26. September 2018

"Wir fahren eine Generation von Kindern an die Wand"

Inklusion, Integration, mangelnde Disziplin der Schüler, anstrengende Helikoptereltern und ausufernde Bürokratie - der Alltag von Lehrern in Deutschland wird immer kräftezehrender. In einer TV-Doku rütteln Pädagogen jetzt mit alarmierenden Aussagen auf.
Lehrer am Limit: "Wir fahren eine ganze Generation von Kindern an die Wand", Focus, 19.9. 


Was ist los in Deutschland? Diesem reichen Land, in dem Aussagen wie "Ich komme mit den Kindern nicht mehr zum Lernen", ein   grassierender Lehrermangeloder die Kündigung einer Berliner Grundschulrektorinzu Beginn des Schuljahrs für Schlagzeilen sorgen. Und die einen Alltag beschreiben, der so ganz anders ist als das ewige Klischee vom Lehrer, der nur halbtags arbeitet und ständig Ferienmacht. Dabei leiden Lehrer im Vergleich zu anderen Berufsgruppen doppelt so häufig an chronischer Erschöpfung.

"Es hat hier manchmal 'Fack Ju Göhte'-Niveau"
Die ZDF-Doku "37 Grad - Lehrer am Limit"hat zwei Lehrer über ein halbes Jahr begleitet. "Das hat hier manchmal 'Fack Ju Göhte'- Niveau", erzählt Julia W.. Sie ist 42 Jahre alt und Lehrerin an einer Gesamtschule in Kassel. Sie unterrichtet unter anderem 24 Hauptschüler der achten Klasse in Englisch und Politikwissenschaft. Sechs davon sind Integrations- oder Inklusionskinder. Es ist laut, unruhig, die Kinder sind unkonzentriert.

"Man kann nicht Inklusion und Integration in die Schulen stopfen, ohne Schule grundlegend zu verändern", gibt die Gesamtschullehrerin Julia W. aus Kassel zu bedenken. "Wir fahren eine ganze Generation von Kindern an die Wand." Im Fall ihrer Klasse bedeutet das: Zum Schuljahresende haben an dieser Schule nur fünf von 133 Abschlussschülern eine Lehrstelle.

Ein Lehrer alleine kann den Bedürfnissen aller Kinder nicht gerecht werden
"Man ist überlastet. Mit 24 Hauptschulkindern, von denen fünf Lernhilfe-Kinder sind, in einer Klasse - und das alleine als Lehrer… Die bräuchten eine viel intensivere Einzelbetreuung. Denn wir müssen heute in der Schule Sachen auffangen, die früher nicht Thema der Schule waren", erklärt Julia W..

Sie sieht die Rolle der Lehrer heute als "Lebensbegleiter". Der Job gehe über die Vermittlung von Lernstoff hinaus. "Ich bin hier Sonderpädagogin, Rechtsexpertin, Reisekauffrau und vor allem Psychologin", sagt die alleinerziehende Mutter von drei Kindern über ihren Beruf. "Wir klären hier jeden Tag die gleichen Probleme. Jeden Tag."
Streit schlichten, um Aufmerksamkeit ringen und bei all dem die Nerven behalten. "Man ist danach völlig fertig. Man kommt manchmal ins Lehrerzimmer und hat das Gefühl, da ist ein Laster über einen hinweggefahren."

Während Mathe spielen die Inklusionskinder Mikado
Es ist der ständige Geräuschpegel, mit dem auch Lehrer Christof B. umzugehen versucht. "Es ist immer ein Geräuschpegel wie auf dem Flughafen", sagt der 48-Jährige, der seit 20 Jahren an der Tafel steht. Man könne versuchen dagegenzuhalten, "aber das macht einen noch fertiger, als wenn man einen gewissen Pegel akzeptiert. Das sind die untereinander gewöhnt. Das stört die auch nicht."

Christof B. unterrichtet an einer Realschule in einem DortmundBrennpunktviertel. Viele Schüler haben einen Migrationshintergrund und in seiner eigenen 6. Klasse gibt es vier Inklusionskinder. Unterstützt wird der Lehrer von einem Sonderpädagogen und einem Integrationslehrer. Während der Klassenleiter Mathe erklärt, wird in einer Ecke Karten oder Mikado gespielt - im gleichen Klassenraum. Zwei Schüler sind stark verhaltensauffällig, stören ständig laut den Unterricht.

Für seinen Stoff braucht der Lehrer doppelt so viel Zeit
Auch die Vermittlung des Unterrichtsstoffs leidet. Für viele Aufgaben, die noch vor fünf, sechs Jahren leicht über die Bühne gingen, braucht der Lehrer jetzt die doppelte Zeit. "Längenmessung war früher nie ein Problem. Das ist jetzt oft ein Riesenproblem bei vielen Schülern, obwohl wir das geübt haben. Zwischendurch zweifelt man dann schon an seinen Fähigkeiten."

Christof B. fragt sich bisweilen, ob Kinder heutzutage weniger aufnahmefähig sind. "Das fachliche Niveau sinkt definitiv. Die Schulbücher, mit denen wir vor zehn Jahren noch gearbeitet haben, es ist unmöglich, mit den Aufgaben heute noch zu arbeiten. Da muss man stark nach unten differenzieren."
Schüler, die sich länger als 20 bis 30 Sekunden konzentrieren können, seien selten. Das bedeutet umgekehrt, dass sich die Lehrer auch mehr Zeit für die Schüler und deren Eltern nehmen müssen.

Zu viele Aufgaben, zu wenig Personal - die Bildung bleibt auf der Strecke
Nach der Schule geht es weiter. Die Arbeiten, die zu korrigieren sind, alles muss in Feedback-Bögen dokumentiert werden. Zeugnisse schreiben. Oder Anträge für Berufsübergang und Ausbildung, Unterlagen für Förderpläne. "Einfach Papierkram ohne Ende", kommentiert Julia W..

Die Hauptaufgabe, die Bildung, bleibt auf der Strecke, denn es gibt zu wenig Personal für zu viele umfassende Aufgaben, so der Tenor der Dokumentation. Das Resultat: Lehrer sind im Vergleich zu anderen Berufsgruppen überdurchschnittlich belastet, sie arbeiten weitaus mehr als 40 Wochenstunden, Pausen und Erholungszeiten während der Schulwochen sind so gut wie nicht vorhanden, dazu kommt Wochenendarbeit.

Laut einer Forsa-Umfrage kämpfen viele Lehrer mit psychischen und psychosomatischen Beschwerden wie chronischer Erschöpfung, sind kurz vor dem Burn-out. Die Quote ist schon seit Jahren doppelt so hoch wie in anderen Berufsgruppen.


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