13. November 2018

Aargau regelt Einrichtung von alternativen Lernorten


Viele Schulen machen es längst. Auch wenn es bisher dafür keine kantonale Regelung gab. Die aktuelle Situation in vielen Klassen führte dazu, dass Lehrpersonen und Schulleitungen ausserhalb des Schulzimmers Lernorte einrichteten, um mit besonderen Schülerinnen und Schülern und widersprüchlichen Anforderungen adäquat umgehen zu können. Denn der Auftrag der Volksschule ist anspruchsvoller denn je: Sie soll alle Kinder, egal woher sie stammen, individuell fördern, für unterschiedliche Schullaufbahnen selektionieren und gleichzeitig Gemeinschaft stiften. Dass das immer weniger nur im Klassenverband im Schulzimmer geschehen kann, leuchtet ein.
Die Lizenz zum Verlassen des Klassenzimmers, Aargauer Zeitung, 8.11. von Jörg Meier


Ein wegweisendes Beispiel für die Einrichtung eines für die örtliche Schule massgeschneiderten alternativen Lernortes lieferte die Schule Seengen, die mit ihren «Lernort Pavillon» schon vor einigen Jahren auf die neuen Herausforderungen an die Volksschule reagiert hat und dafür 2015 mit dem Jan-Comenius-Preis der Fachhochschule Nordwestschweiz ausgezeichnet wurde. In Seengen wurde ein leerstehender Pavillon zu einem betreuten Ort umgewandelt, wo Kinder und Jugendliche gemäss ihren Bedürfnissen betreut lernen und arbeiten können.

Seither haben zahlreiche Schulen im Aargau die Klassenzimmer durchlässiger gemacht und alternative Lernorte für verschiedene Bedürfnisse auf ganz unterschiedliche Art geschaffen. Bisher hat das Bildungsdepartement (BKS) diese Entwicklung zwar beobachtet, aber nicht eingegriffen.

Bewusst weit gefasst
Doch nun hat die Abteilung Volksschule des BKS die verbindlichen Rahmenbedingungen für alternative Lernorte im Schulhaus formuliert. Dabei wird zuerst erklärt, was man beim BKS unter «alternativen Lernorten» versteht: Es sind «niederschwellig zugängliche, vom Klassenunterricht räumlich getrennte Angebote, welche die Schulen selber führen und verantworten». Es sind pädagogische Räume, die Schülerinnen und Schüler in besonderen Situationen aufsuchen oder zu denen sie zugewiesen werden können. Sie ermöglichen eine intensive, zeitlich befristete Förderung ausserhalb der Klasse. Die Aufenthaltsdauer richtet sich nach dem aktuellen Bedarf, kann sehr unterschiedlich ausfallen und verschiedene Zwecke erfüllen.

Diese Umschreibung sei bewusst allgemein formuliert, erklärt Urs Wilhelm von der Abteilung Volksschule des BKS. «Verbindliche detaillierte Vorgaben wären wenig hilfreich. Denn jede Schule ist anders und hat andere Bedürfnisse.» Mit den weit gefassten Rahmenbedingungen hätten nun die Schulen die Möglichkeit für eine individuelle Umsetzung.

Es gebe eine Reihe von Gründen dafür, dass das BKS verbindliche Rahmenbedingungen formuliert hat und diese jetzt den Schulen mitteilt: «Viele Schulen befassen sich mit der Einrichtung von alternativen Lernorten; wir wollen sie dabei unterstützen, indem wir festlegen, was möglich ist», sagt Wilhelm. Nicht zulässig wäre etwa, dass Kinder, die eine besondere Betreuung brauchen, nicht mehr in der Klasse, sondern fast nur noch an alternativen Lernorten unterrichtet werden und so eine Umteilung in eine Kleinklasse verhindert werden kann. Zudem braucht jeder Lernort eine Leitung mit einem klaren Pflichtenheft.

Schweizweit gut aufgestellt
Die Rahmenbedingungen sind aber auch eine konkrete Reaktion auf die politische Diskussion im Grossen Rat rund um die integrative Schulung. Im November 2016 hatte Bildungsdirektor Alex Hürzeler versprochen, das BKS werde «pragmatische Lösungsansätze» präsentieren: Alternative Lernorte ermöglichen eine intensive Förderung ausserhalb der Klasse.

Schliesslich baut auch der neue Aargauer Lehrplan nicht nur auf ausserschulische, sondern auch auf alternative Lernorte. «Mit diesen Rahmen bedingungen sind wir schweizweit gut aufgestellt», sagt Urs Wilhelm. «Die alternativen Lernorte sind an den Aargauer Schulen mehr als blosse Inseln für Verhaltensauffällige.» Andere Kantone täten sich eher schwer damit. So wird etwa zurzeit im Kanton Zürich diskutiert, ob es einheitliche Vorgaben für alle Schulen geben soll. Der Zürcher Lehrerverband fordert sie flächendeckend, der Kanton findet das keine gute Idee.

Zahlen müssen die Schulen
Philipp Grolimund, Co-Präsident der Aargauer Schulleitungen, schätzt die Initiative des BKS. «Die Rahmenbedingungen reagieren auf das, was schon an vielen Schulen funktioniert. Sie formulieren den Spielraum, den eine Schule hat.» Zudem verfüge man nun über eine Handhabe gegenüber von Eltern, die Auskunft wollten. Etwa, wenn man zu erklären versuche, dass integrativer Unterricht nicht bedeutet, dass immer alle im gleichen Schulzimmer sitzen.

Grolimund weist aber auch auf die Finanzierung der alternativen Lernorte hin: Der Kanton findet die zwar grundsätzliche gut und wichtig, aber bezahlen muss sie die Schule selber. Zusätzliche Angebote müssen allenfalls von der Gemeinde übernommen werden.
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Alternative Lernorte
Eltern müssen einverstanden sein
Alternative Lernorte können ganz unterschiedlich ausgestaltet sein, je nach Schulhaus und räumlichen Möglichkeiten der einzelnen Schulen. Sie richten sich an unterschiedliche Zielgruppen und können verschiedene Zwecke erfüllen:

·         Förderraum für Kinder mit Lernschwierigkeiten: Schülerinnen und Schüler mit Lernschwierigkeiten oder erheblichen Beeinträchtigungen können phasenweise intensiv in einer kleinen Gruppe gefördert werden.
·         Reflexionsraum bei sozialen und disziplinarischen Störungen: In eskalierenden Situationen braucht es besondere Angebote, die kurzfristig verfügbar und auf eine individuell unterschiedliche Dauer ausgelegt sind. Der alternative Lernort kann auch dazu beitragen, einen Schulausschluss aus disziplinarischen Gründen zu verhindern.
·         Projektraum bei der Arbeit an einem herausfordernden Projekt: Projekte und begabungsfördernde Massnahmen können teilweise ausserhalb der Klasse stattfinden.
·         Freiwilliger Lernort im Anschluss an den Unterricht: Schülerinnen und Schüler unterstützen sich gegenseitig oder stellen sich als Tutoren zur Verfügung.
·         Beaufsichtigter Raum bei Dispensationen: Hier arbeiten Schülerinnen und Schüler, die von einer andern schulischen Tätigkeit dispensiert sind (z. B. Sport).

Eine Zuweisung zu einem alternativen Lernort setzt grundsätzlich das Einverständnis der Eltern voraus. Das ist unumgänglich, weil alternative Lernorte keine rechtlich umschriebenen Schulungsarten sind. Ausnahmen sind möglich bei disziplinarischen Vorfällen bis zu einem halben Tag, bei heilpädagogischer Unterstützung und wenn die Schülerinnen und Schüler in Absprache mit der Lehrperson den Lernort freiwillig aufsuchen.

Aufgaben, die in die Zuständigkeit der Gemeinden fallen, können allerdings nicht durch alternative Lernorte ersetzt werden, insbesondere Aufgabenhilfe, Tagesstrukturen und Schulsozialarbeit.

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