Viele Schulen machen es
längst. Auch wenn es bisher dafür keine kantonale Regelung gab. Die aktuelle
Situation in vielen Klassen führte dazu, dass Lehrpersonen und Schulleitungen
ausserhalb des Schulzimmers Lernorte einrichteten, um mit besonderen Schülerinnen
und Schülern und widersprüchlichen Anforderungen adäquat umgehen zu können.
Denn der Auftrag der Volksschule ist anspruchsvoller denn je: Sie soll alle
Kinder, egal woher sie stammen, individuell fördern, für unterschiedliche
Schullaufbahnen selektionieren und gleichzeitig Gemeinschaft stiften. Dass das
immer weniger nur im Klassenverband im Schulzimmer geschehen kann, leuchtet
ein.
Die Lizenz zum Verlassen des Klassenzimmers, Aargauer Zeitung, 8.11. von Jörg Meier
Ein wegweisendes
Beispiel für die Einrichtung eines für die örtliche Schule massgeschneiderten
alternativen Lernortes lieferte die Schule Seengen, die mit ihren «Lernort
Pavillon» schon vor einigen Jahren auf die neuen Herausforderungen an die
Volksschule reagiert hat und dafür 2015 mit dem Jan-Comenius-Preis der
Fachhochschule Nordwestschweiz ausgezeichnet wurde. In Seengen wurde ein
leerstehender Pavillon zu einem betreuten Ort umgewandelt, wo Kinder und
Jugendliche gemäss ihren Bedürfnissen betreut lernen und arbeiten können.
Seither haben zahlreiche
Schulen im Aargau die Klassenzimmer durchlässiger gemacht und alternative
Lernorte für verschiedene Bedürfnisse auf ganz unterschiedliche Art geschaffen.
Bisher hat das Bildungsdepartement (BKS) diese Entwicklung zwar beobachtet,
aber nicht eingegriffen.
Bewusst
weit gefasst
Doch nun hat die
Abteilung Volksschule des BKS die verbindlichen Rahmenbedingungen für
alternative Lernorte im Schulhaus formuliert. Dabei wird zuerst erklärt, was
man beim BKS unter «alternativen Lernorten» versteht: Es sind «niederschwellig
zugängliche, vom Klassenunterricht räumlich getrennte Angebote, welche die
Schulen selber führen und verantworten». Es sind pädagogische Räume, die
Schülerinnen und Schüler in besonderen Situationen aufsuchen oder zu denen sie
zugewiesen werden können. Sie ermöglichen eine intensive, zeitlich befristete
Förderung ausserhalb der Klasse. Die Aufenthaltsdauer richtet sich nach dem
aktuellen Bedarf, kann sehr unterschiedlich ausfallen und verschiedene Zwecke
erfüllen.
Diese Umschreibung sei
bewusst allgemein formuliert, erklärt Urs Wilhelm von der Abteilung Volksschule
des BKS. «Verbindliche detaillierte Vorgaben wären wenig hilfreich. Denn jede
Schule ist anders und hat andere Bedürfnisse.» Mit den weit gefassten
Rahmenbedingungen hätten nun die Schulen die Möglichkeit für eine individuelle
Umsetzung.
Es gebe eine Reihe von
Gründen dafür, dass das BKS verbindliche Rahmenbedingungen formuliert hat und
diese jetzt den Schulen mitteilt: «Viele Schulen befassen sich mit der
Einrichtung von alternativen Lernorten; wir wollen sie dabei unterstützen,
indem wir festlegen, was möglich ist», sagt Wilhelm. Nicht zulässig wäre etwa,
dass Kinder, die eine besondere Betreuung brauchen, nicht mehr in der Klasse,
sondern fast nur noch an alternativen Lernorten unterrichtet werden und so eine
Umteilung in eine Kleinklasse verhindert werden kann. Zudem braucht jeder
Lernort eine Leitung mit einem klaren Pflichtenheft.
Schweizweit
gut aufgestellt
Die Rahmenbedingungen
sind aber auch eine konkrete Reaktion auf die politische Diskussion im Grossen
Rat rund um die integrative Schulung. Im November 2016 hatte Bildungsdirektor
Alex Hürzeler versprochen, das BKS werde «pragmatische Lösungsansätze»
präsentieren: Alternative Lernorte ermöglichen eine intensive Förderung
ausserhalb der Klasse.
Schliesslich baut auch
der neue Aargauer Lehrplan nicht nur auf ausserschulische, sondern auch auf
alternative Lernorte. «Mit diesen Rahmen bedingungen sind wir schweizweit gut
aufgestellt», sagt Urs Wilhelm. «Die alternativen Lernorte sind an den Aargauer
Schulen mehr als blosse Inseln für Verhaltensauffällige.» Andere Kantone täten
sich eher schwer damit. So wird etwa zurzeit im Kanton Zürich diskutiert, ob es
einheitliche Vorgaben für alle Schulen geben soll. Der Zürcher Lehrerverband
fordert sie flächendeckend, der Kanton findet das keine gute Idee.
Zahlen
müssen die Schulen
Philipp Grolimund,
Co-Präsident der Aargauer Schulleitungen, schätzt die Initiative des BKS. «Die
Rahmenbedingungen reagieren auf das, was schon an vielen Schulen funktioniert.
Sie formulieren den Spielraum, den eine Schule hat.» Zudem verfüge man nun über
eine Handhabe gegenüber von Eltern, die Auskunft wollten. Etwa, wenn man zu
erklären versuche, dass integrativer Unterricht nicht bedeutet, dass immer alle
im gleichen Schulzimmer sitzen.
Grolimund weist aber
auch auf die Finanzierung der alternativen Lernorte hin: Der Kanton findet die
zwar grundsätzliche gut und wichtig, aber bezahlen muss sie die Schule selber.
Zusätzliche Angebote müssen allenfalls von der Gemeinde übernommen werden.
_____________________________________________________________________
Alternative Lernorte
Eltern müssen einverstanden
sein
Alternative Lernorte
können ganz unterschiedlich ausgestaltet sein, je nach Schulhaus und räumlichen
Möglichkeiten der einzelnen Schulen. Sie richten sich an unterschiedliche
Zielgruppen und können verschiedene Zwecke erfüllen:
·
Förderraum
für Kinder mit Lernschwierigkeiten: Schülerinnen und Schüler mit Lernschwierigkeiten
oder erheblichen Beeinträchtigungen können phasenweise intensiv in einer
kleinen Gruppe gefördert werden.
·
Reflexionsraum
bei sozialen und disziplinarischen Störungen: In eskalierenden Situationen braucht es besondere
Angebote, die kurzfristig verfügbar und auf eine individuell unterschiedliche
Dauer ausgelegt sind. Der alternative Lernort kann auch dazu beitragen, einen
Schulausschluss aus disziplinarischen Gründen zu verhindern.
·
Projektraum
bei der Arbeit an einem herausfordernden Projekt: Projekte und begabungsfördernde Massnahmen
können teilweise ausserhalb der Klasse stattfinden.
·
Freiwilliger
Lernort im Anschluss an den Unterricht: Schülerinnen und Schüler unterstützen sich gegenseitig
oder stellen sich als Tutoren zur Verfügung.
·
Beaufsichtigter
Raum bei Dispensationen: Hier
arbeiten Schülerinnen und Schüler, die von einer andern schulischen Tätigkeit
dispensiert sind (z. B. Sport).
Eine Zuweisung zu einem
alternativen Lernort setzt grundsätzlich das Einverständnis der Eltern voraus.
Das ist unumgänglich, weil alternative Lernorte keine rechtlich umschriebenen
Schulungsarten sind. Ausnahmen sind möglich bei disziplinarischen Vorfällen bis
zu einem halben Tag, bei heilpädagogischer Unterstützung und wenn die
Schülerinnen und Schüler in Absprache mit der Lehrperson den Lernort freiwillig
aufsuchen.
Aufgaben, die in die
Zuständigkeit der Gemeinden fallen, können allerdings nicht durch alternative
Lernorte ersetzt werden, insbesondere Aufgabenhilfe, Tagesstrukturen und
Schulsozialarbeit.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen