Es herrscht Notstand. Die Qualität der Volksschule ist in Gefahr, wenn
wir so weitermachen», sagt Marion Heidelberger. Notstand in der Schule?
Heidelberger ist keine Schwarzmalerin. Sie kennt sich aus. Bis letztes Jahr war
die 50-Jährige Präsidentin der Sonderpädagogischen Kommission beim Schweizer
Lehrerverband LCH. Jahrelang war sie als Förderlehrkraft in Kloten tätig, zog
von Klasse zu Klasse und unterstützte stundenweise einzelne Kinder. «Es war
damals schon schwierig. Aber da war ich noch zuversichtlich, dass wir es schon
hinkriegen.»
"Die Qualität der Volksschule ist in Gefahr", Beobachter, 11.10. von Birthe Homann und Conny Schmid
Heute unterrichtet Heidelberger als Klassenlehrerin an einer 1./2.
Klasse im Zürcher Unterland und sagt ernüchtert: «Die Situation hat sich
verschlechtert. Alle geben ihr Bestes, aber es reicht nicht. Bei der enormen
Verschiedenartigkeit kann man in einer normalgrossen Klasse mit 24 Kindern
schlicht nicht mehr allen gerecht werden.»
Ähnlich sieht das Julia Santschi. Die 58-Jährige arbeitet seit rund 25 Jahren als schulische Heilpädagogin im Kanton Solothurn. «Ich habe so viel Berufserfahrung, dass ich eigentlich glaubte, alles im Griff zu haben. Doch auch ich komme immer wieder an meine Grenzen.» Wenn eine ganze Klasse die Hausaufgaben nicht mache oder Kinder während des Unterrichts einfach aus dem Zimmer liefen, werde es auch für sie schwierig.
Ähnlich sieht das Julia Santschi. Die 58-Jährige arbeitet seit rund 25 Jahren als schulische Heilpädagogin im Kanton Solothurn. «Ich habe so viel Berufserfahrung, dass ich eigentlich glaubte, alles im Griff zu haben. Doch auch ich komme immer wieder an meine Grenzen.» Wenn eine ganze Klasse die Hausaufgaben nicht mache oder Kinder während des Unterrichts einfach aus dem Zimmer liefen, werde es auch für sie schwierig.
«Positiv ist, dass man heute im Lehrerzimmer nicht mehr grundsätzlich
über die Integration diskutieren muss. Sie ist selbstverständlich geworden»,
sagt Julia Santschi. Die Begeisterung der Lehrpersonen schwanke allerdings
stark. Wenn es grosse Probleme gebe, wünschten sich alle wieder die
Kleinklassen zurück. «Dann rufen sie: ‹Julia, warum schaust du denn nicht, mach
doch was!› Die Integration wurde von Bildungsstrategen verordnet, und wir
Heilpädagogen sollen es nun richten.»
Die schulische Integration an der Volksschule gilt seit 2008. Möglichst
alle Kinder sollen gemeinsam in Regelklassen unterrichtet werden und nicht
einzelne separiert in Sonderschulen oder Sonderklassen. Das individuelle
Fördern einzelner Kinder in der Klasse braucht viele Ressourcen. Zehn Jahre
sind eine lange Zeit, doch offenbar ist die schulische Integration noch immer
eine riesige Baustelle.
«Grossartige Arbeit der
Lehrpersonen»
Nicht ganz so negativ sieht es Andrea Lanfranchi, Professor an der
Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HfH): «Die Integrationsleistungen
der Schule in allen Kantonen der Schweiz sind beachtlich. Und die Lehrpersonen
leisten insgesamt eine grossartige Arbeit zugunsten der Gesellschaft.» Die
Volksschule sei nur als integrative Schule denkbar – wie sonst könne es
gelingen, Kinder und Jugendliche
ausserhalb der «Norm» in die Gemeinschaft einzugliedern? «Es
gibt noch viel zu tun, wir sind aber auf dem richtigen Weg», sagt Lanfranchi,
Leiter des Instituts für Professionalisierung und Systementwicklung an der HfH.
Man könne nicht ein komplett neues System von heute auf morgen einführen und
denken, es funktioniere dann alles perfekt.
Der Erfolg der Integration wird wissenschaftlich erforscht. Die Befunde
sind durchwegs positiv: Kinder mit besonderen Bedürfnissen profitieren deutlich
von integrativer Förderung, und zwar ohne Auswirkungen auf die
leistungsstärkeren Mitschüler. Zudem können integrativ geschulte Erwachsene
besser lesen und schreiben als solche, die in Sonderklassen waren. Und sie sind
erfolgreicher in der Berufsbildung und finden eher eine
Arbeitsstelle.
Die Praxis sieht anders aus
Zwischen Forschung und Schulalltag klafft also eine ziemliche Lücke. Die
Integration von Kindern mit Lern- oder
Verhaltensschwierigkeiten ist eine der grössten Sorgen an hiesigen
Schulen. Das zeigt auch eine aktuelle Umfrage des nationalen
Schulleiterverbands. Bei der Frage, was sie am meisten beschäftige, gaben 57
Prozent die integrative Förderung an. Sie ist damit Problem Nummer zwei hinter
der Umsetzung des Lehrplans 21, die 66 Prozent nannten.
Gerade die Schulleiter sind aber zentral, wenn es um die Umsetzung im
Alltag geht. «Es ist enorm wichtig, dass sie den Lehrkräften und
Heilpädagoginnen genügend Spielraum lassen, sich mit den beschränkten
Ressourcen flexibel zu organisieren», sagt Primarlehrerin Marion Heidelberger.
Die Situation in einer Klasse könne sich sehr rasch ändern. «Es braucht nur ein
Kind, das alle anderen stört. Und schon sind neue Lösungen nötig, muss man sich
anders aufteilen.» Das erfordere grosse Flexibilität und Belastbarkeit bei
allen.
«Die Qualität der Volksschule
ist in Gefahr»
Heilpädagogin Julia Santschi sagt, dass viele Probleme im
zwischenmenschlichen Bereich liegen: «Lehrperson und Heilpädagogin müssen
einander auf Augenhöhe begegnen und die Rollen geklärt haben, damit
Zusammenarbeit gelingen kann.»
Ob die Integration glückt, ist also letztlich stark von den beteiligten
Personen abhängig. «An der einen Schule klappt es gut, an der anderen, nur ein
paar hundert Meter entfernt, nicht. Als
Kind oder als Mutter oder Vater kann man dann einfach Glück oder Pech haben»,
sagt Marion Heidelberger. Wie es unter Umständen herauskommt, wenn man Pech
hat, zeigt das Beispiel einer Familie aus dem Kanton Aargau.
Es mangelt an Heilpädagogen
Eine wichtige Rolle spielt auch die Gesamtorganisation der Schule.
Vielerorts werden die Heilpädagogik-Stunden nach dem Giesskannenprinzip
verteilt. So erhält jede Klasse zwei bis drei Stunden Unterstützung pro Woche.
«Unklug», findet Heilpädagogik-Professor Andrea Lanfranchi: «Wir müssen das
System neu denken. Weg von Zusatzstunden für einzelne Schüler, hin zu
Unterstützungsmassnahmen für ganze Klassen oder ganze Schulen.»
In der Klasse von Julia Santschi läuft es bereits so. Sie ist in zwei
Oberstufenklassen während je etwa der Hälfte der Unterrichtszeit gemeinsam mit
der Klassenlehrperson anwesend. Beide betreuen zusammen alle Jugendlichen. «Die
wissen meist gar nicht, wer wie viel Förderbedarf hat. Für sie bin ich einfach
Frau Santschi, die zweite Lehrerin.» Möglich wurde diese Konstellation jedoch
nur durch eine erzwungene Umorganisation der Schule. Weil es zu wenig Kinder
gab, musste man eine Klasse schliessen. Vorher war auch Santschi in vier
verschiedenen Klassen unterwegs und dadurch deutlich weniger präsent.
«Ich glaubte, alles im Griff zu
haben»
Doch selbst wenn es an einer Schule theoretisch genügend
Heilpädagogik-Stellen gibt, scheitern solche Lösungen oft. Denn es gibt auch
nach zehn Jahren immer noch viel zu wenig gut
ausgebildete Heilpädagogen. Bei der erwähnten Schulleiterumfrage
gaben 81 Prozent an, sie könnten offene Stellen in diesem Bereich kaum
besetzen, 19 Prozent davon sagten gar, es sei hoffnungslos. «Der Mangel an
Heilpädagogen ist in manchen Kantonen eine Tatsache, und es wird nötig sein,
dass man die kontingentierten Plätze an den Hochschulen erhöht», sagt Experte
Andrea Lanfranchi.
Manche Kantone haben die Ausbildungsgänge für schulische Heilpädagogen geöffnet. «Im Alltag bedeutet das aber oft keine Entlastung, im Gegenteil», sagt Heidelberger. Wenn Heilpädagogen das «Handwerk» nicht kennten, also kein Lehrdiplom für die betreffende Stufe hätten, werde es für alle Beteiligten unglaublich schwierig. «Wir müssen ihnen dann erst mal erklären, wie sie einem Drittklässler den Mathestoff vermitteln.»
Manche Kantone haben die Ausbildungsgänge für schulische Heilpädagogen geöffnet. «Im Alltag bedeutet das aber oft keine Entlastung, im Gegenteil», sagt Heidelberger. Wenn Heilpädagogen das «Handwerk» nicht kennten, also kein Lehrdiplom für die betreffende Stufe hätten, werde es für alle Beteiligten unglaublich schwierig. «Wir müssen ihnen dann erst mal erklären, wie sie einem Drittklässler den Mathestoff vermitteln.»
Schwierig für alle
Heidelberger wünscht sich eine Art «Superteacher»: Lehrpersonen, die vom
Unterrichten wie auch von der Sonderpädagogik etwas verstehen. Julia Santschi
träumt davon, dass jede Klasse zwei Vollzeit-Lehrpersonen erhält. Eine
Illusion, das ist ihr klar. Aber sie könne nicht verstehen, dass man es bisher
noch nicht einmal geschafft habe, vernünftige, der Integration angepasste
Lehrmittel bereitzustellen. «Wir müssen die ganzen Übungsmaterialien selber
erarbeiten.»
Marion Heidelberger geht es nicht anders. «Ich komme jeweils mit acht
verschiedenen Mäppli in den Unterricht, um den unterschiedlichen Niveaus zu
entsprechen.» Es sei überhaupt kein Wunder, dass viele Lehrpersonen aussteigen
oder im Burn-out landen:
«Wir rennen, tun und machen, aber wir können unter diesen Bedingungen die
eigenen Ansprüche schlicht nicht erfüllen.»
Unterrichten sei eigentlich nicht schwieriger geworden, sagt
Heilpädagogin Santschi. «Aber anders, komplexer – wie die ganze Welt.»
Integration sei Prozessarbeit und brauche Offenheit, Humor und Geduld von allen
Beteiligten. «Die Integration kann gelingen, wenn sich alle auf die neuen
Aufgaben einlassen.»
Geschätzt rund ein Viertel
aller Kinder beansprucht sonderpädagogische Massnahmen.
Für die Förderung der IS-
oder IF-Kinder sind in der Regel schulische Heilpädagogen zuständig. In Absprache
mit der Lehrperson erstellen sie individuelle Förderpläne. Oft sind
Heilpädagogen nur für einzelne Lektionen im Schulzimmer und kümmern sich um das
Kind. Es gibt aber auch Formen von Teamteaching, bei denen Lehrperson und
Heilpädagogin gemeinsam alle Kinder betreuen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen