Die Antworten der Bildungsforscher über die Wirkung der
Schulreformen der letzten zwanzig Jahre in der Schweiz sind ernüchternd.
"Das ist vernichtend", NZZ, 31.8. von Martin Beglinger
Wer
nach der Wirkung von Schulunterricht fragt, braucht noch lange kein
unverbesserlicher Erbsenzähler zu sein, den einzig «Bildungsrenditen»
interessieren. «Es gibt einen berechtigten Anspruch auf Antworten», sagt der
Erziehungswissenschafter Jürgen Oelkers. Der Mann, der im Auftrag von Bund und
Kantonen nach Antworten sucht, ist Stefan Wolter, Leiter der Schweizerischen
Koordinationsstelle für Bildungsforschung. Der Bildungsökonom hat vor kurzem
den «Bildungsbericht Schweiz 2018» vorgelegt, bereits den dritten nach 2010 und
2014. Dieser Wälzer mit vielen Grafiken und Statistiken liefert die Basis für
die künftige Schweizer Bildungspolitik.
Frage
also an Stefan Wolter: Welche Reformen in der Volksschule haben in den letzten
zwanzig Jahren funktioniert?
Antwort:
«Wir wissen es nicht. Es gibt so gut wie keine wissenschaftlichen Studien über
ihre Wirkung.»
Das
heisst, man hat zwanzig Jahre lang mit riesigem Aufwand an diesem
Bildungssystem herumgeschraubt, ohne die Effekte wirklich zu kennen?
«Ja.
Das ist vernichtend, aber es ist so», sagt Wolter und bleibt dabei erstaunlich
gelassen. Zum besseren Verständnis holt er zu einem Exkurs über das
Kleingedruckte in der Bildungsforschung aus. Wer wirklich robuste empirische
Studien über Effekte machen wolle, der müsse dies ähnlich wie die Medizin
mittels einer «randomisiert kontrollierten Studie» tun. In einem Schulversuch müssten
also Klassen und Lehrpersonen per Zufall ausgewählt und dann mit einer
Kontrollgruppe verglichen werden, die nicht an der betreffenden Reform
beteiligt ist. Erst dann sind für Wolter solide Aussagen über kausale Wirkungen
möglich. In den USA oder in Kanada arbeite die Bildungsforschung längstens nach
diesem «Goldstandard», sagt Wolter, in der Schweiz hingegen sei man wie in ganz
Europa «Lichtjahre davon entfernt». Dahinter steckt ein alter Konflikt zwischen
empirisch arbeitenden Bildungsforschern, wie sie in den USA das Feld
dominieren, und europäischen Erziehungswissenschaftern, die sich als klassische
Geisteswissenschafter verstehen.
Crux mit den Pilotversuchen
Der
Streit beginnt schon mit der Frage des Messens. Dieses funktioniert gut bei
kognitiven, aber schlecht bei den sozialen Kompetenzen. Also fokussiert man auf
das Messbare. Ein grosses Problem sieht Wolter auch bei den Pilotversuchen.
«Reformen werden selten gleich flächendeckend eingeführt, üblicherweise erst
nach entsprechenden Pilotversuchen, meistens mit Freiwilligen. Der Versuch kann
ein grosser Erfolg werden, doch nach der breiten Einführung folgt die
Ernüchterung oft auf dem Fusse. Die Erklärung ist, dass die Freiwilligen
motivierter und talentierter sind und ihr Unterricht deshalb immer besser ist
als der Durchschnitt.»
Auch
Urs Moser, der führende empirische Bildungsforscher in der Schweiz, vermag
nicht mit Bestimmtheit zu sagen, ob Schüler nun dank einer Reform besser
rechnen können. Oder unabhängig davon. Oder wegen einer Reform vielleicht gar
schlechter. «Effekte von Schulreformen empirisch nachzuweisen, ist sehr
schwierig», das sieht Moser genauso wie Wolter. Denn abgesehen von den
fehlenden Daten lässt sich die Schule nie im geschützten Raum reformieren,
sondern sie findet in einem gesellschaftlichen Rahmen statt, der sich
seinerseits ständig verändert, zum Beispiel indem die Heterogenität wächst und
die Ansprüche steigen. So können sich Effekte auch gegenseitig neutralisieren.
Angebot bestimmt Nachfrage
Mit
der schulischen Integration hat man gleichzeitig eine grosse und teure
Sonderpädagogik aufgebaut. Doch deren Nutzen ist laut Moser «absolut diffus».
Sicher ist gemäss Wolter nur: «Das Angebot bestimmt die Nachfrage.»
Nach
dem ersten Pisa-Test von 2000 erlebte die empirische Bildungsforschung auch
hier zehn Jahre lang einen Boom. Zugleich schürten die Bildungspolitiker
Erwartungen, die die Wissenschafter nicht erfüllen konnten, wie Moser sagt.
Nach einem übertriebenen Glauben an die Steuerbarkeit des Systems Schule
herrscht jetzt wieder deutlich grössere Skepsis gegenüber grossen Tests und
flächendeckender Datensammlerei. «Nach drei, vier Pisa-Runden realisierte man,
dass die Resultate immer mehr oder weniger gleich waren. Und man merkte, wie
schwierig nachweisbare Verbesserungen in der Schule zu realisieren sind. Das
hat zu viel Frustration geführt.»
«Nichts
Neues beim Thema Chancengleichheit», sagte bezeichnenderweise Stefan Wolter,
als er den jüngsten Bildungsbericht vorstellte. Der Befund ist seit Jahren der
gleiche: Der Schulerfolg eines Kindes hängt stark vom sozioökonomischen Status
der Eltern ab. Ähnlich ist Mosers Erfahrung. Er habe selber
«Interventionsprojekte» wissenschaftlich begleitet, mit denen man Kleinkinder
aus bildungsfernen Migrantenfamilien zu unterstützen versuchte. Sein Fazit:
«Grosse Ernüchterung.» Und der Vorwurf an ihn, den Bildungsforscher, er habe
eben falsch gemessen, weil er auch bei Kinderkrippen und Tagesschulen keine
nachweisbaren Effekte auf bessere Chancen ausmachen konnte. «Ändern könnte der
Staat hier nur etwas, wenn er massiv ins Familienleben eingreifen würde, aber
das widerspricht einem liberalen Staatsverständnis.»
Gleichwohl
ist Urs Moser «überzeugt, dass die Schulreformen der letzten zwanzig Jahre
insgesamt sehr viel gebracht haben. Früher gab es keine Schulleitungen, kein
Qualitätsmanagement, die Eltern wurden nicht einbezogen, und auch die Schüler
wurden nie nach ihrer Zufriedenheit gefragt. Heute ist es undenkbar, dass sich
eine Schule nie mit der Qualität ihres Unterrichts beschäftigt, und das ist gut
so.»
Wolters Glaube an die "randomisierten kontrollierten Studien", erinnert mich stark an den Vorgesetzten des Kommissärs Bärlach in Dürrenmatts Krimi "Der Richter und sein Henker". Jener forderte mehr Wissenschaftlichkeit bei der Polizeiarbeit, konkret: einen Computer. Dann werde alles besser! Ausserdem sagt Wolter nicht die Wahrheit. Beim Fremdsprachenlernen wissen wir genau, was nicht funktioniert!
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