie gar Verbote.
Worum geht’s?

"Oile" oder "Eule"? Der grosse Orthographiestreit an den Schulen, NZZaS, 25.11. von Sacha Batthyany (Bild: NZZaS)

Anders als noch vor Jahren, als man über Reformen in der deutschen Rechtschreibung stritt, weil man eine Vereinheitlichung anstrebte, steht nun die Orthographie an sich im Zentrum.

Mit anderen Worten: Die Kinder können heute nicht mehr korrekt schreiben, was Langzeitstudien über die Fehlerquote bei Schülern bestätigen. Und alles nur, weil man es ihnen angeblich falsch beibringt.

Im Fokus der Debatte, die aus Deutschland in die Schweiz schwappt, steht eine Lernmethode namens «Lernen nach Gehör», wonach die Schüler in den unteren Klassen nie oder selten korrigiert werden, wenn sie in ihren Aufsätzen Fogel schreiben statt Vogel. Oder Fata statt Vater.

Jeder, der Kinder im Primarschulalter hat, kennt diesen gewöhnungsbedürftigen Anblick, wenn in den Heften jedes dritte Wort falsch geschrieben steht.

Noch gewöhnungsbedürftiger aber ist die Anweisung, die Kinder nicht darauf hinzuweisen, dass man «oile» mit eu schreibt und erst noch gross, weil man sie nur verwirren würde. Und so bleibt der «Tigr» eben ein «Tigr», und der «glükwuns zum dein Gebrztg» klingt eher polnisch.

Dieses sogenannte lautgetreue Schreiben soll die Schüler animieren, mit der Sprache zu spielen. Sie sollen verschriftlichen, was ihnen durch den Kopf geht, sollen furchtlose Schreiber werden, ohne Angst vor Fehlern.

Statt die Rechtschreibung mit einer Fibel und mühsamen Regeln zu erlernen, wie früher, fing man in den achtziger Jahren an, die Kreativität zu fördern, die Orthographie komme dann automatisch, wie der Hunger mit dem Essen.

So hat sich das der Erfinder dieser Methode jedenfalls ausgemalt, der verstorbene Reformpädagoge Jürgen Reichen, ein Schweizer, der nun verantwortlich gemacht wird für die angebliche Misere.

«Kinder lernen umso mehr, je weniger sie belehrt werden», so lautet Reichens berühmtester Satz. Didaktische Massnahmen würden das Lernen bremsen, so lautete sein Credo.
Man muss Reichens Methode aus der Zeit heraus verstehen, aus der sie entstand. Er wollte den Frontalunterricht durch individuellere Formen ersetzen, wollte weg vom Drill der sechziger Jahre und den Kindern eine Stimme geben.

Bis zu seiner Pensionierung 2006 unterrichtete er in Hamburg, seine Ideen verbreiteten sich in ganz Deutschland und flossen in abgeschwächter Form auch in die Lehrmittel der Schweiz. Doch der Wind hat sich inzwischen gedreht.

Die Anhänger von Jürgen Reichen sind heute pensioniert. Bereits ist von einer verlorenen Generation von Schülern die Rede, die mit der lautgetreuen Methode gross wurde und nie gelernt habe, korrekt zu schreiben.

Schreiben: das neue Statussymbol
In Hamburg und Baden-Württemberg ist es neuerdings untersagt, nach Reichens Vorstellungen zu unterrichten. Nun will man seine Methode auch im Kanton Nidwalden aus den Klassenzimmern verbannen, so forderte es Bildungsdirektor Res Schmid (SVP) vor wenigen Wochen.

Politiker wie die Nationalrätin Verena Herzog (SVP) können nicht verstehen, warum man sich als Schüler Fehler angewöhnen müsse, die später «wieder ausgebügelt» werden.
Christine Bulliard-Marbach (CVP), Präsidentin der Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur (WBK) teilt die Kritik. Auf Dauer würde die Methode bei Kindern eine falsche Rechtschreibung einprägen. Nicht alles in der Sprache können man «raushören», Orthographie sei am Ende «eine Fleissarbeit».

Die Rechtschreibung hat noch immer einen hohen Stellenwert in unserer Gesellschaft, was eigentlich - und ganz nüchtern betrachtet - überrascht, denn dafür gibt es ja jetzt Autokorrektur-Programme, die uns vor den gröbsten Schnitzern bewahren. Noch immer aber gilt als unglaubwürdig, wer fehlerhaft schreibt; gilt als ungehobelter Barbar, wer ein Apostroph setzt, wo kein’s hingehört.

Es ist nicht die Shakespeare-Gesamtausgabe, die den Grad an klassischer Bildung widerspiegelt, denn die kann sich jeder auf Amazon bestellen, sondern die Anzahl Fehler und die Sattelfestigkeit in der Interpunktion.

Freunde erzählen, dass sie ihre Partner auf der Dating-Plattform Parship anhand der Orthographie in den Profil-Texten auswählen - die Kommaregeln werden so zum wahren Distinktionsmittel.

Andere berichten, sie würden den Wohnort wechseln, aus Sorge, die Tochter lerne bei zu vielen Ausländerkindern nicht, wie man Rhythmus schreibe, weil die meisten das Wort nicht einmal kennen.

Von Jura-Studenten hört man, sie hätten Angst davor, ihre Berichte in Handschrift abzugeben. Sie wüssten zwar alles über das europäische Steuerrecht, aber ob man europäisch nun gross oder klein schreibe, wüssten sie nicht.

Noch nie wurde so viel geschrieben, wie heute. Jeder Handwerker muss am Ende des Tages einen Rapport ausfüllen, jedes Kind auf Dutzende Whatsapp-Nachrichten antworten. Das Bewusstsein für Sprache im Allgemeinen, aber auch für korrekte Sprache hat zugenommen, weil wir viel mehr mit Schriftlichem konfrontiert sind und sich das Bildungsniveau im Durchschnitt verbessert hat.

Vielleicht wird deshalb so heftig über die Orthographie gestritten, weil sie uns alle betrifft, weil sie etwas über uns aussagt und wir vieles in sie hineinprojizieren. Und weil die Methode, wie wir sie erlernen, längst zur Ideologie verkommen ist.

Es ist kein Zufall, dass die 68er unter den Lehrern, und davon gab es bekanntlich viele, Reichens Methode in ihren Klassenzimmern implementierten. So wie es kein Zufall ist, dass es heute meist Politiker aus dem rechten Lager sind, wie eben Verena Herzog oder SVP-Nationalrat Peter Keller, die sie verteufeln.

Keller spricht von einer «Schlechtschreibemethode», die schändlich sei und «möglichst rasch» aus dem Verkehr gezogen werden müsse. Letztlich geht es um eine Frage, die Konservative von Linken immer unterscheidet, nämlich: Welchen Fokus will man in der Schule setzen? Will man die individuelle Kreativität fördern oder auf normative Regeln für alle setzen?

Claudia Schmellentin, Professorin an der Fachhochschule Nordwestschweiz, sagt, die Diskussion um Rechtschreibung «darf nicht für politische Zwecke missbraucht werden». Dass sich die Politik in Unterrichtsmethoden einmische, sei eher fragwürdig. «In der Medizin sagen Gesundheitsexperten auch nicht, wie man operiert.»

Ein Verbot von lautgetreuem Schreiben im Anfangsunterricht hält sie für «totalen Unsinn», weil Kinder auf dem Weg zum Erwerb der Schrift zunächst lernen müssten, Laute und Buchstaben überhaupt erst in Beziehung zu setzen - zudem sei Reichens Methode in der Schweiz in Reinkultur kaum je zur Anwendung gekommen.

Schmellentin verweist auf den Lehrplan 21, der einen «strukturierten Rechtschreibeunterricht» vorsieht, aufbauend auf der Laut-Buchstaben-Beziehung bis zu den wichtigsten Regeln der Orthographie, die sukzessive eingeführt werden bis in die neunte Klasse. Sie sagt aber auch: «Möglich ist durchaus, dass man heute mehr Rechtschreibfehler sieht.»



Verdopplung der Fehler
Es gibt keine Studie hierzulande, die aufzeigt, ob sich die Orthographiekenntnisse verändert haben. In Deutschland schon. Doch es heisst, die Resultate liessen sich in der Tendenz auf die Schweiz übertragen - und die sind eindeutig: Die Fehlerzahl nimmt zu. Und noch etwas fällt auf. Die Quote stieg in den letzten Jahren noch einmal an.

Wolfgang Steinig, emeritierter Professor an der Uni Siegen, hat Viertklässler aus dem Ruhrgebiet 1972, 2002 und 2012 im Anschluss an einen kurzen Film frei schreiben lassen und anhand dieser Texte die Rechtschreibung untersucht. Von rund 7 Fehlern pro 100 Wörter (1972) stieg die Quote auf rund 17 Fehler (2012). Da las er auch mal: «Dan haben sie dad Kind in ruhe gelasen und das Madchen war Froh und. Ende!!!»

Der Anstieg von 2002 auf 2012 sei «deutlicher» ausgefallen, so Steinig, als er es erwartet habe. Das Berliner Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) konnte 2016 den Abwärtstrend in der Orthographie bestätigen.

Wobei sich die Resultate in den einzelnen Bundesländern stark unterscheiden, was auf den Kern aller Studien hinweist: Es kommt auf die Lehrer an, aber auch auf die Eltern und nicht zuletzt auf den sozialen Hintergrund der Schüler.

Und dennoch: Reichens lautgetreues Schreiben erhält, was die Rechtschreibung angeht, «ein schlechtes Zeugnis». Zu diesem Ergebnis kommt ein noch unveröffentlichter Forschungsbericht der Psychologin Una Röhr-Sendlmeier, die drei Unterrichtsmethoden vergleicht und feststellt: Wer lernen will, korrekt zu schreiben, der kommt an den klassischen Schulbüchern nicht vorbei.

Es sind vor allem die sozial benachteiligten Kinder, die unter allzu freien und kreativen Methoden leiden. Leistungsstarke Schüler profitieren vom offenen Unterricht, und wer Eltern hat, die nach der Schule mit den Kindern Hausaufgaben büffeln - oder einen Nachhilfelehrer bezahlen -, für die ist ohnehin gesorgt. Kinder aus bildungsfernen Familien hingegen, Schweizer wie Ausländer, haben das Nachsehen.

In einer Schule, die vor allem auf Eigenverantwortung und selbständiges Lernen setzt, so Professor Steinig, «gehen die schwachen Schüler verloren, wenn sie keine zusätzliche Förderung bekommen».

Die Schere zwischen bildungsfernen Familien, in denen die Eltern keine Ahnung haben, was die Kinder in der Schule so treiben, und den Helikoptereltern, die ihre Töchter und Söhne zu Bestleistungen trimmen, geht immer mehr auf.

Das Diktat schadet nur
Dann eben doch zurück zum Drill der siebziger Jahre? Soll man freie Methoden wie die von Jürgen Reichen verbieten?

Auf keinen Fall, sagen die allermeisten Experten. Das Diktat beispielsweise, früher ein treuer wie gefürchteter Begleiter im Unterricht, gilt heute als eher schädlich, da es vor allem Stress erzeugt und keiner normalen Schreibsituation entspricht (siehe NZZaS-Diktat am Ende dieses Textes).

Auch die Lektüre von Büchern, ein weiterer Mythos, trägt wenig zur Verbesserung der Rechtschreibung bei, weil man sich kaum an die Buchstaben erinnert, nur an den Sinn der Wörter; ähnlich wie man zwar die Uhrzeit registriert, aber die Farben der Zeiger nicht wahrnimmt - da kann man gleich sein Buch unters Kopfkissen legen.

Es gibt, abgesehen von der lautgetreuen Methode, weitere Ursachen für die Fehlerzunahme, manche sind plausibler, andere weniger. Studien zeigen, dass sich das Duzen der Lehrer in Schulen negativ auf die Rechtschreibung auswirke, da die Schüler beim Siezen Normen erlernen, sich gewählter und bewusster ausdrücken und weniger Fehler begehen.

Die digitalen Medien könnten sich ebenso negativ auswirken auf die Orthographie. Man schreibt zwar mehr denn je und bedient von E-Mail über Whatsapp verschiedene Kanäle, aber die Sprache ist unverbindlicher, die Texte sind als flüchtige Botschaften gemeint. Wer achtet schon auf die Gross- und Kleinschreibung bei Instagram?

Dazu kommt die Autokorrektur, auf die wir uns verlassen, wenn wir spatzieren schreiben oder Lybien - aber sie nimmt uns auch unser Denken und spielt uns manchmal böse Streiche, wenn sie aus dem harmlosen Satz: «Grüsse an den kleinen Maxi» einen weniger harmlosen macht: «Grüsse an den kleinen Nazi».

Nicht zuletzt könnte auch die Rechtschreibreform zu mehr Fehlern geführt haben, vermutet man. Der quälend lange Prozess von 1996 bis 2011, in dem manche Schreibweisen verändert wurden, hat zu einer Verunsicherung geführt. Nicht nur in der Bevölkerung. Auch bei den Lehrern. Mit der Folge, dass der Rechtschreibunterricht in den Schulen weniger konsequent betrieben wird als früher.

Der Fokus auf die reine Orthographie-Leistung der Kinder und der Alarmismus einzelner Politiker, die in Stammtischmanier behaupten, die Schüler könnten keinen geraden Satz mehr schreiben, verdeckt die Tatsache, dass sich der Wortschatz in den vergangenen Jahren verbessert hat, so heisst es etwa in Wolfgang Steinigs Studie der Viertklässler.
Mag also sein, dass sie mehr Fehler machen, doch die Sprache heutiger Schüler ist vielfältiger, die Texte insgesamt kreativer. Von einem Sprachzerfall, wie ihn die Kulturpessimisten an die Wand malen, bis ihnen die Farbe ausgeht, kann keine Rede sein.

Schüler haben Spass am Formulieren
Darauf machen nicht nur Experten wie Claudia Schmellentin aufmerksam, sondern auch Praktiker wie Raphael Kost. Er ist Deutschlehrer am Mathematisch-naturwissenschaftlichen Gymnasium Rämibühl in Zürich.

Von einem Rechtschreibe-Anarchismus bemerkt er wenig, er beobachtet aber eine zunehmende Heterogenität in den Klassen: Schüler, die sehr interessiert seien am Schreiben, und andere, die kaum etwas damit anfangen können.

«Die meisten Schüler haben wenig Hemmungen, sich auszudrücken. Viele haben auch Spass an Formulierungen.» Klar komme es zu Fehlern, vor allem in der Interpunktion, sagt Kost, aber das habe mit der Komplexität der Schreibsituation zu tun, denn die wichtigsten Kommaregeln, die würden sie eigentlich kennen, und sie könnten sie in isolierten Übungen auch richtig anwenden.

«Sie haben gleichzeitig zu viele Dinge im Kopf. Haben manchmal Mühe, sich auf einen Arbeitsschritt zu fokussieren.» Dafür würden viele Schüler mit Formen experimentieren und ihr kreatives Potenzial ausschöpfen.

Kommt es bei dem ganzen Wust an Geschriebenem heutzutage nicht genau darauf an? Da sollten doch ein paar, Kommafehler einem geistreichen Text nicht, im Weg stehen.


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