1. September 2018

Vom pädagogischen Establishment, neoliberalen Bildungsreformen und Big Business

Es ist ein eher unscheinbarer Mann, der kurz vor den Sommerferien in der Aula der Universität Zürich ans Mikrofon tritt. Richard Münch, 73, emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Bamberg, ist kein grosser Redner, doch was er am Kongress der Schweizerischen Gesellschaft für Bildungsforschung zu sagen hat, das hat es in sich. Es geht um den bildungsindustriellen Komplex, wie Münch ihn nennt, angelehnt an den berüchtigten militärisch-industriellen Komplex, vor dessen zersetzendem Einfluss auf die Demokratie der damalige US-Präsident Eisenhower in seiner berühmten Abschiedsrede im Jahr 1961 gewarnt hatte. Und als Warnung will auch Münch verstanden wissen, was er in Zürich wie in seinem neuen Buch mit dem gleichnamigen Titel präsentiert.
Der bildungsindustrielle Komplex, NZZ, 31.8. von Martin Beglinger

Es seien, so der Soziologe, schon lange nicht mehr die Aufklärer, die die Bildungsdebatten von heute dominierten, sondern Ökonomen wie der amerikanische Nobelpreisträger Gary Becker, der bereits 1964 seine Theorie des Humankapitals entwickelte. Der inzwischen verstorbene Becker verstand Bildung als Investition, die für den Einzelnen rentiert – vor allem in Form eines höheren Lohnes. Unterdessen ist dieser Gedanke Allgemeingut und die «Forderung nach mehr Bildung zum globalen Mantra der Wissensgesellschaft» (Münch) geworden. Umso mehr gelte die Schule heute als Rohstofflieferantin von Humankapital und sei dadurch zu einem «Kampfplatz im internationalen Wettbewerb» geworden.

Zugleich sieht Richard Münch seit der Ära Thatcher/Reagan einen «neoliberalen» Zeitgeist am Werk, der eine tektonische «Verschiebung vom Wohlfahrtsstaat zum Wettbewerbsstaat» bewirkt habe, mit ebenfalls einschneidenden Konsequenzen für die Schule. Von ihr werde seither verlangt, alle Kinder fit zu machen für den späteren Wettbewerb. Mehr Investitionen in die Bildung und im Gegenzug weniger Sozialstaat, das ist das politische Kalkül der Verfechter des «Wettbewerbsstaates». Mit der Lehre des New Public Management (NPM) wiederum, die öffentliche Verwaltungen dank Methoden aus der Privatwirtschaft effektiver und effizienter machen will, sollen die Schulen besser gesteuert werden; eine Vorstellung, die gerade auch bei sozialdemokratischen Reformern wie Tony Blair auf grossen Anklang stiess. Alles in allem ist für Münch nicht weniger als eine «Verdrängung des traditionellen pädagogischen Establishments» durch eine «ökonomische Regierung der Schule» im Gange.

Eine romantische Verklärung?
So weit also die Sicht des Soziologen. Während viele Lehrerverbände und traditionelle Erziehungswissenschafter seiner Analyse kräftig applaudieren, steht Münch bei etlichen Bildungsforschern als Romantiker im Verdacht. Der Schweizer Bildungsökonom Stefan Wolter zum Beispiel meint: «Hinter der Kritik an der angeblichen Ökonomisierung der Schule steckt die romantische Vorstellung einer dezentralen Selbststeuerung, wo jede Lehrperson und jede Schule tun und lassen kann, was sie will, ohne Aufsicht und Konsequenzen.» Dorthin wolle er, Wolter, aber keinesfalls zurück. Münch wiederum weist solche Kritik im Gespräch mit der NZZ weit von sich. Auch das frühere pädagogische Establishment sei «keineswegs der Himmel auf Erden. Es favorisiert eine Form von Bildung, Schule und Unterricht, die leicht dazu neigt, um sich selbst zu kreisen und aus dem Auge zu verlieren, was in der Welt da draussen passiert.»

Und was erkennt der Soziologe dort? Ein «weltumspannendes Netzwerk», das aus Think-Tanks, Stiftungen, internationalen Organisationen, der «Bildungs- und Testindustrie» sowie Policy-Unternehmen bestehe und «neoliberale Bildungsreformen» vorantreibe. «In diesen Netzwerken werden Wissen und Informationen verbreitet, Unterstützung mobilisiert, Gelder verfügbar gemacht, Loyalitäten und wechselseitige Verpflichtungen geschaffen. Think-Tanks stellen Wissen, Informationen und Reformprogramme zur Verfügung, Stiftungen fördern mit ihrem Geld Reformprogramme, Advocacy-Groups mobilisieren die Öffentlichkeit und rekrutieren Unterstützer für die Durchführung dieser Programme.»
Münch nennt auch Ross und Reiter:
  • Da ist etwa McKinsey Das Beratungsunternehmen rühmt sich auf seiner Website gleich selber, seit 2010 habe es 220 «Transformationsprojekte» in 10 nationalen und 20 regionalen Bildungssystemen durchgeführt – mit «impact» bei 400 000 Schulen, 3 Millionen Lehrern und 60 Millionen Schülern. McKinsey sieht in der Bildung einen «globalen Wachstumsmarkt von 8 Billionen Dollar» mit «vielen Investitionsmöglichkeiten für Private», von Management-Dienstleistungen bis zur Lieferung von Unterrichtsmaterial.
  • Zweites Beispiel: die britische Pearson Education, der weltgrösste Bildungskonzern mit einem Umsatz von 5,7 Milliarden Franken und 30 000 Angestellten in 70 Ländern. Pearson bietet alles an, von der Schulbuchproduktion bis zur Konzeption des internationalen Pisa-Tests, der 2018 wieder in 80 Ländern durchgeführt wurde, inklusive der Schweiz.
  • Beispiel Nummer drei: «Missionarische Milliardärsstiftungen» (Münch) wie jene von Bill und Melinda Gates, die in Bildungsfragen weltweit sehr aktiv ist und eine hohe Affinität zu privatwirtschaftlichen Anreizen in der Schule hat. Eine ähnliche Rolle spielt in Deutschland die Bertelsmann-Stiftung.
  • Schliesslich der wichtigste Pfeiler im bildungsindustriellen Komplex die OECD, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in Paris mit ihren 36 (mehrheitlich westlichen) Mitgliedstaaten. Geprägt von einer sozialtechnokratischen Machermentalität aus der amerikanischen Kriegswirtschaft, begann die OECD bereits in den 1960er Jahren, Daten im grossen Stil zu sammeln. Mit dem internationalen Leistungstest Pisa hat sich die OECD dann als zentrale internationale Plattform in der Bildungspolitik etabliert – und damit den Aufbau einer grossen Test- und Beratungsindustrie ermöglicht.
Drei Männer an der Spitze
In Zürich präsentiert Münch ein Netzwerk, das rund 1800 Personen umfasst, und als «Dreigestirn der globalen Bildungsgovernance» hat er diese drei Männer ausgemacht: den Deutschen Andreas Schleicher, Bildungsdirektor bei der OECD und Erfinder der Pisa-Tests; dann Eric Hanushek, «den weltweit einflussreichsten Bildungsökonomen» (Münch), der an der Universität Stanford lehrt; schliesslich den Briten Sir Michael Barber, der als Bildungsexperte im Kabinett von Tony Blair Karriere machte, dann zu McKinsey wechselte, um nationale Bildungsministerien zu beraten, ehe er bei Pearson Education anheuerte. Münch nennt das «einen schönen Drehtüreneffekt».

Man braucht tatsächlich nicht lange nach Belegen dafür zu suchen, wie sich dieses «Dreigestirn» die Bälle fast blind zuspielt. So bewirbt zum Beispiel Andreas Schleicher sein neues Buch, «World Class», mit einem Zitat von Michael Barber («das wichtigste Buch des Jahrzehnts über Bildung»), und Eric Hanushek wird darin gleich achtmal als Experte zitiert. Aber dass dieses Trio nun gleich das Triumvirat eines globalen bildungsindustriellen Komplexes bilden soll? Nicht nur für Bildungsökonomen klingt das mitunter nach einer Verschwörungstheorie. Doch diesen Vorwurf weist Münch ebenso vehement zurück wie jenen der Bildungsromantik. «Diese Personen ‹verschwören› sich nicht, sondern sind so eng miteinander verbunden, dass sie eine gemeinsame Sicht auf die Bildungswelt teilen, und sie sitzen an so zentralen Schaltstellen der Macht im transnationalen Bildungsfeld, dass sie in erheblichem Masse die weltweite Verbreitung und Institutionalisierung des Testregimes vorantreiben können.»

Von Verschwörung würde Münch auch deshalb nicht reden, weil er niemandem im bildungsindustriellen Komplex schlechte Absichten unterstellt. Alle Akteure wollten die Schulen der Welt verbessern und die Bildungschancen gerade auch der armen Kinder. Aber auch dieser Komplex entwickelt wie jede grosse Organisation eine Eigendynamik – und Eigeninteressen. Es geht um viele Arbeitsplätze, um Forschungsaufträge, Prestige und Deutungsmacht, und genau dies will der Soziologe transparent machen. «Warum», fragt er sein Publikum in Zürich, «findet der Pisa-Test alle drei Jahre statt, obwohl die Resultate immer die gleichen sind?» Die lakonische Antwort: «Weil dieser Rhythmus für durchgängige Beschäftigung in der Testindustrie sorgt.»

Die Rolle der Schweiz
Nehmen wir ein naheliegendes Beispiel und machen eine Probe aufs Exempel: die Schweiz. Sie kommt in Münchs Buch gerade einmal in einer halben Zeile vor. Also Fehlalarm? Dieses Urteil wäre vorschnell, denn namentlich die OECD hat seit rund dreissig Jahren sehr wohl einen starken Einfluss auf die Schweizer Bildungspolitik, wie die Erziehungswissenschafterin Regula Bürgi in ihrer Forschung minuziös belegen konnte.
Der damals noch weitgehend unbekannte Andreas Schleicher, ursprünglich Physiker und Statistiker, wurde bereits in den 1990er Jahren regelmässig in Bern gesichtet, auf Besuch beim Bundesamt für Statistik, das Feuer und Flamme für die Idee war, den seinerzeit noch weitgehend autonom laufenden Schweizer Bildungsbetrieb genauer in Zahlen zu fassen. Ein prächtiges Betätigungsfeld! Doch die OECD hatte ein besonderes Problem mit ihrem treuen Mitglied Schweiz. Es fehlte ein Ansprechpartner auf Regierungsebene, denn in diesem föderalistischen Unikum gibt es keinen nationalen Bildungsminister mit Durchgriffsrecht; die Volksschule ist bekanntlich Sache der Kantone. In diesem Vakuum schlug die Stunde der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK), die sich fortan als Scharnier zur OECD etablierte – und damit auch ihre Stellung im Inland gegenüber dem Bund massiv stärkte. Die OECD wiederum baute ihre Vormacht in der internationalen Bildungspolitik aus, indem sie – in Eigenregie, nicht etwa auf Anweisung ihrer Mitgliedstaaten – in den 1990er Jahren Pisa erfand und sich dadurch ihrerseits unentbehrlich machte.

Schon vor der Einführung von Pisa lieferte die OECD 1991 mit einer entsprechenden Studie den Anstoss zu einem zentralen Wechsel in der Schweizer Bildungspolitik, wie Jürgen Oelkers, emeritierter Erziehungswissenschafter an der Universität Zürich, erklärt. Das war der Wechsel von den Lehrerseminaren zu den pädagogischen Hochschulen, also der Startpunkt für die Akademisierung der Primarlehrerausbildung. Die Kritik wegen zu grosser Praxisferne war anfangs gross, mittlerweile hält Oelkers den Wechsel für «gelungen».

Der «Turboreformer»
Niemand war in der Schweiz empfänglicher für die Ideen der OECD als Ernst Buschor, Professor für Betriebswirtschaftslehre an der HSG und selber ein glühender Verfechter von NPM. Als er in die Zürcher Regierung gewählt wurde und 1995 die Bildungsdirektion übernahm, hatte Buschor sein ideales Feld für Reformen gefunden. Er wollte fortan nicht mehr nur auf den Input achten wie die traditionelle Bildungsverwaltung, die oft aus gelernten Pädagogen bestand, sondern stärker auf den Output. Buschor verlangte mehr Effizienz und pochte auf harte Zahlen dazu, was die Schulen am Ende des Jahres wirklich liefern.
In der OECD war man begeistert über den neuen Kurs, die kantonalen Bildungsdirektoren staunten, doch die Lehrerschaft war entsetzt. Sie fühlte sich kontrolliert und gegängelt wie nie zuvor, als plötzlich ein Mann der Wirtschaft detaillierte Rechenschaft über die Wirksamkeit ihrer Arbeit einforderte. Dann kam im Jahr 2000 der Schock nach den ersten – eher mässigen – Pisa-Resultaten. Buschor nutzte die Verunsicherung und schob im Kanton Zürich nun erst recht eine Reform nach der andern an – gegen den erbitterten Widerstand der Berufsverbände. Die «Generation Buschor» wähnte sich fortan in einem Hamsterrad, das sich auch in Zukunft weiterdrehen wird, «weil das System immer neue Reformen generiert», wie Jürgen Oelkers sagt.

Zentrale Reformen im Geiste von New Public Management waren die Einführung von Schulleitungen, die Beurteilung einzelner Lehrpersonen oder die Evaluierung ganzer Schulen. All dies war in der Lehrerschaft anfangs höchst umstritten, zumal wenn eine Beurteilung lohnwirksam war. Denn so manches, was empirische Bildungsforscher als wichtige Instrumente zur Messung von Qualität sehen, kam bei den Lehrpersonen vor allem so an: noch mehr Berichte, Formulare ohne Ende, sinnlose Bürokratie.
Die Mehrheit der rund 100 000 Lehrerinnen und Lehrer in der Schweiz hat sich inzwischen mit den Dauerreformen arrangiert, aber es gibt rote Linien. Zum Beispiel jene, dass sich Schulen nicht wie Firmen führen lassen. «Schulleiter sind keine CEO», sagt Jürgen Oelkers. Und die Volksschule ist nicht einfach ein Markt. Der «Turboreformer» Buschor bekam seine Grenzen zu spüren, als das Zürcher Stimmvolk im Jahr 2003 seine im Volksschulgesetz gebündelten Reformen an der Urne versenkte. Auch die Skepsis gegenüber mehr schulischem Wettbewerb ist weiterhin gross. So wurden die diversen kantonalen Initiativen zur freien Schulwahl, die genau dies wollten, in den letzten Jahren überall klar verworfen. Der Markt für Privatschulen bleibt eng, umso fester ist die öffentliche Schule verankert, auch wenn sie teuer ist.

Derweil pflegt die Schweiz – unabhängig von der OECD, aber sehr erfolgreich – ihre ganz eigene Wirtschaftsnähe in der Bildungspolitik: mit einer ausgeklügelten dualen Berufsbildung, die grossen Wert auf die Bedürfnisse der Unternehmen legt und im Gegenzug von der hohen Integrationsfähigkeit des Arbeitsmarktes sowie der tiefen Arbeitslosigkeit profitiert. Doch von einer «ökonomischen Regierung der Schule» ist man in diesem Land ziemlich weit entfernt. Allein der tendenziell markt- und reformkritische Berufsstand sowie die direkte Demokratie verhindern, dass ein bildungsindustrieller Komplex ungehindert den Takt vorgeben und durchsetzen könnte.

Die USA als «Pionierland»
Einen grossen Kontrast zur Schweiz bilden hingegen die USA, gemäss Richard Münch das «Pionierland» für den bildungsindustriellen Komplex. Die Ausrichtung auf Output und konsequentes Testen sind an amerikanischen Schulen seit bald fünfzig Jahren Standard. Der Soziologe hat nicht grundsätzlich etwas gegen Tests einzuwenden, hingegen stört ihn, wenn die «Bildungs- und Testindustrie» die Schule zu dominieren beginnt und diese am Ende gleichwohl nicht einzulösen vermag, was versprochen wird: bessere Leistungen und mehr Chancengerechtigkeit. Stattdessen kam es zu Auswüchsen wie 2011 in der Stadt Atlanta, wo ehrgeizige bildungspolitische Vorgaben zur Folge hatten, dass an 44 von 56 öffentlichen Schulen Testergebnisse systematisch gefälscht wurden, um die Ziele zu erreichen. Von den 170 beteiligten Lehrpersonen mussten drei für mehrere Jahre ins Gefängnis.

Eine amerikanische (wie auch britische) Spezialität sind die Charter Schools, also jene Schulen, die zwar privat geleitet, aber öffentlich finanziert werden – und dies umso üppiger, je mehr Eltern sich davon überzeugen lassen, ihr Kind an eine bestimmte Schule zu schicken. Dieses Modell setzt stärker auf Wettbewerb und individuelle Anreize, es ist das Vorzugsmodell von Eric Hanushek, dem Bildungsökonomen in Münchs «Dreigestirn», sowie der Bill-Gates-Stiftung, die bereits mehr als 100 Millionen Dollar in Charter Schools investiert hat. Eine gewichtige neue Befürworterin von Charter Schools ist auch Betsy DeVos, Donald Trumps Bildungsministerin.

Als Modell klingt es durchaus einleuchtend, seine Bilanz in der Praxis ist jedoch umstritten und wird von einem Studienkrieg begleitet, der auch nicht wirklich Klarheit verschafft. Münch verweist auf ein «Feldexperiment neoliberaler Schulreformen», nämlich die Stadt New Orleans, wo die vom Wirbelsturm «Katrina» zerstörten Schulen flächendeckend wieder aufgebaut wurden, jedoch als Charter Schools. Die alten öffentlichen Schulen, deren Leistungen unter den geforderten Testergebnissen lagen, wurden geschlossen, 7000 Lehrpersonen wurden entlassen und durch neue ersetzt.

Die Promotoren ziehen ein positives Fazit dieser Radikalreform, die Bilanz von Münch und der von ihm zitierten Studien ist gemischt. Rund ein Viertel der Charter Schools schneidet besser, ein weiteres Viertel aber schlechter ab als die öffentlichen Schulen; ungefähr die Hälfte ist jedoch gleich.

Kaum zu bestreiten ist hingegen, dass das amerikanische Schulsystem insgesamt nicht besser geworden ist in den letzten fünfzig Jahren. Die Pisa-Resultate – wenn man sie denn als Messlatte nehmen will – belegen das anhaltende Mittelmass. Insbesondere haben es die USA nicht geschafft, die Bildungskluft zwischen Arm und Reich, zwischen Schwarz und Weiss, zwischen Akademikern und Arbeitern zu verkleinern. Auch nach dem Neustart seiner Schulen bleibt New Orleans bei den schulischen Leistungen am Schluss, weit entfernt von Städten wie Boston; ebenso gross sind die Differenzen zwischen Gliedstaaten wie Louisiana und Massachusetts. Gegen 70 Prozent dieser Unterschiede lassen sich gemäss Münch mit den sozioökonomischen Unterschieden bei der Bevölkerung erklären.
 Bildungspolitik, folgert er daraus, könne eine ausgleichende Sozialpolitik nicht ersetzen.
Während man noch über die Effekte der letzten Reformgeneration rätselt (siehe rechte Seite), ist bereits die nächste Megareform angerollt: die Digitalisierung der Bildung. Auch hier sieht Münch den bildungsindustriellen Komplex am Werk, vielleicht sogar aktiver als je zuvor, denn gerade in diesem Bereich sind die handfesten Interessen offensichtlich. Die OECD-Länder werden in den nächsten Jahren Dutzende oder Hunderte Milliarden Franken in die Digitalisierung der Schulen stecken. Entsprechend heftig lobbyieren die Technologiekonzerne. Sie versprechen mehr Wirkung beim einzelnen Kind dank personalisierten Lernprogrammen und «werben ganz offen mit riesigen Einsparmöglichkeiten für die Schulen, weil eine Lehrerin im digitalisierten Unterricht nicht mehr 20, sondern 250 Schüler betreuen könne», wie Richard Münch in Zürich sagt. In seinem Buch schreibt er: «Der digitale Monopolkapitalismus von Apple, Google, Facebook und Co. hat beste Chancen, die Verdrängung der Lehrerschaft durch digitale Lernmaschinen global und flächendeckend durchzusetzen.»

Überzogener Alarmismus
Wenn er hier bereits den Untergang eines ganzen Berufsstandes an die Wand malt, dann ist das Alarmismus der schrillsten Sorte, den man bei weitem nicht zu teilen vermag. Doch Richard Münchs Schlusswort an der Universität Zürich kann man durchaus folgen: «Betrachten Sie die Schule weiterhin als eine öffentliche Aufgabe mit demokratischer Gesetzgebung, bürokratischer Kontrolle und professioneller Treuhänderschaft. Und seien Sie vorsichtig mit Schlüssen aus nationalen und internationalen Leistungsvergleichen.»

Richard Münch: Der bildungsindustrielle Komplex. Schule und Unterricht im Wettbewerbsstaat. Beltz-Juventa-Verlag, 2018.


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