4. November 2018

Schulinseln sind keine Lösung


Unruhe im Klassenzimmer: Seit einstige Kleinklassen- und Sonderschüler integrativ in der Regelklasse geschult werden, ist der Unterricht vielerorts zur täglichen Geduldsprobe geworden. 
Den wahren Preis akzeptieren, Tages Anzeiger, 31.10. von Raphaela Birrer


Die grössten Probleme bereiten den Lehrerinnen und Lehrern nicht körperlich oder geistig behinderte Kinder, die eng heilpädagogisch betreut werden, sondern Verhaltensauffällige, die häufig keinen Förderstatus haben und entsprechend keine spezifische Unterstützung erhalten. Kinder also, die den Unterricht lahmlegen, die Klasse ablenken und den Lehrer an die Belastungsgrenze bringen können. 

Auffälliges Verhalten ist allerdings stets auch abhängig vom Umfeld. Es kann sich zum Beispiel verstärken, wenn sich ein Kind zu wenig beachtet oder überfordert fühlt. In der integrativen Schule fehlen vielen Lehrern die Ressourcen, um dem Bedürfnis nach erhöhter Aufmerksamkeit jederzeit nachzukommen. 

Eine Lösung sieht die Lehrerschaft in sogenannten Schulinseln. Das Konzept sieht eigene Räumlichkeiten für kurzzeitige Time-outs vor – einen pädagogisch betreuten Ort, an dem die betroffenen Kinder zur Ruhe kommen und am Schulstoff arbeiten können. 

Der Zürcher Lehrerverband fordert, dass künftig jeder Schule eine solche Insel zur Verfügung stehen soll. Berufsverbände anderer Kantone unterstützen das Anliegen. Die Schulinsel soll sozusagen als flankierende Massnahme der integrativen Förderung etabliert werden. Schweizweit arbeiten bereits einzelne Schulhäuser mit solch niederschwelligen Angeboten. Ihre Erfahrungen lassen den Schluss zu, dass es mithilfe der Schulinsel gelingt, akut belastende Situationen zu deeskalieren. 

Das kann – entgegen den Befürchtungen der Kritiker – langfristig sogar zu einer besseren Integration der betroffenen Schüler beitragen, weil alle Beteiligten nach der kurzen Auszeit wieder mehr Kraft haben. Und im Idealfall hilft die Insel sogar, Kosten zu sparen – dann etwa, wenn Lehrer auszubrennen drohen oder Schüler vor einem teuren externen Timeout stehen. 

Doch die Schulinsel bekämpft letztlich nur die Symptome eines viel grösseren Missstands: Die Regelschulen sind auch zehn Jahre nach der Einführung der integrativen Förderung vielerorts überfordert mit dieser anspruchsvollen Aufgabe. 

Die häufig nur punktuelle heilpädagogische Unterstützung im Klassenzimmer reicht bei weitem nicht aus, um jedes Kind seinen Bedürfnissen entsprechend zu betreuen. Sollen schwierige Situationen bereits in der Klasse und nicht erst in der Insel gelöst werden, muss dort investiert werden. Es braucht mehr Heilpädagogen. 

Solange die Politik jedoch den wahren Preis der Integration nicht akzeptieren will – so lange werden die Schulen auf Konzepte wie Schulinseln setzen müssen, um handlungsfähig zu bleiben.

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