Der Titel der Interpellation klingt dramatisch: «Werden unsere
Lehrmittel politisch instrumentalisiert?», fragen die St. Galler Freisinnigen.
Sie kritisieren, dass zwei Lehrbücher mit «politischen Parolen und
Lobhudeleien» durchsetzt sind. Der Lehrmittelverlag hingegen
weist den Vorwurf der Einseitigkeit zurück. Der Disput um die weltanschauliche Ausgewogenheit
der Schule ist nicht neu. Schon länger versuchen Firmen, Parteien und
Interessengruppen, in den Klassenzimmern ihre Produkte oder Wertvorstellungen
zu verbreiten.
Propaganda in Ostschweizer Klassenzimmern: Firmen und Verbände umwerben Schüler, St. Galler Tagblatt, 7.10. von Michael Genova
So ist in den letzten Jahren etwa das Angebot an gesponserten
Unterrichtsmaterialien stark gewachsen. Eine wichtige Anbieterin ist die
Aargauer Firma Kik AG, die auf der Plattform Kiknet.ch eine
Fülle an kostenlosen Lehrmitteln bereitstellt. Absender der Lerninhalte sind
Firmen, Verbände, Bundesämter oder Vereine. Mit einem Würstchen-Memory führt
zum Beispiel der Schweizer Fleisch-Fachverband schon Kindergärtler behutsam an
die Delikatesse Fleisch heran. Swissmilk erklärt den Schülern, warum eine
Pausenmilch schlau macht, und der Branchenverband Swissnuclear will, dass
Jugendliche realisieren, «wie stark wir von Strom abhängig sind». Die
Betreiberin versichert, dass sie die Lektionen «so neutral wie nur möglich»
gestalte und auf Arbeitsblättern keine Werbebotschaften oder Slogans abbilde.
Den Politiker
kostenlos ins Schulzimmer bestellt
Es sei problematisch, wenn Parteien, Firmen, Verbände oder
Nichtregierungsorganisationen den Unterricht beeinflussten, findet der
St. Galler FDP-Präsident Raphael Frei, der als Schulleiter in der Gemeinde
Waldkirch arbeitet. «Die Grenze zwischen Information und Propaganda ist
fliessend.» Die Gefahr einer inhaltlichen Beeinflussung des Unterrichts
bestehe. Deshalb müsse man genau hinschauen. Trotzdem findet Frei eine
Plattform wie Kiknet.ch nicht problematisch. Die Lehrerinnen und Lehrer
könnten ja auch auf andere Quellen wie Wikipedia oder Verbandspublikationen
zurückgreifen. «Wichtig ist, dass die Lehrpersonen auf diese Problematik
sensibilisiert sind.» Allerdings ist auch die FDP auf Kiknet.ch mit einem Staatskunde-Lehrgang («Politik
geht mich was an») vertreten. Per Webformular kann man sich sogar einen
Politiker kostenlos ins Klassenzimmer bestellen. Braucht es dieses gesponserte
Angebot? Frei gibt sich diplomatisch: «Herausgeber dieser Informationen ist
nicht die FDP des Kantons St. Gallen.»
Es gibt jedoch nicht nur private Schulplattformen wie Kiknet.ch. Die
nationale Stiftung Education 21 bündelt im Auftrag von Bund und Kantonen
Lernangebote im Bereich «Bildung für nachhaltige Entwicklung» (BNE), die im
Lehrplan 21 verankert ist. Dazu vertreibt Education 21 selbstentwickelte
Lernmittel, verweist aber auch auf kostenlose Lernmaterialien
«ausserschulischer Akteure». Darunter befinden sich Inhalte von Caritas, Pro
Natura, oder Amnesty International. Auch die Stiftung Kinderdorf Pestalozzi ist
mit einem Angebot zum Thema Menschen- und Kinderrechte vertreten. Die NZZ
bezeichnete Education 21 deshalb kürzlich als «verlängertem Arm der
links-grünen NGO-Familie». Die Stiftungsdirektion hingegen betont auf ihrer
Website, dass alle externen Bildungsangebote vorgängig geprüft würden.
Jagd auf die Kunden
der Zukunft
Die jungen Köpfe sind offenbar für Firmen, Parteien und politische
Interessengruppen als Zielgruppe gleichermassen attraktiv. «Die Schule ist wohl
noch die einzige Institution, die flächendeckend einen Jahrgang beschulen kann.
Und natürlich drängen die Firmen in die Klassen rein, weil sei dann die
künftigen Kunden vor sich haben», sagte Beat W. Zemp, Präsident des
Dachverbandes Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH), kürzlich dem Radio SRF.
Schon vor drei Jahren befasste sich die Interkantonale Lehrmittelzentrale in
einem Dossier mit Werbung und Sponsoring von Unterrichtsmaterialien. Sie kam
zum Schluss, dass das Engagement nicht selbstlos ist: «Durch die Unterstützung
der Schulen verfolgen die Sponsoren bestimmte Absichten.» Mit dem Material
werde nicht nur Imagewerbung für die betreffende Firma oder Organisation
gemacht, auch die vermittelten Unterrichtsinhalte würden auf eine bestimmte Art
und Weise dargestellt.
Der LCH hat deshalb reagiert und vor zwei Jahren eine Charta erarbeitet.
Sie soll Sponsoring und Finanzierung von öffentlicher Bildung durch private
Anbieter regeln und versteht sich als «Selbstverpflichtung aller Beteiligten».
Zu den Mitunterzeichnern gehören Microsoft und Samsung, aber auch die Post oder
das Schweizerische Rote Kreuz. Zusätzlich veröffentlichte der LCH einen
52-seitigen Leitfaden. Behandelt werden verschiedene Arten von Sponsoring
anhand von Fallbeispielen: Kostenlose Smartphones, die Schulagenda mit Logo
eines Elektrizitätswerks oder die Gratis-Pausenmilch. Auch der Einsatz
gesponserter Unterrichtsmaterialien wird thematisiert. Eine grosse
Verantwortung haben laut LCH die Lehrer, die für eine ausgewogene Information
sorgen und «mittransportierte Werte und Haltungen» thematisieren sollen.
Die Ostschweizer Kantone unterscheiden zwischen offiziellen Lehrmitteln
und ergänzenden Unterrichtsmaterialien, zu denen auch gesponserte Lernangebote
zählen. Im Kanton St. Gallen bestimmt der Erziehungsrat obligatorische
Lehrmittel, die zwingend im Unterricht einzusetzen sind. Zudem definiert er
empfohlene Lehrmittel, deren Einsatz fakultativ ist. Der Kanton finanziert
obligatorische und empfohlene Lehrmittel.
Kantone vertrauten
auf Urteilskraft der Lehrer
Für den Einsatz von gesponserten Unterrichtsmaterialien in der
Volksschule gibt es hingegen keine kantonalen Vorgaben. «Der allfällige Einsatz
solcher Lehrmittel steht in der Kompetenz der Schulleitungen und des
Schulträgers», sagt Brigitte Wiederkehr, stellvertretende Leiterin des St. Galler
Amts für Volksschule. Dieser verantworte das Einhalten der Lehrplaninhalte und
der Qualität der Schule.
Auch der Kanton Thurgau unterscheidet zwischen Lehrmitteln mit
«unterrichtsleitendem Charakter» und Unterrichtsmaterialien. Lehrmittel werden
von einer Arbeitsgruppe unter der Leitung des Kantons ausgewählt.
Unterrichtsmaterialien zu Einzelthemen hingegen würden in der Regel nicht
begutachtet, sagt Beat Brüllmann, Chef des Thurgauer Amts für Volksschule.
Brüllmann vertraut auf die Urteilskraft der Lehrerinnen und Lehrer. Er
kann nicht ausschliessen, dass auch an Thurgauer Schulen gesponserte Inhalte
von Kiknet.ch zum Einsatz kommen. Aber es sei ja üblich, dass Lehrkräfte sich
auch an anderen Materialien wie Zeitungen, Heften oder Tonträgern orientierten.
«Ich gehe davon aus, dass die Lehrpersonen über die notwendige Sensibilität in
dieser Frage verfügen.»
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