An
Schulen tobt ein Glaubensstreit: Wie sollen Kinder Rechtschreibung lernen? Eine
neue Studie zerpflückt eine verbreitete Methode – und stellt den Unterricht vor
grosse Probleme.
Die Anxt vor Fehlern, Südostschweiz, 29.9. von Yannick Nock
Rolf Dubs, renommierter Pädagoge und emeritierter Professor der
Universität St. Gallen (HSG), erkennt einen regelrechten Zerfall der
Rechtschreibkenntnisse. «Selbst an den Hochschulen haben Studenten und
Doktoranden heute Mühe, fehlerfreie Sätze zu schreiben», sagt er. Es komme vor,
dass der Inhalt einer Dissertation zwar gut sei, die Sprache aber schlicht
ungenügend.
Einen Grund sieht Dubs in der umstrittenen Methode «Schreiben nach
Gehör», auch «Lesen durch Schreiben» genannt. Sie wird seit Jahren in vielen
Primarschulen praktiziert. Erstklässler schreiben so, wie sie meinen, dass es
richtig ist. Korrekturen sind nicht vorgesehen – manchmal bis in die zweite
oder dritte Klasse. So wird aus «und» «ont», aus «Wasser» «wasa» oder aus
«Eule» «oile».
Die Methode soll den Schülern die Angst (oder «Anxt», wie sie
selber schreiben) vor Fehlern nehmen und sie zum Schreiben animieren. Der
Vorteil: Kinder können erstaunlich schnell kleinere Geschichten aufschreiben
statt nur einzelner Wörter. Doch die Methode, die vom verstorbenen Schweizer
Reformpädagogen Jürgen Reichen entwickelt wurde, ist schon länger umstritten.
Nun gerät sie noch stärker unter Beschuss.
Eine ganze Generation leidet
Eine
neue Studie der Universität Bonn zeigt die Überlegenheit des klassischen
Orthografieunterrichts mit Regeln und Rechtschreibebüchern. Dafür wurden die
Leistungen von 3000 Grundschülern analysiert. Es ist eine der wenigen grossen Untersuchungen zum Thema.
Kinder, die in der klassischen Methode unterrichtet wurden, schnitten demnach
in der Rechtschreibung deutlich besser ab als jene, die erst nach Gehör
lernten.
Kritiker in Deutschland und der Schweiz fühlen sich bestätigt. «Es ist
ein grosser Fehler, wenn Kinder einfach drauflosschreiben dürfen, ohne jegliche
Kenntnisse der Rechtschreibung», sagt Pädagoge Dubs. Sie brauchten eine
Struktur. «Ohne geordnetes Wissen werden Schüler nie gut schreiben können.» Es
sei ein Trugschluss, zu glauben, dass die Rechtschreibung in höheren Klassen
ohne Abstriche nachgeholt werden könne.
Mit dieser Meinung ist Dubs nicht
allein. Weitere Professoren und Lehrer warnen vor den Folgen – in beiden
Ländern. Oder wie es eine Lehrervertreterin im «Spiegel» ausdrückt: «Eigentlich
müssten sich die Verfechter dieser unseligen Methode bei einer ganzen
Schülergeneration entschuldigen.»
Braucht es ein Verbot?
Zwei Bundesländer
haben «Schreiben nach Gehör» mittlerweile aus der Schule verbannt. Eine Idee,
die auch in der Schweiz gut ankommt. SVP-Nationalrätin (TG) und
Bildungspolitikerin Verena Herzog fordert Massnahmen: «Die Bildungsdirektoren
müssen zur Vernunft kommen und diese Methode verbieten», sagt sie. Sie müsse
aus den Klassenzimmern verbannt werden. «Sich zuerst Fehler anzugewöhnen, die
nachher mit grossem Aufwand wieder ausgebügelt werden müssen, ist völlig
ineffizient.» Leidtragende seien vor allem Kinder, die ohnehin Mühe mit der
Sprache hätten.
Wie viele Schulen in der Schweiz «Schreiben nach Gehör»
praktizieren, ist nicht bekannt. Schweizer Studien dazu fehlen. Experten gehen
aber davon aus, dass die Methode oft angewendet wird – zumindest in einem Mix
mit klassischem Rechtschreibunterricht. Für Afra Sturm, Professorin für
Deutschdidaktik an der Fachhochschule Nordwestschweiz, ist die Schweiz deshalb
nicht mit Deutschland vergleichbar. Hierzulande würde Schreiben nach Gehör
früher durch expliziten Rechtschreibunterricht abgelöst werden. «Wenn der Mix
stimmt, kann Schreiben nach Gehör den Grundstein legen.»
Jugendliche lesen
nicht mehr
Auch der oberste Lehrer der Schweiz, Beat Zemp, hält deshalb nichts
von einem Verbot. Die Lehrpersonen müssten selber entscheiden können, welche
Methode sie anwenden möchten. Er empfiehlt ebenfalls einen Mix, wie es die
meisten Schweizer Lehrbücher ohnehin vorsehen würden. Zemp hebt aber die
Bedeutung des Orthografieunterrichts hervor, denn auch er stellt fest, dass
Kinder heute mehr Fehler machen. «Es ist wichtig, dass Kinder üben und auch
einmal ein Diktat schreiben», sagt er. «Anders geht es nicht.»
Zemp empfiehlt
zudem, Schülerinnen und Schüler ihre Texte gegenseitig korrigieren zu lassen.
Dabei soll jedes Kind für eine andere Regel zuständig sein. Eines soll
beispielsweise auf die Grossschreibung achten, ein anderes auf «ie», ein
drittes auf den Unterschied zwischen «das» und «dass». So würden sich Kinder
die richtige Schreibweise einprägen, ohne dass die Lehrer den Rotstift ansetzen
müssten.
Doch das Problem liegt laut Zemp tiefer. «Jugendliche lesen heute
weniger Bücher als früher», sagt er. Stattdessen würden sie sich SMS-,
Whatsapp- oder Twitter-Nachrichten schreiben. Rechtschreibung und vollständige
Sätze sind da zweitrangig. «Darunter leiden die Lese- und Schreibleistung»,
sagt Zemp. Deshalb sei es auch Aufgabe der Schulen und Eltern, den Kindern
wieder die Freude am Lesen zu vermitteln.
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