14. November 2018

Jegges Buch richtete Schaden an

Damian Miller ist Dozent an der Pädagogischen Hochschule Thurgau. Er setzt sich kritisch mit Jürg Jegges Bestseller «Dummheit ist lernbar» auseinander und sagt: «Dieses Werk hat viel Schaden angerichtet.» Jürg Jegge beschreibt in seinem Buch «Dummheit ist lernbar» (erschienen 1976) wie er Kinder, die als Schulversager abgestempelt waren, zu überraschenden Lernerfolgen bringt. Später stellt sich heraus, dass er Buben sexuell missbraucht hat. Der PH-Thurgau-Dozent Damian Miller hat mit dem emeritierten Professor Jürgen Oelkers ein Buch herausgegeben, das sich mit Jegges Bestseller kritisch auseinandersetzt.
Jegge, der Erretter «dummer Kinder», Thurgauer Zeitung, 14.11. von Ida Sandl


Damian Miller, hat Jegges Buch Schaden angerichtet?
Ja – die missbrauchten Opfer wagten noch weniger, ihr Leid zu beklagen, nachdem ‘Dummheit ist lernbar’ erschienen war. Ihre Namen stehen im Buch – das ist ein mittelalterlicher Pranger, ein Schandpfahl mitten in den 1970er Jahren. Name, Vorname, Schule: Auch, wenn es damals noch kein Internet gab, genügte es, um die Familien eindeutig identifizieren zu können.

Warum soll man die Eltern dieser Kinder nicht erkennen?
In Jegges Buch geht es um ‘Verkrüppelungen’ von Kindern durch Schule und Elternhaus. Die Beispiele gehen ans Herz. Im Nachhinein hat sich jedoch gezeigt, dass Jegge die Fälle erheblich umgeschrieben hat. Sie mussten in sein Konzept passen. Der ehemalige Schüler Markus Zangger, der den Missbrauch öffentlich gemacht hat, sagt, er habe seine eigene Geschichte im Buch kaum wiedererkannt.

Die Eltern kamen dabei also schlecht weg?
Sehr schlecht. Jegge äussert sich sehr abschätzig über sie. Er spricht von Unterschichts-Menschen. Das stimmt nicht einmal, viele Schüler stammten aus Mittelschichts-Familien.

Wieso haben sich die Eltern nicht gewehrt?
‘Dummheit ist lernbar’ war sofort ein Bestseller. Jegge war auf einen Schlag der neue Pestalozzi. Wer, der Kinder ‘verkrüppelt’, wagt es schon gegen so jemanden vorzugehen? Prominenz schützt vor Anklage. Ein Muster, das Jürgen Oelkers und ich auch bei der Odenwald-Schule festgestellt haben.

Mit Jürgen Oelkers haben sie den sexuellen Missbrauch in der deutschen Odenwaldschule unter die Lupe genommen. War das der Grund, warum Sie sich jetzt mit Jegge befasst haben?
Oelkers und ich treffen uns etwa zweimal im Monat zum Austausch. Für uns war klar, dass wir, nachdem wir etwas zu einer deutschen Schule geschrieben haben, nicht die Augen vor einem Schweizer Skandal verschliessen können. Über die Missbräuche wollten wir nicht schreiben. Wir wollten uns mit etwas auseinandersetzen, das schwarz auf weiss vor uns liegt und viele Leute fasziniert: Jegges Buch.

Spielt Jegges Buch in der Lehrerbildung eine Rolle?
Wissenschaftlich hat ‘Dummheit ist lernbar’ nie eine grosse Rolle gespielt, denn dazu ist es viel zu ungenau und bringt auch keine neuen Erkenntnisse. Das sagt Jegge übrigens auch gleich selber in der Einleitung. Er nimmt die Kritik also schon vorweg, das ist schlau von ihm gewesen. In den damaligen Lehrerinnen- und Lehrerseminaren fand das Buch grosse Beachtung.

Warum wurde es ein Bestseller?
Jegge wurde von Anfang an von den Medien sehr stark gehypt. Die Fälle, die er schildert, bewegen die Emotionen. Wenn man allerdings weiss, dass vieles bei den Schilderungen nicht stimmt, dann bleibt vom Buch nicht mehr viel übrig.

Sie haben sich mit Jegges Sprache beschäftigt. Was ist Ihnen aufgefallen?
Das Buch weist Stilmerkmale von Volksmärchen auf. Die Schüler sind die Opfer, Eltern und Schulbehörde sind die Bösen. Vor allem aber gibt es den Retter, Jegge, der regelrechte Wunder vollbringt. So holt zum Beispiel ein ‘lernbehinderter’ Bub in einem halben Jahr den Mathematikstoff der vierten Klasse nach.

Was heisst das?
Es bedeutet, dass es sehr schwer ist, Buch oder Autor zu kritisieren, sie sind hoch moralisch. Märchen kann man nicht widerlegen. Jegge stilisiert sich in dem Buch zu einer Art Antiheld. Er ist zwar nicht der Märchenprinz, aber der Erretter dieser Kinder, der gegen die Gesellschaft kämpft.

Hat Jegges Buch nicht auch etwas Gutes bewirkt?
Es ist erstaunlich, wie oft man uns das gefragt hat. Wenn jemand Straftaten begangen hat, ob verjährt oder nicht, hab ich noch nie gehört oder gelesen, dass man sofort fragt, ob der Täter auch Gutes bewirkt habe. Bei hoch gejubelten Figuren scheint das dagegen eine Frage zu sein. Als ob Ruhm gegen sexualisierte Gewalt aufgewogen werden könne. Das ist eine erneute Demütigung der Opfer.

Was kann man aus dem Fall Jegge lernen?
Etwas, was man immer machen sollte. Die Geschichte hinter einem Vorgang genau studieren. Genau hinschauen. Zwischendurch hinterfragen, ob man selbst jemandem oder etwas aufsitzt.

Hätte das etwas genützt? 
Es gab Anzeichen für den Missbrauch. Die Schulbehörde hat Jegge Auflagen gemacht. Deshalb werden sie in Jegges Buch auch als die Bösen stigmatisiert. Man sollte skeptisch werden, wenn bei einem Machtgefälle wie zwischen Lehrer und Schüler zu viel Nähe erzeugt wird. Wenn also Arbeit und Privates nicht getrennt werden. Und ganz wichtig: Man sollte ein Kind ernst nehmen. Im Schnitt muss ein Kind einen Missbrauch achtmal einem Erwachsenen mitteilen, bevor ihm geglaubt wird.

Hinweis
Damian Miller, Jürgen Oelkers, «Ist Dummheit lernbar?» Re-Lektüre eines pädagogischen Bestsellers. Zytglogge Verlag, ISBN 978-3-7296-5001-5

Damian Miller
Professor Damian Miller ist Dozent für Erziehungswissenschaft an der Pädagogischen Hochschule Thurgau in Kreuzlingen. Er leitet den Fachbereich Bildungs- und Sozialwissenschaften. Miller war ursprünglich Primarlehrer und studierte Psychologie, Pädagogik und Zivilrecht an der Uni Zürich, Fachgebiete Bildungsgeschichte und -politik. Mit dem emeritierten Professor Jürgen Oelkers hat Miller ein Buch über die Reformpädagogik nach dem Missbrauch an der deutschen Odenwaldschule geschrieben. Im neuen Buch befassen sich Miller und Oelkers mit der Frage, was die Faszination des Bestsellers von Jürg Jegge ausmacht. Vor dem Hintergrund, dass Jegge Schüler sexuell missbraucht hat. Miller lebt mit seiner Familie in Weingarten-Kalthäusern, Oelkers lebt in Uesslingen. (san)

Buch-Vernissage in Kreuzlingen
Am Donnerstag, 15. November, 18 Uhr, stellen Damian Miller und Jürgen Oelkers ihr Buch «Ist Dummheit lernbar?» an der Pädagogischen Hochschule Thurgau in Kreuzlingen vor. Das Buch trägt den Untertitel «Re-Lektüre eines pädagogischen Bestsellers». Expertinnen und Experten unter anderem aus den Fächern Pädagogik, Psychologie und Rechtswissenschaft unterziehen Jürg Jegges «Dummheit ist lernbar», das lange Zeit als Standardwerk der Reformpädagogik galt, einer erneuten Analyse. Laudatorinnen und Laudator sind: Monika Egli-Alge, Forensisches Institut Ostschweiz, Professor Silja Rüedi, Prorektorin Ausbildung an der pädagogischen Hochschule Zürich und Markus Zangger, Autor von «Jürg Jegges dunkle Seite – Die Übergriffe des Musterpädagogen». Zangger war einst Schüler von Jegge. 2017 machte er öffentlich, dass Jegge Buben sexuell missbraucht hat. (san)


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