Damian Miller ist Dozent an der
Pädagogischen Hochschule Thurgau. Er setzt sich kritisch mit Jürg Jegges
Bestseller «Dummheit ist lernbar» auseinander und sagt: «Dieses Werk hat viel
Schaden angerichtet.» Jürg Jegge beschreibt in seinem Buch «Dummheit ist lernbar» (erschienen 1976) wie er Kinder, die als Schulversager abgestempelt waren, zu überraschenden Lernerfolgen bringt. Später stellt sich heraus, dass er Buben sexuell missbraucht hat. Der PH-Thurgau-Dozent Damian Miller hat mit dem emeritierten Professor Jürgen Oelkers ein Buch herausgegeben, das sich mit Jegges Bestseller kritisch auseinandersetzt.
Jegge, der Erretter «dummer Kinder», Thurgauer Zeitung, 14.11. von Ida Sandl
Damian
Miller, hat Jegges Buch Schaden angerichtet?
Ja – die
missbrauchten Opfer wagten noch weniger, ihr Leid zu beklagen, nachdem
‘Dummheit ist lernbar’ erschienen war. Ihre Namen stehen im Buch – das ist ein
mittelalterlicher Pranger, ein Schandpfahl mitten in den 1970er Jahren. Name,
Vorname, Schule: Auch, wenn es damals noch kein Internet gab, genügte es, um
die Familien eindeutig identifizieren zu können.
Warum
soll man die Eltern dieser Kinder nicht erkennen?
In Jegges
Buch geht es um ‘Verkrüppelungen’ von Kindern durch Schule und Elternhaus. Die
Beispiele gehen ans Herz. Im Nachhinein hat sich jedoch gezeigt, dass Jegge die
Fälle erheblich umgeschrieben hat. Sie mussten in sein Konzept passen. Der
ehemalige Schüler Markus Zangger, der den Missbrauch öffentlich gemacht hat,
sagt, er habe seine eigene Geschichte im Buch kaum wiedererkannt.
Die
Eltern kamen dabei also schlecht weg?
Sehr
schlecht. Jegge äussert sich sehr abschätzig über sie. Er spricht von
Unterschichts-Menschen. Das stimmt nicht einmal, viele Schüler stammten aus
Mittelschichts-Familien.
Wieso
haben sich die Eltern nicht gewehrt?
‘Dummheit
ist lernbar’ war sofort ein Bestseller. Jegge war auf einen Schlag der neue
Pestalozzi. Wer, der Kinder ‘verkrüppelt’, wagt es schon gegen so jemanden
vorzugehen? Prominenz schützt vor Anklage. Ein Muster, das Jürgen Oelkers und
ich auch bei der Odenwald-Schule festgestellt haben.
Mit
Jürgen Oelkers haben sie den sexuellen Missbrauch in der deutschen
Odenwaldschule unter die Lupe genommen. War das der Grund, warum Sie sich jetzt
mit Jegge befasst haben?
Oelkers
und ich treffen uns etwa zweimal im Monat zum Austausch. Für uns war klar, dass
wir, nachdem wir etwas zu einer deutschen Schule geschrieben haben, nicht die
Augen vor einem Schweizer Skandal verschliessen können. Über die Missbräuche
wollten wir nicht schreiben. Wir wollten uns mit etwas auseinandersetzen, das
schwarz auf weiss vor uns liegt und viele Leute fasziniert: Jegges Buch.
Spielt
Jegges Buch in der Lehrerbildung eine Rolle?
Wissenschaftlich
hat ‘Dummheit ist lernbar’ nie eine grosse Rolle gespielt, denn dazu ist es
viel zu ungenau und bringt auch keine neuen Erkenntnisse. Das sagt Jegge
übrigens auch gleich selber in der Einleitung. Er nimmt die Kritik also schon
vorweg, das ist schlau von ihm gewesen. In den damaligen Lehrerinnen- und
Lehrerseminaren fand das Buch grosse Beachtung.
Warum
wurde es ein Bestseller?
Jegge
wurde von Anfang an von den Medien sehr stark gehypt. Die Fälle, die er
schildert, bewegen die Emotionen. Wenn man allerdings weiss, dass vieles bei
den Schilderungen nicht stimmt, dann bleibt vom Buch nicht mehr viel übrig.
Sie haben
sich mit Jegges Sprache beschäftigt. Was ist Ihnen aufgefallen?
Das Buch
weist Stilmerkmale von Volksmärchen auf. Die Schüler sind die Opfer, Eltern und
Schulbehörde sind die Bösen. Vor allem aber gibt es den Retter, Jegge, der
regelrechte Wunder vollbringt. So holt zum Beispiel ein ‘lernbehinderter’ Bub
in einem halben Jahr den Mathematikstoff der vierten Klasse nach.
Was
heisst das?
Es
bedeutet, dass es sehr schwer ist, Buch oder Autor zu kritisieren, sie sind
hoch moralisch. Märchen kann man nicht widerlegen. Jegge stilisiert sich in dem
Buch zu einer Art Antiheld. Er ist zwar nicht der Märchenprinz, aber der
Erretter dieser Kinder, der gegen die Gesellschaft kämpft.
Hat
Jegges Buch nicht auch etwas Gutes bewirkt?
Es ist
erstaunlich, wie oft man uns das gefragt hat. Wenn jemand Straftaten begangen
hat, ob verjährt oder nicht, hab ich noch nie gehört oder gelesen, dass man
sofort fragt, ob der Täter auch Gutes bewirkt habe. Bei hoch gejubelten Figuren
scheint das dagegen eine Frage zu sein. Als ob Ruhm gegen sexualisierte Gewalt
aufgewogen werden könne. Das ist eine erneute Demütigung der Opfer.
Was kann
man aus dem Fall Jegge lernen?
Etwas,
was man immer machen sollte. Die Geschichte hinter einem Vorgang genau
studieren. Genau hinschauen. Zwischendurch hinterfragen, ob man selbst jemandem
oder etwas aufsitzt.
Hätte das
etwas genützt?
Es gab Anzeichen für den Missbrauch. Die Schulbehörde hat Jegge
Auflagen gemacht. Deshalb werden sie in Jegges Buch auch als die Bösen
stigmatisiert. Man sollte skeptisch werden, wenn bei einem Machtgefälle wie
zwischen Lehrer und Schüler zu viel Nähe erzeugt wird. Wenn also Arbeit und
Privates nicht getrennt werden. Und ganz wichtig: Man sollte ein Kind ernst
nehmen. Im Schnitt muss ein Kind einen Missbrauch achtmal einem Erwachsenen
mitteilen, bevor ihm geglaubt wird.
Hinweis
Damian Miller, Jürgen Oelkers, «Ist Dummheit
lernbar?» Re-Lektüre eines pädagogischen Bestsellers. Zytglogge Verlag, ISBN
978-3-7296-5001-5
Damian Miller
Professor
Damian Miller ist Dozent für Erziehungswissenschaft an der Pädagogischen
Hochschule Thurgau in Kreuzlingen. Er leitet den Fachbereich Bildungs- und
Sozialwissenschaften. Miller war ursprünglich Primarlehrer und studierte
Psychologie, Pädagogik und Zivilrecht an der Uni Zürich, Fachgebiete
Bildungsgeschichte und -politik. Mit dem emeritierten Professor Jürgen Oelkers
hat Miller ein Buch über die Reformpädagogik nach dem Missbrauch an der
deutschen Odenwaldschule geschrieben. Im neuen Buch befassen sich Miller und
Oelkers mit der Frage, was die Faszination des Bestsellers von Jürg Jegge
ausmacht. Vor dem Hintergrund, dass Jegge Schüler sexuell missbraucht hat.
Miller lebt mit seiner Familie in Weingarten-Kalthäusern, Oelkers lebt in
Uesslingen. (san)
Buch-Vernissage in
Kreuzlingen
Am
Donnerstag, 15. November, 18 Uhr, stellen Damian Miller und Jürgen Oelkers ihr
Buch «Ist Dummheit lernbar?» an der Pädagogischen Hochschule Thurgau in
Kreuzlingen vor. Das Buch trägt den Untertitel «Re-Lektüre eines pädagogischen
Bestsellers». Expertinnen und Experten unter anderem aus den Fächern Pädagogik,
Psychologie und Rechtswissenschaft unterziehen Jürg Jegges «Dummheit ist
lernbar», das lange Zeit als Standardwerk der Reformpädagogik galt, einer
erneuten Analyse. Laudatorinnen und Laudator sind: Monika Egli-Alge,
Forensisches Institut Ostschweiz, Professor Silja Rüedi, Prorektorin Ausbildung
an der pädagogischen Hochschule Zürich und Markus Zangger, Autor von «Jürg
Jegges dunkle Seite – Die Übergriffe des Musterpädagogen». Zangger war einst
Schüler von Jegge. 2017 machte er öffentlich, dass Jegge Buben sexuell
missbraucht hat. (san)
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