19. Oktober 2018

Idealisierung des Werkens


In der Primarschule wird seit diesem Sommer «Medien und Informatik» unterrichtet – in Lektionen, die vormals für musische Fächer reserviert waren. Wir beobachten die Entwicklung mit gemischten Gefühlen: Mal lassen wir uns begeistern, dann wieder sehen wir in der Informatik ein notwendiges Übel, das wir am liebsten delegieren würden an die Interessierten. Gründe für Computer im Unterricht gibt es wahrlich genug. Wir leben nun mal in modernen Zeiten. Trotzdem bleibt auf einer diffusen, emotionalen Ebene ein Unbehagen. Woher kommt es?
Ist Informatik das neue Basteln? Tages Anzeiger, Mamablog, 18.10. von Andreas Pfister


Digitalisierung entfacht in uns einen Kulturkampf. Wir möchten gern zu den Coolen gehören. Wir wären gern modern und technikaffin. Doch es gibt auch jene Instanz in uns, die sich partout nicht beschwatzen lässt. Informatik als das neue Basteln? Wir sind doch nicht naiv! So ertappen wir uns, wie wir Informatik beargwöhnen als Symptom. Wohlfeile Wendungen bieten sich an: Schule im Dienste der Wirtschaft. Zulieferdienst von Humankapital. Es sind Phrasen, gewiss, aber trotzdem.

Romantisch verklärt
Manchmal spüren wir einen fast körperlichen Widerwillen: gegen die Ästhetik der Software, gegen Knöpfe und Kabel, gegen die reglosen Körper am Bildschirm, gegen die platte Legitimierung durch Nützlichkeit. Gegen all das Überwinden und Motivieren.

Stattdessen erklären wir das Zeichnen und Malen zum Ursprünglichen. Wir schwärmen von Farbstiften und Ton, vom Kneten und Wühlen, vom Laubsägen. Dabei haben wir das nie richtig hingekriegt. Und recht besehen war auch der Sandkasten ein Screen.

Eigentlich wissen wir es: Das Humanistische steckt nicht nur im Musischen. Die Idealisierung des Strickens und Hämmerns als besonders menschliche Tätigkeiten ist vor allem eines: romantische Verklärung. Die Reformpädagogik hat ganze Weltanschauungen daraus gemacht. Handarbeit war kein Selbstzweck und schon gar keine Gegenwelt, sondern ein Abbild der damaligen Industrialisierung. Die Kinder sollten vorbereitet werden auf die Arbeitswelt: die Mädchen mit Kochen, die Buben mit Werken. Auch das Turnen hatte als Vorbereitung aufs Militär eine klare Funktion.

Im Maschinenraum der Gegenwart
Vielleicht hilft uns die Erinnerung an diese Zweckgebundenheit des Musischen, Informatik pragmatischer anzugehen. Sie historisch einzuordnen und zu reflektieren. Sie zu würdigen als Maschinenraum der Gegenwart. Dort ist es nicht nur schön, dort ist es anstrengend. Dort fliegen Späne, und man macht sich die Finger schmutzig, sozusagen. Dort begegnen wir dem eigenen Unvermögen.

So sind wir hin- und hergerissen. Und stellen fest: Digitalisierung fungiert vor allem als Projektionsfläche. Auf sie projizieren wir unsere Bildungsideale und Lebensentwürfe. Sie kann befreien von Entfremdung und Monotonie, von Fliessband und Stumpfsinn. Und sie kann genau in diesen Stumpfsinn hineinführen. Digitalisierung ist ein grosses Versprechen, doch die Einlösung ist keine Selbstverständlichkeit. Sie wird erarbeitet im Schulalltag – in der Schule 4.0.

Andreas Pfister ist Kantonsschullehrer und Bildungsjournalist. Er wohnt mit seiner Familie in Zürich.


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