1. Oktober 2018

Schreiben nach Gehör verschlechtert die Rechtschreibung


An Schulen tobt ein Glaubensstreit: Wie sollen Kinder Rechtschreibung lernen? Eine neue Studie zerpflückt eine verbreitete Methode – und stellt den Unterricht vor grosse Probleme.
Die Anxt vor Fehlern, Südostschweiz, 29.9. von Yannick Nock
Wer mit Lehrern und Professoren spricht, bekommt oft das Gleiche zu hören: Kinder und Jugendliche können heute nicht mehr richtig schreiben. Bei vielen hapert es an der Orthografie, andere schaffen es nicht, ganze Sätze zu bilden. Das Phänomen zieht sich durch alle Stufen.

Rolf Dubs, renommierter Pädagoge und emeritierter Professor der Universität St. Gallen (HSG), erkennt einen regelrechten Zerfall der Rechtschreibkenntnisse. «Selbst an den Hochschulen haben Studenten und Doktoranden heute Mühe, fehlerfreie Sätze zu schreiben», sagt er. Es komme vor, dass der Inhalt einer Dissertation zwar gut sei, die Sprache aber schlicht ungenügend. 

Einen Grund sieht Dubs in der umstrittenen Methode «Schreiben nach Gehör», auch «Lesen durch Schreiben» genannt. Sie wird seit Jahren in vielen Primarschulen praktiziert. Erstklässler schreiben so, wie sie meinen, dass es richtig ist. Korrekturen sind nicht vorgesehen – manchmal bis in die zweite oder dritte Klasse. So wird aus «und» «ont», aus «Wasser» «wasa» oder aus «Eule» «oile». 

Die Methode soll den Schülern die Angst (oder «Anxt», wie sie selber schreiben) vor Fehlern nehmen und sie zum Schreiben animieren. Der Vorteil: Kinder können erstaunlich schnell kleinere Geschichten aufschreiben statt nur einzelner Wörter. Doch die Methode, die vom verstorbenen Schweizer Reformpädagogen Jürgen Reichen entwickelt wurde, ist schon länger umstritten. Nun gerät sie noch stärker unter Beschuss. 

Eine ganze Generation leidet 
Eine neue Studie der Universität Bonn zeigt die Überlegenheit des klassischen Orthografieunterrichts mit Regeln und Rechtschreibebüchern. Dafür wurden die Leistungen von 3000 Grundschülern analysiert. Es ist eine der wenigen grossen Untersuchungen zum Thema. Kinder, die in der klassischen Methode unterrichtet wurden, schnitten demnach in der Rechtschreibung deutlich besser ab als jene, die erst nach Gehör lernten. 

Kritiker in Deutschland und der Schweiz fühlen sich bestätigt. «Es ist ein grosser Fehler, wenn Kinder einfach drauflosschreiben dürfen, ohne jegliche Kenntnisse der Rechtschreibung», sagt Pädagoge Dubs. Sie brauchten eine Struktur. «Ohne geordnetes Wissen werden Schüler nie gut schreiben können.» Es sei ein Trugschluss, zu glauben, dass die Rechtschreibung in höheren Klassen ohne Abstriche nachgeholt werden könne. 

Mit dieser Meinung ist Dubs nicht allein. Weitere Professoren und Lehrer warnen vor den Folgen – in beiden Ländern. Oder wie es eine Lehrervertreterin im «Spiegel» ausdrückt: «Eigentlich müssten sich die Verfechter dieser unseligen Methode bei einer ganzen Schülergeneration entschuldigen.» 

Braucht es ein Verbot? 
Zwei Bundesländer haben «Schreiben nach Gehör» mittlerweile aus der Schule verbannt. Eine Idee, die auch in der Schweiz gut ankommt. SVP-Nationalrätin (TG) und Bildungspolitikerin Verena Herzog fordert Massnahmen: «Die Bildungsdirektoren müssen zur Vernunft kommen und diese Methode verbieten», sagt sie. Sie müsse aus den Klassenzimmern verbannt werden. «Sich zuerst Fehler anzugewöhnen, die nachher mit grossem Aufwand wieder ausgebügelt werden müssen, ist völlig ineffizient.» Leidtragende seien vor allem Kinder, die ohnehin Mühe mit der Sprache hätten. 

Wie viele Schulen in der Schweiz «Schreiben nach Gehör» praktizieren, ist nicht bekannt. Schweizer Studien dazu fehlen. Experten gehen aber davon aus, dass die Methode oft angewendet wird – zumindest in einem Mix mit klassischem Rechtschreibunterricht. Für Afra Sturm, Professorin für Deutschdidaktik an der Fachhochschule Nordwestschweiz, ist die Schweiz deshalb nicht mit Deutschland vergleichbar. Hierzulande würde Schreiben nach Gehör früher durch expliziten Rechtschreibunterricht abgelöst werden. «Wenn der Mix stimmt, kann Schreiben nach Gehör den Grundstein legen.» 

Jugendliche lesen nicht mehr 
Auch der oberste Lehrer der Schweiz, Beat Zemp, hält deshalb nichts von einem Verbot. Die Lehrpersonen müssten selber entscheiden können, welche Methode sie anwenden möchten. Er empfiehlt ebenfalls einen Mix, wie es die meisten Schweizer Lehrbücher ohnehin vorsehen würden. Zemp hebt aber die Bedeutung des Orthografieunterrichts hervor, denn auch er stellt fest, dass Kinder heute mehr Fehler machen. «Es ist wichtig, dass Kinder üben und auch einmal ein Diktat schreiben», sagt er. «Anders geht es nicht.» 

Zemp empfiehlt zudem, Schülerinnen und Schüler ihre Texte gegenseitig korrigieren zu lassen. Dabei soll jedes Kind für eine andere Regel zuständig sein. Eines soll beispielsweise auf die Grossschreibung achten, ein anderes auf «ie», ein drittes auf den Unterschied zwischen «das» und «dass». So würden sich Kinder die richtige Schreibweise einprägen, ohne dass die Lehrer den Rotstift ansetzen müssten. 

Doch das Problem liegt laut Zemp tiefer. «Jugendliche lesen heute weniger Bücher als früher», sagt er. Stattdessen würden sie sich SMS-, Whatsapp- oder Twitter-Nachrichten schreiben. Rechtschreibung und vollständige Sätze sind da zweitrangig. «Darunter leiden die Lese- und Schreibleistung», sagt Zemp. Deshalb sei es auch Aufgabe der Schulen und Eltern, den Kindern wieder die Freude am Lesen zu vermitteln.

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