16. Oktober 2018

Ein Primarlehrer berichtet (September 2018)


Unsere Primarschule im Kanton Zürich, an der ich als Fachlehrer und Förderlehrer unterrichte, besteht aus über 20 Klassen. Die meisten unserer Schüler sind Ausländer. Derart viele von ihnen benötigen Stütz- und Fördermassnahmen, dass Dutzende von Heilpädagogen und Förderlehrern nötig sind, um sie zusätzlich zum regulären Unterricht einzeln, zu zweit oder in kleinen Gruppen zu unterrichten. Insgesamt sind wir beinahe 50 Lehrpersonen.  Raumnot in «Multikulti-Schule» Unsere Platzverhältnisse sind prekär. So kann es vorkommen, dass ich morgens mit meiner Halbklasse in mein zugewiesenes Zimmer für den Französischunterricht gehen will und zu hören bekomme: «Du hast heute kein Zimmer!» Das Zimmer wird für einen anderen Zweck benötigt. Das ist an unserer Schule halt manchmal so. Man arrangiert sich. Wenn man kein Zimmer hat, wird improvisiert.
Ein Primarlehrer berichtet, 15.10. Der Name des Verfassers ist dem Blogbetreiber bekannt

So landete ich schliesslich nach einer halben Stunde des «Zimmer-Abklapperns» in einem Baupavillon, der auf dem Pausenplatz steht. Ich hatte Glück, denn die Lehrerin, die normalerweise hier arbeitet, war krank. Sonst hätte ich meinen Unterricht womöglich in einer Turngarderobe oder in der Besenkammer abhalten müssen. Als Fach- und Förderlehrer ist man ständig mit Material bepackt unterwegs. 

Seit kurzem haben wir unseren Neubau bezogen, der bisherige Trakt wird umgebaut. Trotzdem besteht das Platzproblem unvermindert weiter.  Wozu ein Glaspalast? Unser Neubau ist ein wahrer Glaspalast – topmodern gestylt mit Glaswänden bis zum Boden. Sogar Türen und Wände sind aus Glas. Der Pausenplatz wirkt steril. Einen Spielplatz gibt es nicht, nur ein paar seltsam geformte Kletterobjekte aus Kunststoff. Im Innern des Gebäudes befindet sich auf jeder der drei Etagen eine lichtdurchflutete «Lernlandschaft», galerieartig um einen imposanten Innenhof angeordnet. Von jeder dieser «Lernlandschaften» kann man die ganze Höhe des Gebäudes von oben bis unten überblicken; durch die Glaswände und Glastüren sieht man in alle Schulzimmer und Gruppenräume hinein. Es gibt kaum einen Winkel in diesem Schulhaus, den man nicht einsehen kann. Man fühlt sich ausgestellt wie im Zoo. Die «Lernlandschaften» erinnern eher an eine Cafeteria als an eine Schule. Es stehen darin kleine Tische mit Stühlen sowie flache Möbel zum Versorgen der Schuhe, auf denen die Schüler herumsitzen und teilweise auch liegen.  Die Schulzimmer mit angrenzenden Gruppenräumen sind um die «Lernlandschaften» herum angeordnet. Doch da eine klare räumliche Trennung zwischen den Gruppenräume und Schulzimmern fehlt, ist es praktisch unmöglich, mit einer Gruppe im Gruppenbereich zu arbeiten, während der Lehrer die Klasse unterrichtet. Deshalb muss man häufig in den Werkraum, in die Lehrerbibliothek, ins Lehrerzimmer oder – bei gutem Wetter – sogar ins Freie ausweichen. Oder aber in eine der «Lernlandschaften». Von dort sieht man wie erwähnt in alle Schulzimmer und Gruppenräume hinein und ist ständig abgelenkt. Für zusätzliche Ablenkung sorgen vorbeigehende Schüler, Reinigungspersonal mit Putzmaschinen und eine ständige Geräuschkulisse. Für Kinder, die ohnehin Mühe mit der Konzentration haben, sind solche Lernbedingungen katastrophal. Deshalb sehne ich mich nach einem eigenen Zimmer, wo die Schüler konzentriert arbeiten könnten. 

Nichts funktioniert  Seit dem Bezug unseres Neubaus folgt eine unliebsame Überraschung der anderen. An einem bestimmten Tag sollte die Einführung in die elektronischen Wandtafeln stattfinden. Doch es stellte sich heraus, dass diese Tafeln noch gar nicht angeschlossen waren. Dies wurde uns in der grossen Pause mitgeteilt; die Instruktion fiel aus. Vieles andere funktioniert ebenfalls nicht: Türen klemmen, Wasser fliesst wegen falsch montierter Abflussrohre nicht ab, Steckdosen haben Wackelkontakte, und die riesigen Fenster sind teilweise schon defekt. Einzelne Fenster lassen sich seit Wochen nicht mehr schliessen.  

Lehrer halten zusammen 
Trotz all diesen widrigen Umständen ist die Stimmung in unserem Lehrerteam gut, denn wir halten zusammen. Wir alle wissen, wie schwierig die Situation in unserer «Multikulti-Schule» ist! Täglich geben wir unser Bestes und sind für die Kinder da. Improvisieren ist für uns schon fast normal. Und genau dieser Umstand hat unser Lehrerteam in den vergangenen Jahren extrem zusammengeschweisst. Jeder hilft jedem. Man wechselt bei jeder Gelegenheit ein Wort oder führt sogar tiefgründige Gespräche. Die neue junge Schulleiterin ist tüchtig. Sie nimmt uns alle ernst. Sogar die Equipe, die unser Schulhaus sauber hält, steht hinter uns. Wir alle motivieren uns gegenseitig!  

Die Evaluatoren kommen 
Wie alle Volkschulen im Kanton Zürich werden wir alle vier Jahre «evaluiert». Dieses Jahr waren wir wieder dran. Die Schulevaluation fand kurz nach den Sommerferien statt. Drei Tage lang wurden ausgewählte Klassen besucht, ausgewählte Schüler und Lehrkräfte befragt – besonders ausführlich die Schulleitung. Auch die Gebäude mit Umschwung wurden genau begutachtet. Einige Kollegen, die besucht werden sollten, waren im Vorfeld ziemlich nervös. Sie waren kurz angebunden und hatten kaum Zeit, weil sie es möglichst gut machen wollten. Von Anfang an schwärmten die fünf Evaluatoren (vier Frauen und ein Mann) wie ein Mückenschwarm aus. Eine Evaluatorin sprach mich während der grossen Pause auf dem Pausenplatz an und fragte mich, ob der Spielkasten mit den Bällen und Springseilen denn nicht offen sei. Ich gab Auskunft. Bei einem 70 Zentimeter hohen Mäuerchen an einer kaum frequentierten Stelle des Pausenplatzes meinte sie, dieses Mäuerchen sei für die Schüler doch ziemlich gefährlich. Unwillkürlich musste ich an die «Helikopter-Eltern» denken, die ihre Kinder ständig überwachen und in allem und jedem eine Gefahr sehen. Sogar die Schulleitung ist empört Ich wurde dieses Jahr nicht besucht, doch sprach ich mit mehreren Kollegen, die besucht wurden. Fast ausnahmslos tönte es gleich, man hatte grosse Mühe mit dem Besuch aus Zürich.
           
Ein Sonderpädagoge sprach in der Pause im Lehrerzimmer laut und deutlich mit der Schulleiterin und sagte:  «Du kannst dir gar nicht vorstellen, was gestern abging. Als die Evaluatorinnen sahen, dass ich einen eigenen Raum habe, gab es schon den ersten Rüffel. Sie wollten nämlich unbedingt ‹integrative Förderung› sehen! Ich erklärte ihnen, dass wir die Kinder teilweise aus den Klassen nehmen, weil wir sie so besser fördern können. Doch das interessierte sie nicht. Sie hörten kaum zu. Stattdessen stürzten sie sich wie die Geier auf die Schülerberichte und Schülerarbeiten, die ich aufgelegt hatte. Während der ganzen Lektion schrieben sie wie besessen ab und achteten überhaupt nicht auf meinem Unterricht. Als wir am Schluss ein Spiel machten, lud ich sie ein mitzuspielen. Doch sie lehnten dankend ab und verabschiedeten sich kühl. Eine solche Evaluation muss ich nicht mehr haben!»   

Verriss vorprogrammiert 
Ganz offensichtlich hatten die Evaluatoren nur den Auftrag, zu kontrollieren, ob wir in ihren Raster passen. Doch um festzustellen, dass unsere Schule ihre Vorgaben NIE erfüllen kann, hätten sie uns nicht besuchen müssen. Objektiv war diese Schulbeurteilung von Anfang an nicht. So ist es völlig abwegig, unsere Schule mit einer Schule am Zürichberg zu vergleichen. Das kann und sollte man nicht! Wir wissen selbst am besten, wie schwierig die Situation in unserer Gemeinde ist! Was nützt uns ein schlechter Bericht? Werden wir besser und motivierter, wenn darin steht, was wir alles FALSCH machen? Die Probleme bleiben ja dieselben.  Unsere Schulevaluation wird mit Sicherheit schlecht ausfallen! Das erwartet sogar die Schulleitung. Auch sie war konsterniert. Während zweier Stunden sei sie einem regelrechten «Kreuzverhör» ausgesetzt gewesen, bei dem die Evaluatorinnen praktisch ausnahmslos aufzählten, was alles schlecht sei! Als erstes wurde die Schulleiterin mit dem Vorwurf konfrontiert, die Sonderpädagogen seien unfähig, weil sie ihre Schülerbeobachtungen nicht gemäss einem vorgegebenen Protokoll festhalten würden. Dann musste sie namentlich angeben, welche Förderlehrer keine sonderpädagogische Ausbildung haben. Als ob ein Primarlehrer einem Kind den Zehnerübergang, das Stellenwertsystem oder das schriftliche Rechnen besser erklären könnte, wenn er eine sonderpädagogische Zusatzausbildung absolviert hat! Der Unterricht selbst interessierte niemanden. Weiter musste die Schulleiterin darüber Auskunft erteilen, ob es Lehrer gäbe, die nahe an einem Burnout stünden. Alles wurde zerrissen, was man überhaupt zerreissen kann. Das einzig positive Feedback sei gewesen, so die Schulleiterin, dass die Lehrer am Morgen allen persönlich die Hand gereicht hätten.  

Lasst euch nicht alles gefallen! 
Leider machen allzu viele Lehrerinnen und Lehrer nur die Faust im Sack. Viele schimpfen zwar über die untauglichen «Schulreformen», über unnötige Weiterbildungen, den «Lehrplan 21», externe Schulevaluationen und so weiter, doch wenige haben den Mut, auch gegen aussen zu ihrer Kritik zu stehen. Aber genau das wäre nötig! Mit der Haltung, man könne sich ohnehin nicht wehren, kommen wir keinen Schritt voran. Im Gegenteil nehmen dadurch die Unzufriedenheit und die Ängstlichkeit noch zu. Wir dürfen uns doch unsere wunderbare Arbeit mit den Kindern von bildungsfernen Bürokraten nicht vermiesen lassen, die uns lieber stundenlang am Computer Schülerberichte schreiben sähen! Haben wir unseren Beruf gewählt, um täglich unzählige überflüssige Mails zu beantworten, überflüssige Sitzungen zu absolvieren, überflüssige Formulare auszufüllen und überflüssige Weiterbildungen zu besuchen? Am Ende bleibt uns kaum noch Zeit für unsere eigentliche Aufgabe, das Unterrichten, und für den menschlichen Kontakt mit den Schülern. Ist dies die Rolle des Lehrers im Jahr 2018? Das kann doch nicht sein! Aus meiner Sicht müssen wir Lehrerinnen und Lehrer zusammenstehen und diese Zumutungen zurückweisen. Die Schüler und Eltern stehen auf unserer Seite!       

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