Es ist ein eher unscheinbarer Mann, der kurz vor den Sommerferien in der
Aula der Universität Zürich ans Mikrofon tritt. Richard Münch, 73, emeritierter
Professor für Soziologie an der Universität Bamberg, ist kein grosser Redner,
doch was er am Kongress der Schweizerischen Gesellschaft für Bildungsforschung
zu sagen hat, das hat es in sich. Es geht um den bildungsindustriellen Komplex,
wie Münch ihn nennt, angelehnt an den berüchtigten militärisch-industriellen
Komplex, vor dessen zersetzendem Einfluss auf die Demokratie der damalige
US-Präsident Eisenhower in seiner berühmten Abschiedsrede im Jahr 1961 gewarnt
hatte. Und als Warnung will auch Münch verstanden wissen, was er in Zürich wie
in seinem neuen Buch mit dem gleichnamigen Titel präsentiert.
Der bildungsindustrielle Komplex, NZZ, 31.8. von Martin Beglinger
Es seien, so der Soziologe, schon lange nicht mehr die Aufklärer, die
die Bildungsdebatten von heute dominierten, sondern Ökonomen wie der
amerikanische Nobelpreisträger Gary Becker, der bereits 1964 seine Theorie des
Humankapitals entwickelte. Der inzwischen verstorbene Becker verstand Bildung
als Investition, die für den Einzelnen rentiert – vor allem in Form eines
höheren Lohnes. Unterdessen ist dieser Gedanke Allgemeingut und die «Forderung nach
mehr Bildung zum globalen Mantra der Wissensgesellschaft» (Münch) geworden.
Umso mehr gelte die Schule heute als Rohstofflieferantin von Humankapital und
sei dadurch zu einem «Kampfplatz im internationalen Wettbewerb» geworden.
Zugleich sieht Richard Münch seit der Ära Thatcher/Reagan einen
«neoliberalen» Zeitgeist am Werk, der eine tektonische «Verschiebung vom
Wohlfahrtsstaat zum Wettbewerbsstaat» bewirkt habe, mit ebenfalls
einschneidenden Konsequenzen für die Schule. Von ihr werde seither verlangt, alle
Kinder fit zu machen für den späteren Wettbewerb. Mehr Investitionen in die
Bildung und im Gegenzug weniger Sozialstaat, das ist das politische Kalkül der
Verfechter des «Wettbewerbsstaates». Mit der Lehre des New Public Management
(NPM) wiederum, die öffentliche Verwaltungen dank Methoden aus der
Privatwirtschaft effektiver und effizienter machen will, sollen die Schulen
besser gesteuert werden; eine Vorstellung, die gerade auch bei
sozialdemokratischen Reformern wie Tony Blair auf grossen Anklang stiess. Alles
in allem ist für Münch nicht weniger als eine «Verdrängung des traditionellen
pädagogischen Establishments» durch eine «ökonomische Regierung der Schule» im
Gange.
Eine romantische
Verklärung?
So weit also die Sicht des Soziologen. Während viele Lehrerverbände und
traditionelle Erziehungswissenschafter seiner Analyse kräftig applaudieren,
steht Münch bei etlichen Bildungsforschern als Romantiker im Verdacht. Der
Schweizer Bildungsökonom Stefan Wolter zum Beispiel meint: «Hinter der Kritik
an der angeblichen Ökonomisierung der Schule steckt die romantische Vorstellung
einer dezentralen Selbststeuerung, wo jede Lehrperson und jede Schule tun und
lassen kann, was sie will, ohne Aufsicht und Konsequenzen.» Dorthin wolle er,
Wolter, aber keinesfalls zurück. Münch wiederum weist solche Kritik im Gespräch
mit der NZZ weit von sich. Auch das frühere pädagogische Establishment sei
«keineswegs der Himmel auf Erden. Es favorisiert eine Form von Bildung, Schule
und Unterricht, die leicht dazu neigt, um sich selbst zu kreisen und aus dem
Auge zu verlieren, was in der Welt da draussen passiert.»
Und was erkennt der Soziologe dort? Ein «weltumspannendes Netzwerk», das
aus Think-Tanks, Stiftungen, internationalen Organisationen, der «Bildungs- und
Testindustrie» sowie Policy-Unternehmen bestehe und «neoliberale
Bildungsreformen» vorantreibe. «In diesen Netzwerken werden Wissen und
Informationen verbreitet, Unterstützung mobilisiert, Gelder verfügbar gemacht,
Loyalitäten und wechselseitige Verpflichtungen geschaffen. Think-Tanks stellen
Wissen, Informationen und Reformprogramme zur Verfügung, Stiftungen fördern mit
ihrem Geld Reformprogramme, Advocacy-Groups mobilisieren die Öffentlichkeit und
rekrutieren Unterstützer für die Durchführung dieser Programme.»
Münch nennt auch Ross und Reiter:
- Da ist etwa McKinsey Das
Beratungsunternehmen rühmt sich auf seiner Website gleich selber, seit
2010 habe es 220 «Transformationsprojekte» in 10 nationalen und 20
regionalen Bildungssystemen durchgeführt – mit «impact» bei 400 000
Schulen, 3 Millionen Lehrern und 60 Millionen Schülern. McKinsey sieht in
der Bildung einen «globalen Wachstumsmarkt von 8 Billionen Dollar» mit
«vielen Investitionsmöglichkeiten für Private», von
Management-Dienstleistungen bis zur Lieferung von Unterrichtsmaterial.
- Zweites Beispiel: die
britische Pearson Education, der weltgrösste Bildungskonzern mit einem
Umsatz von 5,7 Milliarden Franken und 30 000 Angestellten in 70 Ländern.
Pearson bietet alles an, von der Schulbuchproduktion bis zur Konzeption
des internationalen Pisa-Tests, der 2018 wieder in 80 Ländern durchgeführt
wurde, inklusive der Schweiz.
- Beispiel Nummer drei:
«Missionarische Milliardärsstiftungen» (Münch) wie jene von Bill und
Melinda Gates, die in Bildungsfragen weltweit sehr aktiv ist und eine hohe
Affinität zu privatwirtschaftlichen Anreizen in der Schule hat. Eine
ähnliche Rolle spielt in Deutschland die Bertelsmann-Stiftung.
- Schliesslich der wichtigste
Pfeiler im bildungsindustriellen Komplex die OECD, die Organisation für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in Paris mit ihren 36
(mehrheitlich westlichen) Mitgliedstaaten. Geprägt von einer
sozialtechnokratischen Machermentalität aus der amerikanischen
Kriegswirtschaft, begann die OECD bereits in den 1960er Jahren, Daten im
grossen Stil zu sammeln. Mit dem internationalen Leistungstest Pisa hat
sich die OECD dann als zentrale internationale Plattform in der
Bildungspolitik etabliert – und damit den Aufbau einer grossen Test- und
Beratungsindustrie ermöglicht.
Drei Männer an der
Spitze
In Zürich präsentiert Münch ein Netzwerk, das rund 1800 Personen
umfasst, und als «Dreigestirn der globalen Bildungsgovernance» hat er diese
drei Männer ausgemacht: den Deutschen Andreas Schleicher, Bildungsdirektor bei
der OECD und Erfinder der Pisa-Tests; dann Eric Hanushek, «den weltweit
einflussreichsten Bildungsökonomen» (Münch), der an der Universität Stanford
lehrt; schliesslich den Briten Sir Michael Barber, der als Bildungsexperte im
Kabinett von Tony Blair Karriere machte, dann zu McKinsey wechselte, um
nationale Bildungsministerien zu beraten, ehe er bei Pearson Education
anheuerte. Münch nennt das «einen schönen Drehtüreneffekt».
Man braucht tatsächlich nicht lange nach Belegen dafür zu suchen, wie
sich dieses «Dreigestirn» die Bälle fast blind zuspielt. So bewirbt zum
Beispiel Andreas Schleicher sein neues Buch, «World Class», mit einem Zitat von
Michael Barber («das wichtigste Buch des Jahrzehnts über Bildung»), und Eric
Hanushek wird darin gleich achtmal als Experte zitiert. Aber dass dieses Trio
nun gleich das Triumvirat eines globalen bildungsindustriellen Komplexes bilden
soll? Nicht nur für Bildungsökonomen klingt das mitunter nach einer
Verschwörungstheorie. Doch diesen Vorwurf weist Münch ebenso vehement zurück
wie jenen der Bildungsromantik. «Diese Personen ‹verschwören› sich nicht,
sondern sind so eng miteinander verbunden, dass sie eine gemeinsame Sicht auf
die Bildungswelt teilen, und sie sitzen an so zentralen Schaltstellen der Macht
im transnationalen Bildungsfeld, dass sie in erheblichem Masse die weltweite
Verbreitung und Institutionalisierung des Testregimes vorantreiben können.»
Von Verschwörung würde Münch auch deshalb nicht reden, weil er niemandem
im bildungsindustriellen Komplex schlechte Absichten unterstellt. Alle Akteure
wollten die Schulen der Welt verbessern und die Bildungschancen gerade auch der
armen Kinder. Aber auch dieser Komplex entwickelt wie jede grosse Organisation
eine Eigendynamik – und Eigeninteressen. Es geht um viele Arbeitsplätze, um
Forschungsaufträge, Prestige und Deutungsmacht, und genau dies will der
Soziologe transparent machen. «Warum», fragt er sein Publikum in Zürich,
«findet der Pisa-Test alle drei Jahre statt, obwohl die Resultate immer die
gleichen sind?» Die lakonische Antwort: «Weil dieser Rhythmus für durchgängige
Beschäftigung in der Testindustrie sorgt.»
Die Rolle der Schweiz
Nehmen wir ein naheliegendes Beispiel und machen eine Probe aufs
Exempel: die Schweiz. Sie kommt in Münchs Buch gerade einmal in einer halben
Zeile vor. Also Fehlalarm? Dieses Urteil wäre vorschnell, denn namentlich die
OECD hat seit rund dreissig Jahren sehr wohl einen starken Einfluss auf die
Schweizer Bildungspolitik, wie die Erziehungswissenschafterin Regula Bürgi in
ihrer Forschung minuziös belegen konnte.
Der damals noch weitgehend unbekannte Andreas Schleicher, ursprünglich
Physiker und Statistiker, wurde bereits in den 1990er Jahren regelmässig in
Bern gesichtet, auf Besuch beim Bundesamt für Statistik, das Feuer und Flamme
für die Idee war, den seinerzeit noch weitgehend autonom laufenden Schweizer
Bildungsbetrieb genauer in Zahlen zu fassen. Ein prächtiges Betätigungsfeld!
Doch die OECD hatte ein besonderes Problem mit ihrem treuen Mitglied Schweiz.
Es fehlte ein Ansprechpartner auf Regierungsebene, denn in diesem föderalistischen
Unikum gibt es keinen nationalen Bildungsminister mit Durchgriffsrecht; die
Volksschule ist bekanntlich Sache der Kantone. In diesem Vakuum schlug die
Stunde der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK), die sich fortan
als Scharnier zur OECD etablierte – und damit auch ihre Stellung im Inland
gegenüber dem Bund massiv stärkte. Die OECD wiederum baute ihre Vormacht in der
internationalen Bildungspolitik aus, indem sie – in Eigenregie, nicht etwa auf
Anweisung ihrer Mitgliedstaaten – in den 1990er Jahren Pisa erfand und sich
dadurch ihrerseits unentbehrlich machte.
Schon vor der Einführung von Pisa lieferte die OECD 1991 mit einer
entsprechenden Studie den Anstoss zu einem zentralen Wechsel in der Schweizer
Bildungspolitik, wie Jürgen Oelkers, emeritierter Erziehungswissenschafter an
der Universität Zürich, erklärt. Das war der Wechsel von den Lehrerseminaren zu
den pädagogischen Hochschulen, also der Startpunkt für die Akademisierung der
Primarlehrerausbildung. Die Kritik wegen zu grosser Praxisferne war anfangs
gross, mittlerweile hält Oelkers den Wechsel für «gelungen».
Der «Turboreformer»
Niemand war in der Schweiz empfänglicher für die Ideen der OECD als
Ernst Buschor, Professor für Betriebswirtschaftslehre an der HSG und selber ein
glühender Verfechter von NPM. Als er in die Zürcher Regierung gewählt wurde und
1995 die Bildungsdirektion übernahm, hatte Buschor sein ideales Feld für
Reformen gefunden. Er wollte fortan nicht mehr nur auf den Input achten wie die
traditionelle Bildungsverwaltung, die oft aus gelernten Pädagogen bestand,
sondern stärker auf den Output. Buschor verlangte mehr Effizienz und pochte auf
harte Zahlen dazu, was die Schulen am Ende des Jahres wirklich liefern.
In der OECD war man begeistert über den neuen Kurs, die kantonalen
Bildungsdirektoren staunten, doch die Lehrerschaft war entsetzt. Sie fühlte
sich kontrolliert und gegängelt wie nie zuvor, als plötzlich ein Mann der
Wirtschaft detaillierte Rechenschaft über die Wirksamkeit ihrer Arbeit
einforderte. Dann kam im Jahr 2000 der Schock nach den ersten – eher mässigen –
Pisa-Resultaten. Buschor nutzte die Verunsicherung und schob im Kanton Zürich
nun erst recht eine Reform nach der andern an – gegen den erbitterten
Widerstand der Berufsverbände. Die «Generation Buschor» wähnte sich fortan in
einem Hamsterrad, das sich auch in Zukunft weiterdrehen wird, «weil das System
immer neue Reformen generiert», wie Jürgen Oelkers sagt.
Zentrale Reformen im Geiste von New Public Management waren die
Einführung von Schulleitungen, die Beurteilung einzelner Lehrpersonen oder die
Evaluierung ganzer Schulen. All dies war in der Lehrerschaft anfangs höchst
umstritten, zumal wenn eine Beurteilung lohnwirksam war. Denn so manches, was
empirische Bildungsforscher als wichtige Instrumente zur Messung von Qualität
sehen, kam bei den Lehrpersonen vor allem so an: noch mehr Berichte, Formulare
ohne Ende, sinnlose Bürokratie.
Die Mehrheit der rund 100 000 Lehrerinnen und Lehrer in der Schweiz hat
sich inzwischen mit den Dauerreformen arrangiert, aber es gibt rote Linien. Zum
Beispiel jene, dass sich Schulen nicht wie Firmen führen lassen. «Schulleiter
sind keine CEO», sagt Jürgen Oelkers. Und die Volksschule ist nicht einfach ein
Markt. Der «Turboreformer» Buschor bekam seine Grenzen zu spüren, als das
Zürcher Stimmvolk im Jahr 2003 seine im Volksschulgesetz gebündelten Reformen
an der Urne versenkte. Auch die Skepsis gegenüber mehr schulischem Wettbewerb
ist weiterhin gross. So wurden die diversen kantonalen Initiativen zur freien
Schulwahl, die genau dies wollten, in den letzten Jahren überall klar
verworfen. Der Markt für Privatschulen bleibt eng, umso fester ist die
öffentliche Schule verankert, auch wenn sie teuer ist.
Derweil pflegt die Schweiz – unabhängig von der OECD, aber sehr erfolgreich
– ihre ganz eigene Wirtschaftsnähe in der Bildungspolitik: mit einer
ausgeklügelten dualen Berufsbildung, die grossen Wert auf die Bedürfnisse der
Unternehmen legt und im Gegenzug von der hohen Integrationsfähigkeit des
Arbeitsmarktes sowie der tiefen Arbeitslosigkeit profitiert. Doch von einer
«ökonomischen Regierung der Schule» ist man in diesem Land ziemlich weit
entfernt. Allein der tendenziell markt- und reformkritische Berufsstand sowie
die direkte Demokratie verhindern, dass ein bildungsindustrieller Komplex
ungehindert den Takt vorgeben und durchsetzen könnte.
Die USA als
«Pionierland»
Einen grossen Kontrast zur Schweiz bilden hingegen die USA, gemäss
Richard Münch das «Pionierland» für den bildungsindustriellen Komplex. Die
Ausrichtung auf Output und konsequentes Testen sind an amerikanischen Schulen
seit bald fünfzig Jahren Standard. Der Soziologe hat nicht grundsätzlich etwas
gegen Tests einzuwenden, hingegen stört ihn, wenn die «Bildungs- und
Testindustrie» die Schule zu dominieren beginnt und diese am Ende gleichwohl
nicht einzulösen vermag, was versprochen wird: bessere Leistungen und mehr
Chancengerechtigkeit. Stattdessen kam es zu Auswüchsen wie 2011 in der Stadt
Atlanta, wo ehrgeizige bildungspolitische Vorgaben zur Folge hatten, dass an 44
von 56 öffentlichen Schulen Testergebnisse systematisch gefälscht wurden, um
die Ziele zu erreichen. Von den 170 beteiligten Lehrpersonen mussten drei für
mehrere Jahre ins Gefängnis.
Eine amerikanische (wie auch britische) Spezialität sind die Charter
Schools, also jene Schulen, die zwar privat geleitet, aber öffentlich
finanziert werden – und dies umso üppiger, je mehr Eltern sich davon überzeugen
lassen, ihr Kind an eine bestimmte Schule zu schicken. Dieses Modell setzt
stärker auf Wettbewerb und individuelle Anreize, es ist das Vorzugsmodell von
Eric Hanushek, dem Bildungsökonomen in Münchs «Dreigestirn», sowie der
Bill-Gates-Stiftung, die bereits mehr als 100 Millionen Dollar in Charter
Schools investiert hat. Eine gewichtige neue Befürworterin von Charter Schools
ist auch Betsy DeVos, Donald Trumps Bildungsministerin.
Als Modell klingt es durchaus einleuchtend, seine Bilanz in der Praxis
ist jedoch umstritten und wird von einem Studienkrieg begleitet, der auch nicht
wirklich Klarheit verschafft. Münch verweist auf ein «Feldexperiment
neoliberaler Schulreformen», nämlich die Stadt New Orleans, wo die vom
Wirbelsturm «Katrina» zerstörten Schulen flächendeckend wieder aufgebaut
wurden, jedoch als Charter Schools. Die alten öffentlichen Schulen, deren
Leistungen unter den geforderten Testergebnissen lagen, wurden geschlossen,
7000 Lehrpersonen wurden entlassen und durch neue ersetzt.
Die Promotoren ziehen ein positives Fazit dieser Radikalreform, die
Bilanz von Münch und der von ihm zitierten Studien ist gemischt. Rund ein
Viertel der Charter Schools schneidet besser, ein weiteres Viertel aber
schlechter ab als die öffentlichen Schulen; ungefähr die Hälfte ist jedoch
gleich.
Kaum zu bestreiten ist hingegen, dass das amerikanische Schulsystem
insgesamt nicht besser geworden ist in den letzten fünfzig Jahren. Die
Pisa-Resultate – wenn man sie denn als Messlatte nehmen will – belegen das
anhaltende Mittelmass. Insbesondere haben es die USA nicht geschafft, die
Bildungskluft zwischen Arm und Reich, zwischen Schwarz und Weiss, zwischen
Akademikern und Arbeitern zu verkleinern. Auch nach dem Neustart seiner Schulen
bleibt New Orleans bei den schulischen Leistungen am Schluss, weit entfernt von
Städten wie Boston; ebenso gross sind die Differenzen zwischen Gliedstaaten wie
Louisiana und Massachusetts. Gegen 70 Prozent dieser Unterschiede lassen sich
gemäss Münch mit den sozioökonomischen Unterschieden bei der Bevölkerung
erklären.
Bildungspolitik, folgert er daraus, könne eine ausgleichende
Sozialpolitik nicht ersetzen.
Während man noch über die Effekte der letzten Reformgeneration rätselt
(siehe rechte Seite), ist bereits die nächste Megareform angerollt: die
Digitalisierung der Bildung. Auch hier sieht Münch den bildungsindustriellen
Komplex am Werk, vielleicht sogar aktiver als je zuvor, denn gerade in diesem
Bereich sind die handfesten Interessen offensichtlich. Die OECD-Länder werden
in den nächsten Jahren Dutzende oder Hunderte Milliarden Franken in die
Digitalisierung der Schulen stecken. Entsprechend heftig lobbyieren die
Technologiekonzerne. Sie versprechen mehr Wirkung beim einzelnen Kind dank
personalisierten Lernprogrammen und «werben ganz offen mit riesigen
Einsparmöglichkeiten für die Schulen, weil eine Lehrerin im digitalisierten
Unterricht nicht mehr 20, sondern 250 Schüler betreuen könne», wie Richard
Münch in Zürich sagt. In seinem Buch schreibt er: «Der digitale
Monopolkapitalismus von Apple, Google, Facebook und Co. hat beste Chancen, die
Verdrängung der Lehrerschaft durch digitale Lernmaschinen global und
flächendeckend durchzusetzen.»
Überzogener
Alarmismus
Wenn er hier bereits den Untergang eines ganzen Berufsstandes an die
Wand malt, dann ist das Alarmismus der schrillsten Sorte, den man bei weitem
nicht zu teilen vermag. Doch Richard Münchs Schlusswort an der Universität
Zürich kann man durchaus folgen: «Betrachten Sie die Schule weiterhin als eine
öffentliche Aufgabe mit demokratischer Gesetzgebung, bürokratischer Kontrolle
und professioneller Treuhänderschaft. Und seien Sie vorsichtig mit Schlüssen
aus nationalen und internationalen Leistungsvergleichen.»
Richard Münch: Der
bildungsindustrielle Komplex. Schule und Unterricht im Wettbewerbsstaat.
Beltz-Juventa-Verlag, 2018.
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