1. September 2018

Qualitätsbewusstsein für Informationen fördern

Wie vertrauenswürdig sind Sprachassistierende wie Siri und Alexa, die uns bei der digitalen Suche nach Wissen behilflich sind? Die Frage wird in Zukunft auch in der Medienbildung zu diskutieren sein. Bereits jetzt haben gemäss der Adele-Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften Kleinkinder dank den Möglichkeiten mündlicher Sprachbefehle einen neuartigen Zugang zur digitalen Informationswelt gefunden.
Erkennen, was "alternative Fakten" sind, NZZ, 1.9. von Philippe Weber


Die Frage des Vertrauens stellt sich allerdings bereits heute. Empirische Untersuchungen bestätigen die alltägliche Erfahrung von Lehrerinnen und Lehrern, dass Jugendliche mehrheitlich im Copy-Paste-Verfahren recherchieren. Sie folgen den Vorschlägen von Suchmaschinen, pflücken für sie relevante Informationen heraus, um sie anschliessend zu sammeln, zusammenzufassen und zu ordnen.

Brei aus diffusen Informationen

Diese Praxis des «Verkürzens und Verknüpfens», wie es der Basler Didaktiker Jan Hodel nennt, setzt zwar durchaus Kompetenzen und Wissen voraus, lässt aber einen entscheidenden Schritt aus, nämlich die Prüfung der Herkunft und der Qualität der Informationen. Informationen aus wissenschaftlichen Artikeln, journalistischen Texten, privaten Blogs, Lexika-Einträgen mit anonymer Autorschaft und Dokumentationen von Interessengruppen und Marketingbeiträge werden unter diesen Voraussetzungen zu einem Brei schwer überprüfbarer Informationen verarbeitet.

Das blinde Vertrauen in der Praxis steht häufig in einem Kontrast zu den Reflexionen über die Vertrauenswürdigkeit von Informationen. Wenn Schülerinnen und Schüler über Medien sprechen, üben sie sich zumindest in Gegenwart von Lehrpersonen und Interviewern in Skeptizismus. Man müsse immer kritisch sein, und überhaupt werde man manipuliert. Besonders die klassischen Medien schneiden schlecht ab.

Das Forschungsinstitut GfS Bern berechnete in einer repräsentativen Umfrage, dass nur 17 Prozent der Schweizer Jugendlichen bei politischen Themen Journalistinnen und Journalisten vertrauen. Die kritische Haltung hält die Jugendlichen offenbar nicht davon ab, irgendwelche Informationen ungeprüft zu nutzen. Wer in seiner Reflexion über eine diffuse Skepsis nicht hinauskommt, tut sich in der Praxis schwer mit einem differenzierten Umgang.

Defizite in der Ausbildung

Auf irritierende Weise spiegeln sich die Defizite der Lernenden im didaktischen Angebot der Medienbildung. Im schulischen Alltag wird viel recherchiert, zuweilen auch gewarnt und selten differenziert über die Qualität von Informationen nachgedacht. Das verbreitete Lehrmittel «Medienkompass» des Zürcher Lehrmittelverlags nennt immerhin einige «Anhaltspunkte», mit denen sich die Zuverlässigkeit von Websites einschätzen lasse. Was die Produktion von zuverlässigen Informationen ausmacht, wird hingegen nirgends erklärt.
Vielleicht wirkt weiterhin die skeptizistische Rhetorik der Medienbildung aus den 1970er Jahren nach. Sie verhindert, das Konzept der Kritik differenzierter zu denken und den digitalen Bedingungen der Gegenwart anzupassen. Selbst der neue, 2017 von der Eidgenössischen Erziehungsdirektorenkonferenz verabschiedete Rahmenlehrplan für das Fach Informatik an Gymnasien bedient die Floskel von «Chancen und Risiken» und holt für den Umgang mit «Softwarelösungen» den diffusen Imperativ hervor, diese «effektiv, aber auch kritisch zu nutzen».

Im Lehrplan 21 wird hingegen das Ziel, Medien «eigenständig, kritisch und kompetent» zu nutzen, mit einer Referenz auf ein differenzierteres Qualitätsbewusstsein versehen: «Die Schülerinnen und Schüler können Informationen aus verschiedenen Quellen gezielt beschaffen, auswählen und hinsichtlich Qualität und Nutzen beurteilen.» Diese normative Setzung des Lehrplans 21 ist zweifellos positiv. Wie sie allerdings konkret umgesetzt werden kann, bleibt die grosse Leerstelle in der alltäglichen Medienbildung.

Skeptizismus genügt nicht

Die Reduktion von Kritik auf eine skeptizistische Haltung war wohl schon vor dem Aufstieg «postfaktischer» Medienwelten keine taugliche Strategie. Die mit dem digitalen Wandel einhergehende Zugänglichkeit zu Informationen unterschiedlichster Herkunft und Qualität sowie die Krise der klassischen Medien machen allerdings ein differenziertes Qualitätsbewusstsein besonders dringlich.

Angesichts dieser Situation ist es zu begrüssen, wenn Pietro Supino, der Verleger von Tamedia, die Flucht nach vorn ergreift. An der diesjährigen Dreikönigstagung des Verlegerverbands bezeichnete er die Kompetenz der Bürgerinnen und Bürger, «die Qualitäten der Angebote beurteilen zu können», als «absolute medienpolitische Priorität». Dieses Ziel müsse man ganz praktisch angehen, indem Lehrerinnen und Lehrer mit ihren Klassen möglichst viele Medienhäuser besuchen und so die journalistische Praxis aus erster Hand kennenlernen.

Supinos praktischer Ansatz ist überzeugend, doch genügt er? Nein, weil das Problem des fehlenden Qualitätsbewusstseins aus zwei Gründen umfassender ist. Erstens spielt die Unterscheidung zwischen journalistischen und nichtjournalistischen Texten im jugendlichen Umgang mit Informationen keine zentrale Rolle, und deshalb muss die Bildung des Qualitätsbewusstseins sämtliche mediale Angebote betreffen. Zweitens gründen die Defizite der Jugendlichen auf einer theoretischen Unbedarftheit über das Wesen von Information und Wahrheit. Der praktische Ansatz muss deshalb mit einer theoretischen Reflexion einhergehen: Welche Eigenschaften machten eine Information zuverlässig, plausibel, wahr?

Methoden modernen Wissens

Gerade die vielgescholtenen sogenannten «postmodernen» Theorien, die auf historisch abenteuerliche Weise für den Aufstieg des «Postfaktischen» verantwortlich gemacht werden, eröffnen Wege zum praktischen Lernen und zur theoretischen Reflexion. Denn auf der Grundlage eines «postmodernen» Ansatzes, Wahrheit als Effekt einer kulturellen Praxis zu verstehen, wird es möglich, dass Schülerinnen und Schüler unterschiedliche Formen der Konstruktion von Wissen kennenlernen und diese auch selber ausprobieren und einüben. Sie lernen so, dass die Qualität von Informationen von den Verfahren abhängen, mit denen Wissen produziert wird. Statt sich in einer diffus-kritischen Haltung zu gefallen, müssen Jugendliche Informationen einer Kritik unterziehen, mit der die Produktion rekonstruiert wird: Wer hat mit welchen Interessen, Methoden, Instrumenten und Kenntnissen «Wissen» produziert?

Ein postmodern inspiriertes, differenziertes Konzept der Kritik lehrt weder tauben Relativismus noch blinden Universalismus, weder eine diffus-kritische Haltung noch naiven Glauben an journalistische oder wissenschaftliche Autoritäten. Vielmehr sollen Schülerinnen und Schüler lernen, weshalb bestimmte Informationen zuverlässig, natürlich, plausibel oder wahr sind und weshalb andere Informationen diesen Kriterien nicht genügen.

Ein solches Qualitätsbewusstsein setzt den Glauben an jene Normen voraus, auf denen der Erfolg der modernen Wissenschaften und Medien beruht. Es geht um Kriterien und Standards, die sowohl für die Recherche des Qualitätsjournalismus als auch für die Forschung der Wissenschaften leitend sind: die intersubjektive Nachvollziehbarkeit, die empirische Begründung, der Wille zur Komplexität oder auch die Möglichkeit der Widerlegung und der Revision.

Die «Allianz für die Aufklärung», die der in Lugano lehrende Medienwissenschafter Stephan Russ-Mohl von Wissenschaft und Journalismus fordert, bleibt wirkungslos, wenn Bürgerinnen und Bürger nicht gelernt haben, die entsprechenden Prinzipien der Konstruktion von Wissen wertzuschätzen. Die Bildung von Glauben an wissenschaftliche und journalistische Normen kann nicht Programm eines einzelnes Fach bleiben, sondern muss zu einer zentralen Aufgabe der gesamten Schule werden. In Zeiten, in denen sich alle Schulen der digitalen Herausforderung stellen, gilt es, die Verpflichtung der Bildung zum Projekt der Aufklärung und zu modernen Methoden des Wissens zu erneuern.
Der konkrete Umgang mit Informationen wird allerdings schwierig bleiben. Ob die recherchierten Informationen wissenschaftlichen oder journalistischen Methoden genügen, ist unter den digitalen Bedingungen noch schwieriger zu beurteilen als zuvor. Google, Siri und Alexa führen ihre User unter anderem zu Informationen, die an den Rändern und auch fernab des journalistischen und akademischen Betriebs angeboten werden und zugleich Anspruch auf journalistische Qualität oder Wissenschaftlichkeit erheben.

Bedeutung des Vertrauens

Wo mitunter nur Fachexperten beurteilen können, ob dieser Anspruch berechtigt ist, sind Jugendliche heillos überfordert. Gerade ihr diffuser Skeptizismus macht sie zu einfachen Opfern «alternativer Fakten». Die einschlägigen Websites kokettieren mit einer kritischen Position gegenüber Medien und kostümieren sich mit vermeintlich wissenschaftlichen Fragen und Methoden. Mit der Kantschen Rhetorik des «sapere aude» überlassen sie es auf suggestive Weise den Usern, sich eine eigene Meinung zu bilden.

Angesichts solcher Schwierigkeiten der gegenwärtigen Medienwelt muss Bildung auf eine Ressource zurückgreifen, die im «Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen», nicht explizit vorgesehen ist: Vertrauen. Schülerinnen und Schüler sollen ein begründetes Vertrauen in journalistische und wissenschaftliche Institutionen aufbauen, die den aufklärerischen Prinzipien der Wissensproduktion verpflichtet sind. Erst auf dieser Basis werden ein produktiver Umgang mit Informationen unterschiedlichster Qualität und eine Reflexion von «Alternativen» möglich. Eine solch differenzierte kritische Haltung führt eine für Bildung zentrale Traditionslinie der Aufklärung weiter: die Verpflichtung zum Unabgeschlossenen. Zumindest momentan sind Siri und Alexa mit dieser Offenheit noch überfordert.

Philippe Weber ist Geschichtslehrer an der Kantonsschule Zug und Dozent für Fachdidaktik Geschichte an der Universität Zürich.


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