15. Oktober 2018

Nach zehn Jahren ist die Integration noch immer eine Baustelle


Es herrscht Notstand. Die Qualität der Volksschule ist in Gefahr, wenn wir so weitermachen», sagt Marion Heidelberger. Notstand in der Schule? Heidelberger ist keine Schwarzmalerin. Sie kennt sich aus. Bis letztes Jahr war die 50-Jährige Präsidentin der Sonderpädagogischen Kommission beim Schweizer Lehrerverband LCH. Jahrelang war sie als Förderlehrkraft in Kloten tätig, zog von Klasse zu Klasse und unterstützte stundenweise einzelne Kinder. «Es war damals schon schwierig. Aber da war ich noch zuversichtlich, dass wir es schon hinkriegen.»
"Die Qualität der Volksschule ist in Gefahr", Beobachter, 11.10. von Birthe Homann und Conny Schmid


Heute unterrichtet Heidelberger als Klassenlehrerin an einer 1./2. Klasse im Zürcher Unterland und sagt ernüchtert: «Die Situation hat sich verschlechtert. Alle geben ihr Bestes, aber es reicht nicht. Bei der enormen Verschiedenartigkeit kann man in einer normalgrossen Klasse mit 24 Kindern schlicht nicht mehr allen gerecht werden.»

Ähnlich sieht das Julia Santschi. Die 58-Jährige arbeitet seit rund 25 Jahren als schulische Heilpädagogin im Kanton Solothurn. «Ich habe so viel Berufserfahrung, dass ich eigentlich glaubte, alles im Griff zu haben. Doch auch ich komme immer wieder an meine Grenzen.» Wenn eine ganze Klasse die Hausaufgaben nicht mache oder Kinder während des Unterrichts einfach aus dem Zimmer liefen, werde es auch für sie schwierig.

«Positiv ist, dass man heute im Lehrerzimmer nicht mehr grundsätzlich über die Integration diskutieren muss. Sie ist selbstverständlich geworden», sagt Julia Santschi. Die Begeisterung der Lehrpersonen schwanke allerdings stark. Wenn es grosse Probleme gebe, wünschten sich alle wieder die Kleinklassen zurück. «Dann rufen sie: ‹Julia, warum schaust du denn nicht, mach doch was!› Die Integration wurde von Bildungsstrategen verordnet, und wir Heilpädagogen sollen es nun richten.»

Die schulische Integration an der Volksschule gilt seit 2008. Möglichst alle Kinder sollen gemeinsam in Regelklassen unterrichtet werden und nicht einzelne separiert in Sonderschulen oder Sonderklassen. Das individuelle Fördern einzelner Kinder in der Klasse braucht viele Ressourcen. Zehn Jahre sind eine lange Zeit, doch offenbar ist die schulische Integration noch immer eine riesige Baustelle.

«Grossartige Arbeit der Lehrpersonen»
Nicht ganz so negativ sieht es Andrea Lanfranchi, Professor an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HfH): «Die Integrationsleistungen der Schule in allen Kantonen der Schweiz sind beachtlich. Und die Lehrpersonen leisten insgesamt eine grossartige Arbeit zugunsten der Gesellschaft.» Die Volksschule sei nur als integrative Schule denkbar – wie sonst könne es gelingen, Kinder und Jugendliche ausserhalb der «Norm» in die Gemeinschaft einzugliedern? «Es gibt noch viel zu tun, wir sind aber auf dem richtigen Weg», sagt Lanfranchi, Leiter des Instituts für Professionalisierung und Systementwicklung an der HfH. Man könne nicht ein komplett neues System von heute auf morgen einführen und denken, es funktioniere dann alles perfekt.

Der Erfolg der Integration wird wissenschaftlich erforscht. Die Befunde sind durchwegs positiv: Kinder mit besonderen Bedürfnissen profitieren deutlich von integrativer Förderung, und zwar ohne Auswirkungen auf die leistungsstärkeren Mitschüler. Zudem können integrativ geschulte Erwachsene besser lesen und schreiben als solche, die in Sonderklassen waren. Und sie sind erfolgreicher in der Berufsbildung und finden eher eine Arbeitsstelle.

Die Praxis sieht anders aus
Zwischen Forschung und Schulalltag klafft also eine ziemliche Lücke. Die Integration von Kindern mit Lern- oder Verhaltensschwierigkeiten ist eine der grössten Sorgen an hiesigen Schulen. Das zeigt auch eine aktuelle Umfrage des nationalen Schulleiterverbands. Bei der Frage, was sie am meisten beschäftige, gaben 57 Prozent die integrative Förderung an. Sie ist damit Problem Nummer zwei hinter der Umsetzung des Lehrplans 21, die 66 Prozent nannten.

Gerade die Schulleiter sind aber zentral, wenn es um die Umsetzung im Alltag geht. «Es ist enorm wichtig, dass sie den Lehrkräften und Heilpädagoginnen genügend Spielraum lassen, sich mit den beschränkten Ressourcen flexibel zu organisieren», sagt Primarlehrerin Marion Heidelberger. Die Situation in einer Klasse könne sich sehr rasch ändern. «Es braucht nur ein Kind, das alle anderen stört. Und schon sind neue Lösungen nötig, muss man sich anders aufteilen.» Das erfordere grosse Flexibilität und Belastbarkeit bei allen.

«Die Qualität der Volksschule ist in Gefahr»
Heilpädagogin Julia Santschi sagt, dass viele Probleme im zwischenmenschlichen Bereich liegen: «Lehrperson und Heilpädagogin müssen einander auf Augenhöhe begegnen und die Rollen geklärt haben, damit Zusammenarbeit gelingen kann.»

Ob die Integration glückt, ist also letztlich stark von den beteiligten Personen abhängig. «An der einen Schule klappt es gut, an der anderen, nur ein paar hundert Meter entfernt, nicht. Als Kind oder als Mutter oder Vater kann man dann einfach Glück oder Pech haben», sagt Marion Heidelberger. Wie es unter Umständen herauskommt, wenn man Pech hat, zeigt das Beispiel einer Familie aus dem Kanton Aargau.

Es mangelt an Heilpädagogen
Eine wichtige Rolle spielt auch die Gesamtorganisation der Schule. Vielerorts werden die Heilpädagogik-Stunden nach dem Giesskannenprinzip verteilt. So erhält jede Klasse zwei bis drei Stunden Unterstützung pro Woche. «Unklug», findet Heilpädagogik-Professor Andrea Lanfranchi: «Wir müssen das System neu denken. Weg von Zusatzstunden für einzelne Schüler, hin zu Unterstützungsmassnahmen für ganze Klassen oder ganze Schulen.»

In der Klasse von Julia Santschi läuft es bereits so. Sie ist in zwei Oberstufenklassen während je etwa der Hälfte der Unterrichtszeit gemeinsam mit der Klassenlehrperson anwesend. Beide betreuen zusammen alle Jugendlichen. «Die wissen meist gar nicht, wer wie viel Förderbedarf hat. Für sie bin ich einfach Frau Santschi, die zweite Lehrerin.» Möglich wurde diese Konstellation jedoch nur durch eine erzwungene Umorganisation der Schule. Weil es zu wenig Kinder gab, musste man eine Klasse schliessen. Vorher war auch Santschi in vier verschiedenen Klassen unterwegs und dadurch deutlich weniger präsent.

«Ich glaubte, alles im Griff zu haben»
Doch selbst wenn es an einer Schule theoretisch genügend Heilpädagogik-Stellen gibt, scheitern solche Lösungen oft. Denn es gibt auch nach zehn Jahren immer noch viel zu wenig gut ausgebildete Heilpädagogen. Bei der erwähnten Schulleiterumfrage gaben 81 Prozent an, sie könnten offene Stellen in diesem Bereich kaum besetzen, 19 Prozent davon sagten gar, es sei hoffnungslos. «Der Mangel an Heilpädagogen ist in manchen Kantonen eine Tatsache, und es wird nötig sein, dass man die kontingentierten Plätze an den Hochschulen erhöht», sagt Experte Andrea Lanfranchi.

Manche Kantone haben die Ausbildungsgänge für schulische Heilpädagogen geöffnet. «Im Alltag bedeutet das aber oft keine Entlastung, im Gegenteil», sagt Heidelberger. Wenn Heilpädagogen das «Handwerk» nicht kennten, also kein Lehrdiplom für die betreffende Stufe hätten, werde es für alle Beteiligten unglaublich schwierig. «Wir müssen ihnen dann erst mal erklären, wie sie einem Drittklässler den Mathestoff vermitteln.»

Schwierig für alle
Heidelberger wünscht sich eine Art «Superteacher»: Lehrpersonen, die vom Unterrichten wie auch von der Sonderpädagogik etwas verstehen. Julia Santschi träumt davon, dass jede Klasse zwei Vollzeit-Lehrpersonen erhält. Eine Illusion, das ist ihr klar. Aber sie könne nicht verstehen, dass man es bisher noch nicht einmal geschafft habe, vernünftige, der Integration angepasste Lehrmittel bereitzustellen. «Wir müssen die ganzen Übungsmaterialien selber erarbeiten.»

Marion Heidelberger geht es nicht anders. «Ich komme jeweils mit acht verschiedenen Mäppli in den Unterricht, um den unterschiedlichen Niveaus zu entsprechen.» Es sei überhaupt kein Wunder, dass viele Lehrpersonen aussteigen oder im Burn-out landen: «Wir rennen, tun und machen, aber wir können unter diesen Bedingungen die eigenen Ansprüche schlicht nicht erfüllen.»

Unterrichten sei eigentlich nicht schwieriger geworden, sagt Heilpädagogin Santschi. «Aber anders, komplexer – wie die ganze Welt.» Integration sei Prozessarbeit und brauche Offenheit, Humor und Geduld von allen Beteiligten. «Die Integration kann gelingen, wenn sich alle auf die neuen Aufgaben einlassen.» 

Geschätzt rund ein Viertel aller Kinder beansprucht sonderpädagogische Massnahmen.
Für die Förderung der IS- oder IF-Kinder sind in der Regel schulische Heilpädagogen zuständig. In Absprache mit der Lehrperson erstellen sie individuelle Förderpläne. Oft sind Heilpädagogen nur für einzelne Lektionen im Schulzimmer und kümmern sich um das Kind. Es gibt aber auch Formen von Teamteaching, bei denen Lehrperson und Heilpädagogin gemeinsam alle Kinder betreuen. 

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