1. September 2018

Der König ist nackt

Die Antworten der Bildungsforscher über die Wirkung der Schulreformen der letzten zwanzig Jahre in der Schweiz sind ernüchternd.
"Das ist vernichtend", NZZ, 31.8. von Martin Beglinger

Wer nach der Wirkung von Schulunterricht fragt, braucht noch lange kein unverbesserlicher Erbsenzähler zu sein, den einzig «Bildungsrenditen» interessieren. «Es gibt einen berechtigten Anspruch auf Antworten», sagt der Erziehungswissenschafter Jürgen Oelkers. Der Mann, der im Auftrag von Bund und Kantonen nach Antworten sucht, ist Stefan Wolter, Leiter der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung. Der Bildungsökonom hat vor kurzem den «Bildungsbericht Schweiz 2018» vorgelegt, bereits den dritten nach 2010 und 2014. Dieser Wälzer mit vielen Grafiken und Statistiken liefert die Basis für die künftige Schweizer Bildungspolitik.

Frage also an Stefan Wolter: Welche Reformen in der Volksschule haben in den letzten zwanzig Jahren funktioniert?
Antwort: «Wir wissen es nicht. Es gibt so gut wie keine wissenschaftlichen Studien über ihre Wirkung.»

Das heisst, man hat zwanzig Jahre lang mit riesigem Aufwand an diesem Bildungssystem herumgeschraubt, ohne die Effekte wirklich zu kennen?
«Ja. Das ist vernichtend, aber es ist so», sagt Wolter und bleibt dabei erstaunlich gelassen. Zum besseren Verständnis holt er zu einem Exkurs über das Kleingedruckte in der Bildungsforschung aus. Wer wirklich robuste empirische Studien über Effekte machen wolle, der müsse dies ähnlich wie die Medizin mittels einer «randomisiert kontrollierten Studie» tun. In einem Schulversuch müssten also Klassen und Lehrpersonen per Zufall ausgewählt und dann mit einer Kontrollgruppe verglichen werden, die nicht an der betreffenden Reform beteiligt ist. Erst dann sind für Wolter solide Aussagen über kausale Wirkungen möglich. In den USA oder in Kanada arbeite die Bildungsforschung längstens nach diesem «Goldstandard», sagt Wolter, in der Schweiz hingegen sei man wie in ganz Europa «Lichtjahre davon entfernt». Dahinter steckt ein alter Konflikt zwischen empirisch arbeitenden Bildungsforschern, wie sie in den USA das Feld dominieren, und europäischen Erziehungswissenschaftern, die sich als klassische Geisteswissenschafter verstehen.

Crux mit den Pilotversuchen

Der Streit beginnt schon mit der Frage des Messens. Dieses funktioniert gut bei kognitiven, aber schlecht bei den sozialen Kompetenzen. Also fokussiert man auf das Messbare. Ein grosses Problem sieht Wolter auch bei den Pilotversuchen. «Reformen werden selten gleich flächendeckend eingeführt, üblicherweise erst nach entsprechenden Pilotversuchen, meistens mit Freiwilligen. Der Versuch kann ein grosser Erfolg werden, doch nach der breiten Einführung folgt die Ernüchterung oft auf dem Fusse. Die Erklärung ist, dass die Freiwilligen motivierter und talentierter sind und ihr Unterricht deshalb immer besser ist als der Durchschnitt.»

Auch Urs Moser, der führende empirische Bildungsforscher in der Schweiz, vermag nicht mit Bestimmtheit zu sagen, ob Schüler nun dank einer Reform besser rechnen können. Oder unabhängig davon. Oder wegen einer Reform vielleicht gar schlechter. «Effekte von Schulreformen empirisch nachzuweisen, ist sehr schwierig», das sieht Moser genauso wie Wolter. Denn abgesehen von den fehlenden Daten lässt sich die Schule nie im geschützten Raum reformieren, sondern sie findet in einem gesellschaftlichen Rahmen statt, der sich seinerseits ständig verändert, zum Beispiel indem die Heterogenität wächst und die Ansprüche steigen. So können sich Effekte auch gegenseitig neutralisieren.

Angebot bestimmt Nachfrage

Mit der schulischen Integration hat man gleichzeitig eine grosse und teure Sonderpädagogik aufgebaut. Doch deren Nutzen ist laut Moser «absolut diffus». Sicher ist gemäss Wolter nur: «Das Angebot bestimmt die Nachfrage.»

Nach dem ersten Pisa-Test von 2000 erlebte die empirische Bildungsforschung auch hier zehn Jahre lang einen Boom. Zugleich schürten die Bildungspolitiker Erwartungen, die die Wissenschafter nicht erfüllen konnten, wie Moser sagt. Nach einem übertriebenen Glauben an die Steuerbarkeit des Systems Schule herrscht jetzt wieder deutlich grössere Skepsis gegenüber grossen Tests und flächendeckender Datensammlerei. «Nach drei, vier Pisa-Runden realisierte man, dass die Resultate immer mehr oder weniger gleich waren. Und man merkte, wie schwierig nachweisbare Verbesserungen in der Schule zu realisieren sind. Das hat zu viel Frustration geführt.»

«Nichts Neues beim Thema Chancengleichheit», sagte bezeichnenderweise Stefan Wolter, als er den jüngsten Bildungsbericht vorstellte. Der Befund ist seit Jahren der gleiche: Der Schulerfolg eines Kindes hängt stark vom sozioökonomischen Status der Eltern ab. Ähnlich ist Mosers Erfahrung. Er habe selber «Interventionsprojekte» wissenschaftlich begleitet, mit denen man Kleinkinder aus bildungsfernen Migrantenfamilien zu unterstützen versuchte. Sein Fazit: «Grosse Ernüchterung.» Und der Vorwurf an ihn, den Bildungsforscher, er habe eben falsch gemessen, weil er auch bei Kinderkrippen und Tagesschulen keine nachweisbaren Effekte auf bessere Chancen ausmachen konnte. «Ändern könnte der Staat hier nur etwas, wenn er massiv ins Familienleben eingreifen würde, aber das widerspricht einem liberalen Staatsverständnis.»

Gleichwohl ist Urs Moser «überzeugt, dass die Schulreformen der letzten zwanzig Jahre insgesamt sehr viel gebracht haben. Früher gab es keine Schulleitungen, kein Qualitätsmanagement, die Eltern wurden nicht einbezogen, und auch die Schüler wurden nie nach ihrer Zufriedenheit gefragt. Heute ist es undenkbar, dass sich eine Schule nie mit der Qualität ihres Unterrichts beschäftigt, und das ist gut so.»


1 Kommentar:

  1. Wolters Glaube an die "randomisierten kontrollierten Studien", erinnert mich stark an den Vorgesetzten des Kommissärs Bärlach in Dürrenmatts Krimi "Der Richter und sein Henker". Jener forderte mehr Wissenschaftlichkeit bei der Polizeiarbeit, konkret: einen Computer. Dann werde alles besser! Ausserdem sagt Wolter nicht die Wahrheit. Beim Fremdsprachenlernen wissen wir genau, was nicht funktioniert!

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