Wieder einmal wird um die korrekte Rechtschreibung gestritten, und es
geht, wie immer bei diesem Thema, sehr emotional zu und her: Eltern kritisieren
lasche Lehrer, die sich wiederum über Helikoptermütter nerven, die sich zu sehr
einmischen würden; Pädagogen verweisen auf den «Lehrplan 21», an dem sie jahrelang
tüftelten, während Politiker eine Möglichkeit wittern, sich ins Gespräch zu
bringen, und von einem Orthographie-Anarchismus sprechen. Neuerdings fordern
sie gar Verbote.
"Oile" oder "Eule"? Der grosse Orthographiestreit an den Schulen, NZZaS, 25.11. von Sacha Batthyany (Bild: NZZaS)
Anders als noch vor Jahren, als man über Reformen in der deutschen Rechtschreibung
stritt, weil man eine Vereinheitlichung anstrebte, steht nun die Orthographie
an sich im Zentrum.
Mit anderen Worten: Die Kinder können heute nicht mehr korrekt
schreiben, was Langzeitstudien über die Fehlerquote bei Schülern bestätigen. Und
alles nur, weil man es ihnen angeblich falsch beibringt.
Im Fokus der Debatte, die aus Deutschland in die Schweiz schwappt, steht
eine Lernmethode namens «Lernen nach Gehör», wonach die Schüler in den unteren
Klassen nie oder selten korrigiert werden, wenn sie in ihren Aufsätzen Fogel
schreiben statt Vogel. Oder Fata statt Vater.
Jeder, der Kinder im Primarschulalter hat, kennt diesen
gewöhnungsbedürftigen Anblick, wenn in den Heften jedes dritte Wort falsch
geschrieben steht.
Noch gewöhnungsbedürftiger aber ist die Anweisung, die Kinder nicht
darauf hinzuweisen, dass man «oile» mit eu schreibt und erst noch gross, weil
man sie nur verwirren würde. Und so bleibt der «Tigr» eben ein «Tigr», und der
«glükwuns zum dein Gebrztg» klingt eher polnisch.
Dieses sogenannte lautgetreue Schreiben soll die Schüler animieren, mit
der Sprache zu spielen. Sie sollen verschriftlichen, was ihnen durch den Kopf
geht, sollen furchtlose Schreiber werden, ohne Angst vor Fehlern.
Statt die Rechtschreibung mit einer Fibel und mühsamen Regeln zu
erlernen, wie früher, fing man in den achtziger Jahren an, die Kreativität zu
fördern, die Orthographie komme dann automatisch, wie der Hunger mit dem Essen.
So hat sich das der Erfinder dieser Methode jedenfalls ausgemalt, der
verstorbene Reformpädagoge Jürgen Reichen, ein Schweizer, der nun
verantwortlich gemacht wird für die angebliche Misere.
«Kinder lernen umso mehr, je weniger sie belehrt werden», so lautet
Reichens berühmtester Satz. Didaktische Massnahmen würden das Lernen bremsen,
so lautete sein Credo.
Man muss Reichens Methode aus der Zeit heraus verstehen, aus der sie
entstand. Er wollte den Frontalunterricht durch individuellere Formen ersetzen,
wollte weg vom Drill der sechziger Jahre und den Kindern eine Stimme geben.
Bis zu seiner Pensionierung 2006 unterrichtete er in Hamburg, seine
Ideen verbreiteten sich in ganz Deutschland und flossen in abgeschwächter Form
auch in die Lehrmittel der Schweiz. Doch der Wind hat sich inzwischen gedreht.
Die Anhänger von Jürgen Reichen sind heute pensioniert. Bereits ist von
einer verlorenen Generation von Schülern die Rede, die mit der lautgetreuen
Methode gross wurde und nie gelernt habe, korrekt zu schreiben.
Schreiben: das neue Statussymbol
In Hamburg und Baden-Württemberg ist es neuerdings untersagt, nach
Reichens Vorstellungen zu unterrichten. Nun will man seine Methode auch im
Kanton Nidwalden aus den Klassenzimmern verbannen, so forderte es
Bildungsdirektor Res Schmid (SVP) vor wenigen Wochen.
Politiker wie die Nationalrätin Verena Herzog (SVP) können nicht
verstehen, warum man sich als Schüler Fehler angewöhnen müsse, die später
«wieder ausgebügelt» werden.
Christine Bulliard-Marbach (CVP), Präsidentin der Kommission für
Wissenschaft, Bildung und Kultur (WBK) teilt die Kritik. Auf Dauer würde die
Methode bei Kindern eine falsche Rechtschreibung einprägen. Nicht alles in der
Sprache können man «raushören», Orthographie sei am Ende «eine Fleissarbeit».
Die Rechtschreibung hat noch immer einen hohen Stellenwert in unserer
Gesellschaft, was eigentlich - und ganz nüchtern betrachtet - überrascht, denn
dafür gibt es ja jetzt Autokorrektur-Programme, die uns vor den gröbsten
Schnitzern bewahren. Noch immer aber gilt als unglaubwürdig, wer fehlerhaft
schreibt; gilt als ungehobelter Barbar, wer ein Apostroph setzt, wo kein’s
hingehört.
Es ist nicht die Shakespeare-Gesamtausgabe, die den Grad an klassischer
Bildung widerspiegelt, denn die kann sich jeder auf Amazon bestellen, sondern
die Anzahl Fehler und die Sattelfestigkeit in der Interpunktion.
Freunde erzählen, dass sie ihre Partner auf der Dating-Plattform Parship
anhand der Orthographie in den Profil-Texten auswählen - die Kommaregeln werden
so zum wahren Distinktionsmittel.
Andere berichten, sie würden den Wohnort wechseln, aus Sorge, die
Tochter lerne bei zu vielen Ausländerkindern nicht, wie man Rhythmus schreibe,
weil die meisten das Wort nicht einmal kennen.
Von Jura-Studenten hört man, sie hätten Angst davor, ihre Berichte in
Handschrift abzugeben. Sie wüssten zwar alles über das europäische Steuerrecht,
aber ob man europäisch nun gross oder klein schreibe, wüssten sie nicht.
Noch nie wurde so viel geschrieben, wie heute. Jeder Handwerker muss am
Ende des Tages einen Rapport ausfüllen, jedes Kind auf Dutzende
Whatsapp-Nachrichten antworten. Das Bewusstsein für Sprache im Allgemeinen,
aber auch für korrekte Sprache hat zugenommen, weil wir viel mehr mit
Schriftlichem konfrontiert sind und sich das Bildungsniveau im Durchschnitt
verbessert hat.
Vielleicht wird deshalb so heftig über die Orthographie gestritten, weil
sie uns alle betrifft, weil sie etwas über uns aussagt und wir vieles in sie
hineinprojizieren. Und weil die Methode, wie wir sie erlernen, längst zur
Ideologie verkommen ist.
Es ist kein Zufall, dass die 68er unter den Lehrern, und davon gab es
bekanntlich viele, Reichens Methode in ihren Klassenzimmern implementierten. So
wie es kein Zufall ist, dass es heute meist Politiker aus dem rechten Lager
sind, wie eben Verena Herzog oder SVP-Nationalrat Peter Keller, die sie
verteufeln.
Keller spricht von einer «Schlechtschreibemethode», die schändlich sei
und «möglichst rasch» aus dem Verkehr gezogen werden müsse. Letztlich geht es
um eine Frage, die Konservative von Linken immer unterscheidet, nämlich:
Welchen Fokus will man in der Schule setzen? Will man die individuelle
Kreativität fördern oder auf normative Regeln für alle setzen?
Claudia Schmellentin, Professorin an der Fachhochschule Nordwestschweiz,
sagt, die Diskussion um Rechtschreibung «darf nicht für politische Zwecke
missbraucht werden». Dass sich die Politik in Unterrichtsmethoden einmische,
sei eher fragwürdig. «In der Medizin sagen Gesundheitsexperten auch nicht, wie
man operiert.»
Ein Verbot von lautgetreuem Schreiben im Anfangsunterricht hält sie für
«totalen Unsinn», weil Kinder auf dem Weg zum Erwerb der Schrift zunächst
lernen müssten, Laute und Buchstaben überhaupt erst in Beziehung zu setzen -
zudem sei Reichens Methode in der Schweiz in Reinkultur kaum je zur Anwendung
gekommen.
Schmellentin verweist auf den Lehrplan 21, der einen «strukturierten
Rechtschreibeunterricht» vorsieht, aufbauend auf der Laut-Buchstaben-Beziehung
bis zu den wichtigsten Regeln der Orthographie, die sukzessive eingeführt
werden bis in die neunte Klasse. Sie sagt aber auch: «Möglich ist durchaus,
dass man heute mehr Rechtschreibfehler sieht.»
Verdopplung der Fehler
Es gibt keine Studie hierzulande, die aufzeigt, ob sich die
Orthographiekenntnisse verändert haben. In Deutschland schon. Doch es heisst,
die Resultate liessen sich in der Tendenz auf die Schweiz übertragen - und die
sind eindeutig: Die Fehlerzahl nimmt zu. Und noch etwas fällt auf. Die Quote
stieg in den letzten Jahren noch einmal an.
Wolfgang Steinig, emeritierter Professor an der Uni Siegen, hat Viertklässler
aus dem Ruhrgebiet 1972, 2002 und 2012 im Anschluss an einen kurzen Film frei
schreiben lassen und anhand dieser Texte die Rechtschreibung untersucht. Von
rund 7 Fehlern pro 100 Wörter (1972) stieg die Quote auf rund 17 Fehler (2012).
Da las er auch mal: «Dan haben sie dad Kind in ruhe gelasen und das Madchen war
Froh und. Ende!!!»
Der Anstieg von 2002 auf 2012 sei «deutlicher» ausgefallen, so Steinig,
als er es erwartet habe. Das Berliner Institut zur Qualitätsentwicklung im
Bildungswesen (IQB) konnte 2016 den Abwärtstrend in der Orthographie
bestätigen.
Wobei sich die Resultate in den einzelnen Bundesländern stark
unterscheiden, was auf den Kern aller Studien hinweist: Es kommt auf die Lehrer
an, aber auch auf die Eltern und nicht zuletzt auf den sozialen Hintergrund der
Schüler.
Und dennoch: Reichens lautgetreues Schreiben erhält, was die
Rechtschreibung angeht, «ein schlechtes Zeugnis». Zu diesem Ergebnis kommt ein
noch unveröffentlichter Forschungsbericht der Psychologin Una Röhr-Sendlmeier,
die drei Unterrichtsmethoden vergleicht und feststellt: Wer lernen will,
korrekt zu schreiben, der kommt an den klassischen Schulbüchern nicht vorbei.
Es sind vor allem die sozial benachteiligten Kinder, die unter allzu
freien und kreativen Methoden leiden. Leistungsstarke Schüler profitieren vom
offenen Unterricht, und wer Eltern hat, die nach der Schule mit den Kindern
Hausaufgaben büffeln - oder einen Nachhilfelehrer bezahlen -, für die ist
ohnehin gesorgt. Kinder aus bildungsfernen Familien hingegen, Schweizer wie
Ausländer, haben das Nachsehen.
In einer Schule, die vor allem auf Eigenverantwortung und selbständiges
Lernen setzt, so Professor Steinig, «gehen die schwachen Schüler verloren, wenn
sie keine zusätzliche Förderung bekommen».
Die Schere zwischen bildungsfernen Familien, in denen die Eltern keine
Ahnung haben, was die Kinder in der Schule so treiben, und den
Helikoptereltern, die ihre Töchter und Söhne zu Bestleistungen trimmen, geht
immer mehr auf.
Das Diktat schadet nur
Dann eben doch zurück zum Drill der siebziger Jahre? Soll man freie
Methoden wie die von Jürgen Reichen verbieten?
Auf keinen Fall, sagen die allermeisten Experten. Das Diktat
beispielsweise, früher ein treuer wie gefürchteter Begleiter im Unterricht,
gilt heute als eher schädlich, da es vor allem Stress erzeugt und keiner
normalen Schreibsituation entspricht (siehe NZZaS-Diktat am Ende dieses
Textes).
Auch die Lektüre von Büchern, ein weiterer Mythos, trägt wenig zur
Verbesserung der Rechtschreibung bei, weil man sich kaum an die Buchstaben
erinnert, nur an den Sinn der Wörter; ähnlich wie man zwar die Uhrzeit
registriert, aber die Farben der Zeiger nicht wahrnimmt - da kann man gleich
sein Buch unters Kopfkissen legen.
Es gibt, abgesehen von der lautgetreuen Methode, weitere Ursachen für
die Fehlerzunahme, manche sind plausibler, andere weniger. Studien zeigen, dass
sich das Duzen der Lehrer in Schulen negativ auf die Rechtschreibung auswirke,
da die Schüler beim Siezen Normen erlernen, sich gewählter und bewusster
ausdrücken und weniger Fehler begehen.
Die digitalen Medien könnten sich ebenso negativ auswirken auf die
Orthographie. Man schreibt zwar mehr denn je und bedient von E-Mail über
Whatsapp verschiedene Kanäle, aber die Sprache ist unverbindlicher, die Texte
sind als flüchtige Botschaften gemeint. Wer achtet schon auf die Gross- und
Kleinschreibung bei Instagram?
Dazu kommt die Autokorrektur, auf die wir uns verlassen, wenn wir
spatzieren schreiben oder Lybien - aber sie nimmt uns auch unser Denken und
spielt uns manchmal böse Streiche, wenn sie aus dem harmlosen Satz: «Grüsse an
den kleinen Maxi» einen weniger harmlosen macht: «Grüsse an den kleinen Nazi».
Nicht zuletzt könnte auch die Rechtschreibreform zu mehr Fehlern geführt
haben, vermutet man. Der quälend lange Prozess von 1996 bis 2011, in dem manche
Schreibweisen verändert wurden, hat zu einer Verunsicherung geführt. Nicht nur
in der Bevölkerung. Auch bei den Lehrern. Mit der Folge, dass der
Rechtschreibunterricht in den Schulen weniger konsequent betrieben wird als
früher.
Der Fokus auf die reine Orthographie-Leistung der Kinder und der
Alarmismus einzelner Politiker, die in Stammtischmanier behaupten, die Schüler
könnten keinen geraden Satz mehr schreiben, verdeckt die Tatsache, dass sich
der Wortschatz in den vergangenen Jahren verbessert hat, so heisst es etwa in
Wolfgang Steinigs Studie der Viertklässler.
Mag also sein, dass sie mehr Fehler machen, doch die Sprache heutiger
Schüler ist vielfältiger, die Texte insgesamt kreativer. Von einem
Sprachzerfall, wie ihn die Kulturpessimisten an die Wand malen, bis ihnen die
Farbe ausgeht, kann keine Rede sein.
Schüler haben Spass am Formulieren
Darauf machen nicht nur Experten wie Claudia Schmellentin aufmerksam,
sondern auch Praktiker wie Raphael Kost. Er ist Deutschlehrer am
Mathematisch-naturwissenschaftlichen Gymnasium Rämibühl in Zürich.
Von einem Rechtschreibe-Anarchismus bemerkt er wenig, er beobachtet aber
eine zunehmende Heterogenität in den Klassen: Schüler, die sehr interessiert
seien am Schreiben, und andere, die kaum etwas damit anfangen können.
«Die meisten Schüler haben wenig Hemmungen, sich auszudrücken. Viele
haben auch Spass an Formulierungen.» Klar komme es zu Fehlern, vor allem in der
Interpunktion, sagt Kost, aber das habe mit der Komplexität der
Schreibsituation zu tun, denn die wichtigsten Kommaregeln, die würden sie
eigentlich kennen, und sie könnten sie in isolierten Übungen auch richtig
anwenden.
«Sie haben gleichzeitig zu viele Dinge im Kopf. Haben manchmal Mühe,
sich auf einen Arbeitsschritt zu fokussieren.» Dafür würden viele Schüler mit
Formen experimentieren und ihr kreatives Potenzial ausschöpfen.
Kommt es bei dem ganzen Wust an Geschriebenem heutzutage nicht genau
darauf an? Da sollten doch ein paar, Kommafehler einem geistreichen Text nicht,
im Weg stehen.
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