Inklusion,
Integration, mangelnde Disziplin der Schüler, anstrengende
Helikoptereltern und ausufernde Bürokratie - der Alltag von Lehrern in
Deutschland wird immer kräftezehrender. In einer TV-Doku rütteln Pädagogen
jetzt mit alarmierenden Aussagen auf.
Lehrer am Limit: "Wir fahren eine ganze Generation von Kindern an die Wand", Focus, 19.9.
Was ist
los in Deutschland? Diesem reichen Land, in dem Aussagen wie "Ich komme mit den Kindern nicht mehr zum
Lernen", ein grassierender Lehrermangeloder
die Kündigung einer Berliner Grundschulrektorinzu
Beginn des Schuljahrs für Schlagzeilen sorgen. Und die einen Alltag beschreiben,
der so ganz anders ist als das ewige Klischee vom Lehrer, der nur halbtags
arbeitet und ständig Ferienmacht.
Dabei leiden Lehrer im Vergleich zu anderen Berufsgruppen doppelt so häufig an
chronischer Erschöpfung.
"Es hat hier manchmal 'Fack Ju
Göhte'-Niveau"
Die ZDF-Doku "37 Grad -
Lehrer am Limit"hat zwei Lehrer über ein halbes Jahr
begleitet. "Das hat hier manchmal 'Fack Ju Göhte'- Niveau", erzählt
Julia W.. Sie ist 42 Jahre alt und Lehrerin an einer Gesamtschule in Kassel.
Sie unterrichtet unter anderem 24 Hauptschüler der achten Klasse in Englisch
und Politikwissenschaft. Sechs davon sind Integrations- oder Inklusionskinder.
Es ist laut, unruhig, die Kinder sind unkonzentriert.
"Man
kann nicht Inklusion und Integration in die Schulen stopfen, ohne Schule
grundlegend zu verändern", gibt die Gesamtschullehrerin Julia W. aus Kassel
zu bedenken. "Wir fahren eine ganze Generation von Kindern an die
Wand." Im Fall ihrer Klasse bedeutet das: Zum Schuljahresende haben an
dieser Schule nur fünf von 133 Abschlussschülern eine Lehrstelle.
Ein Lehrer alleine kann den Bedürfnissen aller
Kinder nicht gerecht werden
"Man
ist überlastet. Mit 24 Hauptschulkindern, von denen fünf Lernhilfe-Kinder sind,
in einer Klasse - und das alleine als Lehrer… Die bräuchten eine viel
intensivere Einzelbetreuung. Denn wir müssen heute in der Schule Sachen
auffangen, die früher nicht Thema der Schule waren", erklärt Julia W..
Sie sieht
die Rolle der Lehrer heute als "Lebensbegleiter". Der Job gehe über
die Vermittlung von Lernstoff hinaus. "Ich bin hier Sonderpädagogin,
Rechtsexpertin, Reisekauffrau und vor allem Psychologin", sagt die
alleinerziehende Mutter von drei Kindern über ihren Beruf. "Wir klären
hier jeden Tag die gleichen Probleme. Jeden Tag."
Streit
schlichten, um Aufmerksamkeit ringen und bei all dem die Nerven behalten.
"Man ist danach völlig fertig. Man kommt manchmal ins Lehrerzimmer und hat
das Gefühl, da ist ein Laster über einen hinweggefahren."
Während Mathe spielen die Inklusionskinder Mikado
Es ist
der ständige Geräuschpegel, mit dem auch Lehrer Christof B. umzugehen versucht.
"Es ist immer ein Geräuschpegel wie auf dem Flughafen", sagt der
48-Jährige, der seit 20 Jahren an der Tafel steht. Man könne versuchen
dagegenzuhalten, "aber das macht einen noch fertiger, als wenn man einen
gewissen Pegel akzeptiert. Das sind die untereinander gewöhnt. Das stört die
auch nicht."
Christof
B. unterrichtet an einer Realschule in einem DortmundBrennpunktviertel. Viele
Schüler haben einen Migrationshintergrund und in seiner eigenen 6. Klasse gibt
es vier Inklusionskinder. Unterstützt wird der Lehrer von einem Sonderpädagogen
und einem Integrationslehrer. Während der Klassenleiter Mathe erklärt, wird in
einer Ecke Karten oder Mikado gespielt - im gleichen Klassenraum. Zwei Schüler
sind stark verhaltensauffällig, stören ständig laut den Unterricht.
Für seinen Stoff braucht der Lehrer doppelt so viel
Zeit
Auch die
Vermittlung des Unterrichtsstoffs leidet. Für viele Aufgaben, die noch vor
fünf, sechs Jahren leicht über die Bühne gingen, braucht der Lehrer jetzt die
doppelte Zeit. "Längenmessung war früher nie ein Problem. Das ist jetzt
oft ein Riesenproblem bei vielen Schülern, obwohl wir das geübt haben.
Zwischendurch zweifelt man dann schon an seinen Fähigkeiten."
Christof
B. fragt sich bisweilen, ob Kinder heutzutage weniger aufnahmefähig sind.
"Das fachliche Niveau sinkt definitiv. Die Schulbücher, mit denen wir vor
zehn Jahren noch gearbeitet haben, es ist unmöglich, mit den Aufgaben heute
noch zu arbeiten. Da muss man stark nach unten differenzieren."
Schüler,
die sich länger als 20 bis 30 Sekunden konzentrieren können, seien selten. Das
bedeutet umgekehrt, dass sich die Lehrer auch mehr Zeit für die Schüler und
deren Eltern nehmen müssen.
Zu viele Aufgaben, zu wenig Personal - die Bildung
bleibt auf der Strecke
Nach der
Schule geht es weiter. Die Arbeiten, die zu korrigieren sind, alles muss in
Feedback-Bögen dokumentiert werden. Zeugnisse schreiben. Oder Anträge für
Berufsübergang und Ausbildung, Unterlagen für Förderpläne. "Einfach
Papierkram ohne Ende", kommentiert Julia W..
Die
Hauptaufgabe, die Bildung, bleibt auf der Strecke, denn es gibt zu wenig
Personal für zu viele umfassende Aufgaben, so der Tenor der Dokumentation. Das
Resultat: Lehrer sind im Vergleich zu anderen Berufsgruppen
überdurchschnittlich belastet, sie arbeiten weitaus mehr als 40 Wochenstunden,
Pausen und Erholungszeiten während der Schulwochen sind so gut wie nicht
vorhanden, dazu kommt Wochenendarbeit.
Laut
einer Forsa-Umfrage kämpfen viele Lehrer mit psychischen und psychosomatischen
Beschwerden wie chronischer Erschöpfung, sind kurz vor dem Burn-out. Die Quote
ist schon seit Jahren doppelt so hoch wie in anderen Berufsgruppen.
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