4. November 2018

Ein Plädoyer für Denk- und Meinungsfreiheit


Der Psychologe Allan Guggenbühl macht sich stark für die Denk- und Meinungsfreiheit. Ein Plädoyer für eigenständiges Denken, weniger Vorschriften und eine Debattenkultur ohne Kompromisse – von Anfang an. 
Mehr Nonkonformität nützt uns allen, EDU Standpunkt, 1.11. von Lisa Leisi

In Ihrem Buch "Die Vergessene Klugheit" sprechen Sie von "Denkverboten". Was verstehen Sie darunter? 
Theoretisch kann jeder Denken was er will. Wir tendieren jedoch dazu, uns an den Erwartungen, Codes unserer Umgebung und Bezugsgruppen auszurichten. Wir verbieten uns selber, gewisse Dinge auszusprechen, weil wir dazugehören wollen, dabei sein wollen. 

Inwiefern hat dies Auswirkungen auf die Gesellschaft, Demokratie und Politik? 
Die Demokratie lebt von Debatten, in denen auch unbequeme Gedanken geäussert werden und man sich zuhört. Demokratien funktionieren, wenn Meinungsfreiheit herrscht. Alle werden dem zustimmen. Das Problem ist jedoch, dass wir uns selbst einschränken, dem kollektiven Meinungskanon folgen, aus Angst ausgeschlossen zu werden. 

Sehen Sie die Denk- und Meinungsfreiheit in der Schweiz gefährdet? 
Es geht um die Pflege der Meinungsvielfalt. Die Schweiz ist ein kleines Land. Alle kennen alle. Man ist vorsichtig mit dem, was man sagt, hat Angst vor Skandalen und richtet sich darum freiwillig an dem aus, was man sagen darf. In der Schweiz gibt es weniger Kreise, die gegensätzliche Standpunkte zu grundlegenden Themen vertreten, wie in den U.S.A zum Beispiel. 

Wo sehen Sie Ursachen für eigene Denkverbote? 
Unsere Kultur lebt von der Bereitschaft, Mittelwege zu suchen und Kompromisse zu schliessen. Für die Problemerkennung müssten wir jedoch zuerst alle Optionen andenken. Es braucht kontroverse Debatten. In den USA ist es zum Beispiel üblich, die Arbeit des Präsidenten und der Parlamentarier radikal infrage zu stellen. Dies war schon vor Trump so. 

Inwiefern haben die Bereiche Bildung und Wissen damit zu tun? Was läuft falsch? 
Das Problem ist die Ideologisierung. Bildung hat die Aufgabe, in unsere Kultur einzuführen und den Schülern zu zeigen, wie das Leben ist. Heute dominiert jedoch die Vorstellung, wir müssten an der Persönlichkeit der Schüler herumlaborieren. Auffallend ist dies beim Thema Gender. Geschlechtsunterschiede dürfen nicht sein. Vor allem Knaben müssen darum ihre sogenannt problematischen Verhaltensweisen ablegen, ihr Bedürfnis nach Hierarchie, nach Wettbewerb, Gruppenorientierung und sie müssen lernen, Gefühle in persönlichen Worten auszudrücken und nicht über Themen, wie es viele Knaben machen. Wenn Bildung zu Ideologie wird, verliert sie ihren Wert, den sie haben müsste. Eigenartig ist die Kompetenzorientierung. Verlangt wird gemäss Lehrplan 21, dass über 2000 Kompetenzen bewertet und gefördert werden. Man reduziert die Kinder zu Anpassungs- und Leistungsobjekten. 

Sie kritisieren die vielen Vorschriften und Standards. Diese sind ja nicht nur schlecht, oder? 
Standards braucht es. Sie dienen der Orientierung bei der Arbeit. Das Problem ist, dass die Schule beginnt, Schüler nach Standards zu beurteilen, die letztlich kein Mensch je erfüllt. Damit wird den Lehrpersonen ein Machtmittel in die Hand gegeben, weil die Schüler nie allen Standards genügen können. Wesentlich in der Schule sind jedoch die Beziehungen, die sich aus den Begegnungen zwischen den Lehrpersonen entwickeln. Daraus entwickelt sich auch Lernfreude und Neugier. Kein Schüler arbeitet, weil er ein Kompetenzziel erfüllen will. 

Sehen Sie Möglichkeiten, Gegensteuer zu geben? 
Das ist sehr schwierig. Auch, weil wir eine gerontologische (vergreisende) Gesellschaft werden. Deshalb habe ich das Buch "Die vergessene Klugheit" geschrieben. Alle reden davon, Gesetze abzubauen und machen mehr Gesetze. Gesellschaften funktionieren jedoch vor allem, wenn die Menschen sich mit ihr identifizieren und die Möglichkeit haben, eigenständig zu denken und zu handeln. 

Wie kann eigenständiges Denken gefördert werden? 
Es ist schwierig eigenes Denken direkt zu fördern. Was es braucht ist Zeit, Musse und Räume, in denen man sich ohne Aufgabe oder Rolle begegnet. Die freie, funktionslose Rede ist wichtig. 

Wie könnte die Schule dazu beitragen? 
In Schulen könnte man zum Beispiel Leute einladen, ohne pädagogischen Habitus. In Bern gab es einen Verein, der organisierte Treffen zwischen Schülern und Berufspersonen. Nach Schulschluss konnten die Schüler vernehmen, was ein Bäcker, Architekt, Schriftsteller beschäftigt. Das Projekt war ein riesiger Erfolg. Sie redeten ohne pädagogische Vorgaben. Die Bildungsdirektion beschloss, das Angebot zu institutionalisieren. Bestimmt wurde jedoch, dass Lehrpersonen von verschiedenen Berufen berichten sollen. Die pädagogischen Standards der Lektionen galt es zu respektieren. Natürlich kamen die Schüler nicht mehr. 

Was erwarten Sie von der Politik? 
Weniger Empörung, sondern zivilisierte, offene Debatten. Von der Bevölkerung auch eine grössere Wertschätzung und Akzeptanz von Menschen, die sich politisch engagieren. Wenn Politiker Phrasen dreschen, widersprüchlich sind und sich in Ausreden flüchten, dann machen sie genau das, zu dem wir alle neigen. 

Besten Dank für dieses Gespräch!

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