Der
oberste Lehrer der Schweiz, Beat Zemp, über Helikoptereltern, Druck und was
eine Klageflut stoppen kann.
"Wir brauchen unabhängige Ombudsstellen", Südostschweiz, 22.9. von Yannick Nock
Herr
Zemp, ist der Druck auf Lehrer vonseiten der Eltern in den letzten Jahren
gestiegen?
Beat Zemp: Eindeutig, das höre ich von allen Seiten und über alle
Kantone hinweg. Eltern streiten sich heute schneller mit Lehrpersonen als noch
vor zehn Jahren. Wenn ihnen etwas nicht passt, reklamieren sie.
Was sind die
Folgen?
Man muss heute viel genauer dokumentieren, wie der Leistungsstand jedes
Kindes ist. Eine Prüfung wird nicht einfach korrigiert und zurückgegeben,
sondern man kopiert sie und legt sie ab. Wenn eine Bewertung angefochten wird,
muss schliesslich alles gut dokumentiert sein. Das führt zu deutlich mehr
administrativem Aufwand.
Es ist doch gut, wenn sich Eltern um die Leistung der
Kinder sorgen.
Natürlich, dafür habe ich auch volles Verständnis, schliesslich
geht es um die Schulkarriere ihres Nachwuchses. Eltern wollen wissen, wie eine Note zustande gekommen ist oder warum man von einem Übertritt ans
Gymnasium abrät. Weniger Verständnis habe ich allerdings, wenn erzieherische
Massnahmen angefochten werden, sei es beim Verhalten in der Pause, Umgang mit
dem Handy oder bei der Erreichbarkeit von Lehrpersonen und Schulleitern. Wir
müssen den Schulbetrieb aufrechterhalten und können nicht auf alle
Sonderwünsche eingehen.
Welches sind die Streitpunkte?
Oft geht es um
Übertrittsentscheide an weiterführende Schulen, aber auch um einzelne Prüfungen
oder Teilnahme an Klassenlagern und am Schwimmunterricht.
Eine Studie kommt zum
Schluss, dass Lehrer in der Schweiz im internationalen Vergleich einen tiefen
Status geniessen. Hat der Respekt abgenommen?
Ich bin seit 35 Jahren Lehrer und
empfinde das persönlich nicht so. Doch gerade Entscheidungen von jungen
Lehrpersonen werden von überkritischen Eltern hinterfragt oder nicht
akzeptiert, auch wenn sie völlig korrekt sind. Das kann belastend sein. Vor dem
ersten Elternabend haben viele Berufsneulinge schlaflose Nächte.
Sind Eltern
ein häufiger Kündigungsgrund für Lehrer?
Wir machen regelmässig Umfragen zur
Berufszufriedenheit. Ein entscheidender Faktor für einen Verdruss sind
nörgelnde Eltern, die alles infrage stellen. Man kennt sie auch unter dem
Begriff der Helikoptereltern. Sie überwachen jeden Schritt ihrer Kinder.
Trotzdem sind mir diese Eltern immer noch lieber als jene, die sich gar nicht
um den schulischen Erfolg ihrer Kinder kümmern.
Klingt, als machten Eltern in
Ihren Augen vieles falsch.
Nein, dabei handelt es sich glücklicherweise um eine
kleine Minderheit. Es gibt viele «critical friends», also Eltern, die kritisch
hinschauen, aber grundsätzlich hinter dem öffentlichen Bildungssystem stehen.
Sie hinterfragen Entscheide, äussern dabei aber konstruktive Kritik.
Im Kanton
Zürich gab es dieses Jahr so viele Anfechtungen wegen des Übertritts ins
Gymnasium wie noch nie. Wie erklären Sie sich die Entwicklung?
Ich kenne die
Details nicht. In Zürich ist allerdings die Aufnahmeprüfung alleine
entscheidend für den Übertritt ans Gymnasium. Vielleicht ist das ein Grund,
denn es entscheidet die Leistung an einem einzigen Tag, mit allen Vor- und
Nachteilen. Ich persönlich befürworte eine Kombination aus Prüfung, Vornoten
und Empfehlungen der Lehrpersonen.
Der Kanton Freiburg hat die
Rekursmöglichkeiten eingeschränkt. Erzieherische Massnahmen, die Ablehnung von
Urlaubsgesuchen oder Noten, die nicht entscheidend sind, können Eltern nicht
mehr anfechten. Eine gute Idee?
Das ist sicher eine Möglichkeit, die Flut von
Rekursen einzudämmen. Allerdings muss es immer die Option für Einsprachen
geben, wenn es um Übertritte und Abschlussprüfungen geht. Das ist ein wichtiges
Gegenmittel zur Macht der Schule.
Welche zusätzlichen Massnahmen schlagen Sie
vor?
Wir brauchen in den Kantonen unabhängige Ombudsstellen, an die sich Eltern
wenden können, wenn Sie sich ungerecht behandelt fühlen. So könnten Konflikt
frühzeitig gelöst und eine Eskalation verhindert werden.
Wie sollen
Pädagogische Hochschulen in der Ausbildung neuer Lehrer mit den
Erwartungshaltungen der Eltern umgehen?
Ein Pflichtmodul «Elterngespräch» macht
in meinen Augen Sinn. Ich begrüsse es sehr, dass viele Pädagogische Hochschulen
mittlerweile ein starkes Augenmerk auf die Elterngespräche legen und die
angehenden Lehrer gut auf diese Situation vorbereitet werden. Auch dadurch
lassen sich viele Situationen frühzeitig entschärfen.
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