Eine etwas befremdliche
Debatte hat in den letzten Wochen unser Land überzogen. Losgetreten hat sie
Ende August die «NZZ» mit dem Alarmruf «Links-grüne Ideologien unterwandern die
Schule». Auf der Anklagebank: das Geschichtslehrbuch «Gesellschaften im Wandel»
für die Sekundarstufe I, erschienen 2017 im Zürcher Lehrmittelverlag, bereits
in mehreren Kantonen im Einsatz oder bestellt.
Umstrittenes Lehrmittel "Gesellschaften im Wandel": Woher weht der "Zeitgeist"? Basellandschaftliche Zeitung, 4.10. von Hans Fahrländer
Als bildungspolitisch
interessierter Mensch und als Grossvater eines künftigen Volksschülers war ich
natürlich gleich mit-alarmiert. Schliesslich war ich im Geschichtsunterricht
vor über 50 Jahren selber Opfer ideologisch gefärbter Lehrmittel – damals
allerdings nicht in links-grüner Tarnfarbe, sondern triefend von Schweizer
Heldenverehrung und geistiger Landesverteidigung. Ich habe mich also in das
inkriminierte Werk etwas eingelesen. Und habe mich ziemlich gewundert.
Gezielte Suche nach Linkem
Zwar stiess ich tatsächlich
auf ein paar Stellen, bei welchen das Autorenteam die von Historikern und Geschichtsdidaktikern
einzuhaltende Neutralität der Betrachtungsweise ritzt. So spürt man etwa ihre
Sympathie für Menschenrechtsorganisationen und Hilfswerke. Oder ihre Antipathie
gegen die Lohnungleichheit von Mann und Frau. Ja, wer solche Stellen sucht, der
findet sie.
Aber bitte: «Gesellschaften im
Wandel» ist ein Füllhorn von Informationen, es behandelt Hunderte von Jahren,
besteht aus Hunderten von Seiten und Sites, aus zwei gedruckten Bänden, einer
Webplattform, einer Quellensammlung, einem Lehrer-Handbuch. Wer einem solch
neuen Lehrmittel gerecht werden will, muss eigentlich alles lesen (das habe ich
auch nicht geschafft). Wer darin gezielt ideologische Verzerrungen zur Anklage
bringt, trägt vermutlich selber eine ideologisch gefärbte Brille, einfach eine der
anderen Art.
Gewundert habe ich mich
zunächst über die «NZZ». Sie, die für sich in Anspruch nimmt, die
intellektuelle Debatte in diesem Land anzuführen und in ihrer Gänze
auszuleuchten, gefällt sich hier in der Rolle des Linken-Jägers und wird dem
Lehrmittel als Ganzem nicht im Entferntesten gerecht.
Erwartet hätte man eher eine
Auseinandersetzung mit der neuen multimedialen Machart, mit der neuen Didaktik.
Ist es gelungen, ein Lehrmittel zu kreieren, das sich für alle Oberstufenzüge
eignet? Ist die Stoffauswahl für einen zeitlich dezimierten
Geschichtsunterricht geglückt? Aber nein. Stattdessen gezielte Suche nach
«links-grüner Unterwanderung».
Gewundert habe ich mich
sodann, wie viele vorab rechtsbürgerliche Politiker aufgrund des «NZZ»-Artikels
sofort gewusst haben: Hier geschieht Haarsträubendes! Unbeleckt von Inhalten
und Detail-Kenntnissen riefen sie: «Wir haben es ja immer gewusst!» Ein
bisschen mehr intellektuelle Redlichkeit würde nicht nur der NZZ, sondern auch
der öffentlichen Debatte über ein neues Lehrmittel wahrlich guttun.
Der allseits bemühte Zeitgeist
Interessanterweise stiess ich
beim Aufarbeiten der Debatte und der Leserkommentare zweimal auf den
Allzweck-Begriff «Zeitgeist», einmal im positiven und einmal im negativen Sinn.
Ein Lehrer aus dem Umfeld der Autoren meinte: «Ja, ein neues Geschichtslehrbuch
muss den Zeitgeist aufnehmen, schliesslich heisst es ’Gesellschaften im
Wandel’. Wir sind keine geschlossene Gesellschaft mehr, sondern eine offene,
pluralistische, zur Solidarität verpflichtete».
Die andere Reaktion kam von
einem rechtsbürgerlichen Politiker: «So kommt es heraus, wenn man einseitig dem
links-grünen Zeitgeist frönt. Mir scheint, die ganze Lehrerschaft ist heute
diesem Gutmenschen-Geist der offenen Grenzen und der Gleichmacherei verfallen.»
Mir scheint indes, der
Zeitgeist wehe heute aus einer anderen Richtung. Die Zeit, welche Kommunismus
und Faschismus überwand, welche Grenzen öffnete und Handelshemmnisse
beseitigte, welche Diskriminierungen aller Art bekämpfte und eine weltweite
Anerkennung der Menschenrechte postulierte – diese Zeit scheint heute ziemlich
von gestern.
Auf dem Vormarsch befinden
sich: Wiederbelebung von Nationalismus und Protektionismus, Wiedereinführung
von Mauern und Grenzzäunen, Beschneidung von demokratischen Rechten (auch in
Europa), Betonung der Rechte des Stärkeren. So gesehen, liegt «Gesellschaften
im Wandel» – zumindest jener Teil, welcher die Gegenwart beleuchtet –
tatsächlich nicht ganz im Zeitgeist.
Die Schlacht um den angeblich
gesellschaftszersetzenden Lehrplan 21 scheint überwunden. Nun verlegt sich der
Kampfplatz auf die Lehrmittel.
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