Der Psychologe Allan Guggenbühl macht sich stark für die Denk- und
Meinungsfreiheit. Ein Plädoyer für eigenständiges Denken, weniger Vorschriften
und eine Debattenkultur ohne Kompromisse – von Anfang an.
Mehr Nonkonformität nützt uns allen, EDU Standpunkt, 1.11. von Lisa Leisi
In Ihrem Buch "Die Vergessene Klugheit" sprechen Sie
von "Denkverboten". Was verstehen Sie darunter?
Theoretisch kann
jeder Denken was er will. Wir tendieren jedoch dazu, uns an den Erwartungen,
Codes unserer Umgebung und Bezugsgruppen auszurichten. Wir verbieten uns
selber, gewisse Dinge auszusprechen, weil wir dazugehören wollen, dabei sein
wollen.
Inwiefern hat dies Auswirkungen auf die Gesellschaft, Demokratie und
Politik?
Die Demokratie lebt von Debatten, in denen auch unbequeme Gedanken
geäussert werden und man sich zuhört. Demokratien funktionieren, wenn
Meinungsfreiheit herrscht. Alle werden dem zustimmen. Das Problem ist jedoch,
dass wir uns selbst einschränken, dem kollektiven Meinungskanon folgen, aus Angst
ausgeschlossen zu werden.
Sehen Sie die Denk- und Meinungsfreiheit in der
Schweiz gefährdet?
Es geht um die Pflege der Meinungsvielfalt. Die Schweiz ist
ein kleines Land. Alle kennen alle. Man ist vorsichtig mit dem, was man sagt,
hat Angst vor Skandalen und richtet sich darum freiwillig an dem aus, was man
sagen darf. In der Schweiz gibt es weniger Kreise, die gegensätzliche
Standpunkte zu grundlegenden Themen vertreten, wie in den U.S.A zum Beispiel.
Wo sehen Sie Ursachen für eigene Denkverbote?
Unsere Kultur lebt von der
Bereitschaft, Mittelwege zu suchen und Kompromisse zu schliessen. Für die
Problemerkennung müssten wir jedoch zuerst alle Optionen andenken. Es braucht
kontroverse Debatten. In den USA ist es zum Beispiel üblich, die Arbeit des
Präsidenten und der Parlamentarier radikal infrage zu stellen. Dies war schon
vor Trump so.
Inwiefern haben die Bereiche Bildung und Wissen damit zu tun? Was
läuft falsch?
Das Problem ist die Ideologisierung. Bildung hat die Aufgabe, in
unsere Kultur einzuführen und den Schülern zu zeigen, wie das Leben ist. Heute
dominiert jedoch die Vorstellung, wir müssten an der Persönlichkeit der Schüler
herumlaborieren. Auffallend ist dies beim Thema Gender. Geschlechtsunterschiede
dürfen nicht sein. Vor allem Knaben müssen darum ihre sogenannt problematischen
Verhaltensweisen ablegen, ihr Bedürfnis nach Hierarchie, nach Wettbewerb,
Gruppenorientierung und sie müssen lernen, Gefühle in persönlichen Worten
auszudrücken und nicht über Themen, wie es viele Knaben machen. Wenn Bildung zu
Ideologie wird, verliert sie ihren Wert, den sie haben müsste. Eigenartig ist
die Kompetenzorientierung. Verlangt wird gemäss Lehrplan 21, dass über 2000
Kompetenzen bewertet und gefördert werden. Man reduziert die Kinder zu
Anpassungs- und Leistungsobjekten.
Sie kritisieren die vielen Vorschriften und
Standards. Diese sind ja nicht nur schlecht, oder?
Standards braucht es. Sie
dienen der Orientierung bei der Arbeit. Das Problem ist, dass die Schule
beginnt, Schüler nach Standards zu beurteilen, die letztlich kein Mensch je
erfüllt. Damit wird den Lehrpersonen ein Machtmittel in die Hand gegeben, weil
die Schüler nie allen Standards genügen können. Wesentlich in der Schule sind
jedoch die Beziehungen, die sich aus den Begegnungen zwischen den Lehrpersonen entwickeln. Daraus
entwickelt sich auch Lernfreude und Neugier. Kein Schüler arbeitet, weil er ein
Kompetenzziel erfüllen will.
Sehen Sie Möglichkeiten, Gegensteuer zu geben?
Das
ist sehr schwierig. Auch, weil wir eine gerontologische (vergreisende)
Gesellschaft werden. Deshalb habe ich das Buch "Die vergessene
Klugheit" geschrieben. Alle reden davon, Gesetze abzubauen und machen mehr
Gesetze. Gesellschaften funktionieren jedoch vor allem, wenn die Menschen sich
mit ihr identifizieren und die Möglichkeit haben, eigenständig zu denken und zu
handeln.
Wie kann eigenständiges Denken gefördert werden?
Es ist schwierig
eigenes Denken direkt zu fördern. Was es braucht ist Zeit, Musse und Räume, in
denen man sich ohne Aufgabe oder Rolle begegnet. Die freie, funktionslose Rede
ist wichtig.
Wie könnte die Schule dazu beitragen?
In Schulen könnte man zum
Beispiel Leute einladen, ohne pädagogischen Habitus. In Bern gab es einen
Verein, der organisierte Treffen zwischen Schülern und Berufspersonen. Nach
Schulschluss konnten die Schüler vernehmen, was ein Bäcker, Architekt,
Schriftsteller beschäftigt. Das Projekt war ein riesiger Erfolg. Sie redeten
ohne pädagogische Vorgaben. Die Bildungsdirektion beschloss, das Angebot zu
institutionalisieren. Bestimmt wurde jedoch, dass Lehrpersonen von
verschiedenen Berufen berichten sollen. Die pädagogischen Standards der
Lektionen galt es zu respektieren. Natürlich kamen die Schüler nicht mehr.
Was
erwarten Sie von der Politik?
Weniger Empörung, sondern zivilisierte, offene
Debatten. Von der Bevölkerung auch eine grössere Wertschätzung und Akzeptanz
von Menschen, die sich politisch engagieren. Wenn Politiker Phrasen dreschen,
widersprüchlich sind und sich in Ausreden flüchten, dann machen sie genau das,
zu dem wir alle neigen.
Besten Dank für dieses Gespräch!
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