Unsere
Primarschule im Kanton Zürich, an der ich als Fachlehrer und Förderlehrer
unterrichte, besteht aus über 20 Klassen. Die meisten unserer Schüler sind
Ausländer. Derart viele von ihnen benötigen Stütz- und Fördermassnahmen, dass
Dutzende von Heilpädagogen und Förderlehrern nötig sind, um sie zusätzlich zum
regulären Unterricht einzeln, zu zweit oder in kleinen Gruppen zu unterrichten.
Insgesamt sind wir beinahe 50 Lehrpersonen.
Raumnot in «Multikulti-Schule» Unsere Platzverhältnisse sind prekär. So
kann es vorkommen, dass ich morgens mit meiner Halbklasse in mein zugewiesenes
Zimmer für den Französischunterricht gehen will und zu hören bekomme: «Du hast
heute kein Zimmer!» Das Zimmer wird für einen anderen Zweck benötigt. Das ist
an unserer Schule halt manchmal so. Man arrangiert sich. Wenn man kein Zimmer
hat, wird improvisiert.
So
landete ich schliesslich nach einer halben Stunde des «Zimmer-Abklapperns» in
einem Baupavillon, der auf dem Pausenplatz steht. Ich hatte Glück, denn die
Lehrerin, die normalerweise hier arbeitet, war krank. Sonst hätte ich meinen
Unterricht womöglich in einer Turngarderobe oder in der Besenkammer abhalten
müssen. Als Fach- und Förderlehrer ist man ständig mit Material bepackt
unterwegs.
Seit kurzem haben wir unseren Neubau bezogen, der bisherige Trakt
wird umgebaut. Trotzdem besteht das Platzproblem unvermindert weiter. Wozu ein Glaspalast? Unser Neubau ist ein
wahrer Glaspalast – topmodern gestylt mit Glaswänden bis zum Boden. Sogar Türen
und Wände sind aus Glas. Der Pausenplatz wirkt steril. Einen Spielplatz gibt es
nicht, nur ein paar seltsam geformte Kletterobjekte aus Kunststoff. Im Innern
des Gebäudes befindet sich auf jeder der drei Etagen eine lichtdurchflutete
«Lernlandschaft», galerieartig um einen imposanten Innenhof angeordnet. Von jeder
dieser «Lernlandschaften» kann man die ganze Höhe des Gebäudes von oben bis
unten überblicken; durch die Glaswände und Glastüren sieht man in alle
Schulzimmer und Gruppenräume hinein. Es gibt kaum einen Winkel in diesem
Schulhaus, den man nicht einsehen kann. Man fühlt sich ausgestellt wie im Zoo.
Die «Lernlandschaften» erinnern eher an eine Cafeteria als an eine Schule. Es
stehen darin kleine Tische mit Stühlen sowie flache Möbel zum Versorgen der
Schuhe, auf denen die Schüler herumsitzen und teilweise auch liegen. Die Schulzimmer mit angrenzenden
Gruppenräumen sind um die «Lernlandschaften» herum angeordnet. Doch da eine
klare räumliche Trennung zwischen den Gruppenräume und Schulzimmern fehlt, ist
es praktisch unmöglich, mit einer Gruppe im Gruppenbereich zu arbeiten, während
der Lehrer die Klasse unterrichtet. Deshalb muss man häufig in den Werkraum, in
die Lehrerbibliothek, ins Lehrerzimmer oder – bei gutem Wetter – sogar ins
Freie ausweichen. Oder aber in eine der «Lernlandschaften». Von dort sieht man
wie erwähnt in alle Schulzimmer und Gruppenräume hinein und ist ständig
abgelenkt. Für zusätzliche Ablenkung sorgen vorbeigehende Schüler,
Reinigungspersonal mit Putzmaschinen und eine ständige Geräuschkulisse. Für Kinder,
die ohnehin Mühe mit der Konzentration haben, sind solche Lernbedingungen
katastrophal. Deshalb sehne ich mich nach einem eigenen Zimmer, wo die Schüler
konzentriert arbeiten könnten.
Nichts funktioniert Seit dem Bezug unseres Neubaus folgt eine
unliebsame Überraschung der anderen. An einem bestimmten Tag sollte die
Einführung in die elektronischen Wandtafeln stattfinden. Doch es stellte sich
heraus, dass diese Tafeln noch gar nicht angeschlossen waren. Dies wurde uns in
der grossen Pause mitgeteilt; die Instruktion fiel aus. Vieles andere
funktioniert ebenfalls nicht: Türen klemmen, Wasser fliesst wegen falsch
montierter Abflussrohre nicht ab, Steckdosen haben Wackelkontakte, und die
riesigen Fenster sind teilweise schon defekt. Einzelne Fenster lassen sich seit
Wochen nicht mehr schliessen.
Lehrer
halten zusammen
Trotz all diesen widrigen Umständen ist die Stimmung in unserem
Lehrerteam gut, denn wir halten zusammen. Wir alle wissen, wie schwierig die
Situation in unserer «Multikulti-Schule» ist! Täglich geben wir unser Bestes
und sind für die Kinder da. Improvisieren ist für uns schon fast normal. Und
genau dieser Umstand hat unser Lehrerteam in den vergangenen Jahren extrem
zusammengeschweisst. Jeder hilft jedem. Man wechselt bei jeder Gelegenheit ein
Wort oder führt sogar tiefgründige Gespräche. Die neue junge Schulleiterin ist
tüchtig. Sie nimmt uns alle ernst. Sogar die Equipe, die unser Schulhaus sauber
hält, steht hinter uns. Wir alle motivieren uns gegenseitig!
Die Evaluatoren kommen
Wie alle Volkschulen
im Kanton Zürich werden wir alle vier Jahre «evaluiert». Dieses Jahr waren wir
wieder dran. Die Schulevaluation fand kurz nach den Sommerferien statt. Drei
Tage lang wurden ausgewählte Klassen besucht, ausgewählte Schüler und
Lehrkräfte befragt – besonders ausführlich die Schulleitung. Auch die Gebäude
mit Umschwung wurden genau begutachtet. Einige Kollegen, die besucht werden
sollten, waren im Vorfeld ziemlich nervös. Sie waren kurz angebunden und hatten
kaum Zeit, weil sie es möglichst gut machen wollten. Von Anfang an schwärmten
die fünf Evaluatoren (vier Frauen und ein Mann) wie ein Mückenschwarm aus. Eine
Evaluatorin sprach mich während der grossen Pause auf dem Pausenplatz an und
fragte mich, ob der Spielkasten mit den Bällen und Springseilen denn nicht
offen sei. Ich gab Auskunft. Bei einem 70 Zentimeter hohen Mäuerchen an einer
kaum frequentierten Stelle des Pausenplatzes meinte sie, dieses Mäuerchen sei
für die Schüler doch ziemlich gefährlich. Unwillkürlich musste ich an die
«Helikopter-Eltern» denken, die ihre Kinder ständig überwachen und in allem und
jedem eine Gefahr sehen. Sogar die Schulleitung ist empört Ich wurde dieses
Jahr nicht besucht, doch sprach ich mit mehreren Kollegen, die besucht wurden.
Fast ausnahmslos tönte es gleich, man hatte grosse Mühe mit dem Besuch aus
Zürich.
Ein Sonderpädagoge sprach in der Pause
im Lehrerzimmer laut und deutlich mit der Schulleiterin und sagte: «Du kannst dir gar nicht vorstellen, was
gestern abging. Als die Evaluatorinnen sahen, dass ich einen eigenen Raum habe,
gab es schon den ersten Rüffel. Sie wollten nämlich unbedingt ‹integrative
Förderung› sehen! Ich erklärte ihnen, dass wir die Kinder teilweise aus den
Klassen nehmen, weil wir sie so besser fördern können. Doch das interessierte
sie nicht. Sie hörten kaum zu. Stattdessen stürzten sie sich wie die Geier auf
die Schülerberichte und Schülerarbeiten, die ich aufgelegt hatte. Während der
ganzen Lektion schrieben sie wie besessen ab und achteten überhaupt nicht auf
meinem Unterricht. Als wir am Schluss ein Spiel machten, lud ich sie ein
mitzuspielen. Doch sie lehnten dankend ab und verabschiedeten sich kühl. Eine
solche Evaluation muss ich nicht mehr haben!»
Verriss vorprogrammiert
Ganz offensichtlich hatten die Evaluatoren nur
den Auftrag, zu kontrollieren, ob wir in ihren Raster passen. Doch um
festzustellen, dass unsere Schule ihre Vorgaben NIE erfüllen kann, hätten sie
uns nicht besuchen müssen. Objektiv war diese Schulbeurteilung von Anfang an
nicht. So ist es völlig abwegig, unsere Schule mit einer Schule am Zürichberg
zu vergleichen. Das kann und sollte man nicht! Wir wissen selbst am besten, wie
schwierig die Situation in unserer Gemeinde ist! Was nützt uns ein schlechter
Bericht? Werden wir besser und motivierter, wenn darin steht, was wir alles
FALSCH machen? Die Probleme bleiben ja dieselben. Unsere Schulevaluation wird mit Sicherheit
schlecht ausfallen! Das erwartet sogar die Schulleitung. Auch sie war
konsterniert. Während zweier Stunden sei sie einem regelrechten «Kreuzverhör»
ausgesetzt gewesen, bei dem die Evaluatorinnen praktisch ausnahmslos
aufzählten, was alles schlecht sei! Als erstes wurde die Schulleiterin mit dem
Vorwurf konfrontiert, die Sonderpädagogen seien unfähig, weil sie ihre
Schülerbeobachtungen nicht gemäss einem vorgegebenen Protokoll festhalten
würden. Dann musste sie namentlich angeben, welche Förderlehrer keine
sonderpädagogische Ausbildung haben. Als ob ein Primarlehrer einem Kind den
Zehnerübergang, das Stellenwertsystem oder das schriftliche Rechnen besser
erklären könnte, wenn er eine sonderpädagogische Zusatzausbildung absolviert
hat! Der Unterricht selbst interessierte niemanden. Weiter musste die
Schulleiterin darüber Auskunft erteilen, ob es Lehrer gäbe, die nahe an einem
Burnout stünden. Alles wurde zerrissen, was man überhaupt zerreissen kann. Das
einzig positive Feedback sei gewesen, so die Schulleiterin, dass die Lehrer am
Morgen allen persönlich die Hand gereicht hätten.
Lasst euch nicht alles gefallen!
Leider
machen allzu viele Lehrerinnen und Lehrer nur die Faust im Sack. Viele
schimpfen zwar über die untauglichen «Schulreformen», über unnötige
Weiterbildungen, den «Lehrplan 21», externe Schulevaluationen und so weiter,
doch wenige haben den Mut, auch gegen aussen zu ihrer Kritik zu stehen. Aber
genau das wäre nötig! Mit der Haltung, man könne sich ohnehin nicht wehren,
kommen wir keinen Schritt voran. Im Gegenteil nehmen dadurch die Unzufriedenheit und die Ängstlichkeit
noch zu. Wir dürfen uns doch unsere wunderbare Arbeit mit den Kindern von bildungsfernen
Bürokraten nicht vermiesen lassen, die uns lieber stundenlang am Computer
Schülerberichte schreiben sähen! Haben wir unseren Beruf gewählt, um täglich
unzählige überflüssige Mails zu beantworten, überflüssige Sitzungen zu
absolvieren, überflüssige Formulare auszufüllen und überflüssige
Weiterbildungen zu besuchen? Am Ende bleibt uns kaum noch Zeit für unsere
eigentliche Aufgabe, das Unterrichten, und für den menschlichen Kontakt mit den
Schülern. Ist dies die Rolle des Lehrers im Jahr 2018? Das kann doch nicht
sein! Aus meiner Sicht müssen wir Lehrerinnen und Lehrer zusammenstehen und
diese Zumutungen zurückweisen. Die Schüler und Eltern stehen auf unserer Seite!
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