Bereits der Titel ist
eine kämpferische Ansage. «Gleicher Lohn für gleiche Arbeit!» lautet er, und im
gleichen Stil geht es weiter: «In der Bundesverfassung ist festgehalten, dass
Frauen und Männer für die gleiche Arbeit den gleichen Lohn erhalten sollen. Das
ist aber nicht überall der Fall.» Gut, so lesen wir weiter, gibt es da die
Gewerkschaften, allen voran die Unia: «Sie setzt sich für gerechte Löhne und
faire Arbeitsbedingungen ein.»
Wer wissen will, wie das
geht, kann sich per Mausklick ein Video einer grossen Unia-Demonstration in
Bern anschauen. Gitarrenklänge ertönen, dann werden die politischen
Hauptforderungen eingeblendet – «Lohngleichheit jetzt! Keine Erhöhung des
Frauenrentenalters!» –, man sieht marschierende Politikerinnen und
Gewerkschafterinnen. «Ich möchte nicht erst mit 65 in Rente gehen!», sagt eine
von ihnen, «Ernsthafte Lohnkontrollen!», ruft eine andere.
Die Unia kämpft für uns - wie in neuen Lehrmitteln politische Werbung verbreitet wird, NZZ, 31.8. von Lucien Scherrer
«Im Rahmen des Machbaren»
Wer vermutet, dass
dieses proletarische Pathos auf der Website der Unia oder in einem Artikel der
Gewerkschaftszeitung «Work» zu finden ist, irrt: Es stammt aus einem neuen, auf
den Lehrplan 21 zugeschnittenen Schweizer Lehrmittel, auch online angeboten vom
Zürcher Lehrmittelverlag, entwickelt von Experten der PH Fachhochschule
Nordwestschweiz, der Pädagogischen Hochschule Zürich und der Universität Basel.
«Gesellschaften im Wandel» heisst es, «das neue Stufenlehrmittel für Geschichte
und Politik auf der Sekundarstufe I».
Wie ist es möglich, dass
in Lehrmitteln für die öffentliche Schule derart unverhohlen für politische
Akteure und deren Anliegen geworben wird? Laut Béatrice Ziegler, Professorin,
Geschichtsdidaktikerin der PH Fachhochschule Nordwestschweiz und Fachlektorin
des Lehrmittels «Gesellschaften im Wandel», geht es nicht um Werbung. «In allen
Lehrmittelteilen wird darauf hingewirkt, dass die Gegenstände ausgewogen
dargestellt und umstrittene Standpunkte im Rahmen des Machbaren relativiert
werden.»
Natürlich könne man
«nicht bei jedem vorstellbaren Thema ein ganzes Meinungsspektrum vorführen»,
aber wenn etwa der «gewerkschaftliche Kampf um gleiche Löhne» dargestellt
werde, heisse das nicht, dass die Löhne tatsächlich ungleich seien oder andere
Kausalitäten behauptet würden. «Das Lehrmittel ermöglicht vielmehr die
Auseinandersetzung mit dieser Position, etwas, was die Lehrperson in ihrem
Unterricht machen kann und machen wird.»
«Verschiedene Perspektiven», nur wo?
Tatsächlich steht auch
in einem dazugehörigen Handbuch für Lehrer, politische Fragen müssten aus
«verschiedenen Perspektiven dargestellt» werden, «so dass das Spektrum an
Meinungen und Argumenten sichtbar, nachvollziehbar und kritisierbar wird». Soll
diesem Anspruch Genüge getan werden, ist allerdings sehr viel Eigeninitiative
der Lehrerinnen und Lehrer gefragt – ja sie müssten ihr eigenes Lehrmittel
infrage stellen.
Denn Gegenargumente zu
gewerkschaftlichen Forderungen nach staatlichen Lohnkontrollen oder einer
Kanonisierung des heutigen Frauenrentenalters sucht man bei «Gesellschaften im
Wandel» vergeblich. Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände kommen gar nicht erst
vor. Und anders, als es Ziegler darstellt, geben die Autoren Meinungen als
Fakten wider, ebenso stellen sie Kausalitäten her, um unterschwellig für
staatliche Eingriffe zu werben.
So behaupten sie im
Verein mit der Unia, Frauen verdienten immer noch «20 Prozent weniger als ihre
Arbeitskollegen». Dass es Studien gibt, die einen unerklärlichen
Lohnunterschied von
gerade einmal 2,9% festgestellt haben, erfahren die Schüler aus
dem Lehrmittel nicht. Sie erfahren auch nicht, dass die Frage umstritten ist,
wie weit Lohnunterschiede oder die Untervertretung von Frauen in Führungsetagen
tatsächlich auf Diskriminierung zurückgehen.
Dafür wird ihnen
pauschal erklärt, Frauen seien «in der Arbeitswelt den Männern nicht
vollständig gleichgestellt und nehmen weniger Führungspositionen ein». Der
«Kampf» für eine «vollkommene Gleichstellung», so heisst es an anderer Stelle,
sei noch lang, und zwar «in allen Lebensbereichen».
Das antikapitalistische,
klassenkämpferische Geraune zieht sich durch das gesamte Lehrmittel. Die Folgen
der Globalisierung etwa werden wie folgt beschrieben: «Wer ohnehin schon viel
hat, profitiert von der Globalisierung, wer dagegen nur wenig hat, gerät noch
mehr unter wirtschaftlichen Druck.» Allein schon dieser Befund ist höchst
umstritten.
Die WTO etwa kommt zum
Schluss, dass freier Handel in zahlreichen Ländern zu einer drastischen
Verringerung der Armut geführt hat. Doch auch dieses Argument wird bei
«Gesellschaften im Wandel» nirgends «sichtbar». Stattdessen suggerieren die
Autoren wie im Fall der Unia, es gebe politische Kräfte, die all diese
Ungerechtigkeiten aus der Welt schaffen könnten, wenn man sie nur gewähren
liesse.
Ein Loblied auf die Attac
Bestimmte
Nichtregierungsorganisationen (NGO), so wird den Kindern erklärt, «fordern
Wohlstand für alle statt Reichtum für wenige», sie «verlangen Regeln, die allen
Menschen ein gutes Leben ermöglichen». Oder: «Sie wollen eine Wirtschaft, in
der nicht nur der Gewinn im Zentrum steht, sondern auch Mensch und Umwelt.» Als
Beispiele werden die Occupy-Wall-Street-Bewegung genannt oder die «weltweit
aktive Bewegung Attac».
Diese linke Gruppierung
(Aushängeschild in Deutschland: Oskar Lafontaine) setzt sich laut den Autoren
dafür ein, «dass aus dem Welthandel ein fairer Handel wird: ein Handel also,
der niemanden benachteiligt». Immer wieder versuche Attac, auf die negativen
Folgen des Konsums aufmerksam zu machen, etwa mit dem Kauf-nix-Tag: «Damit
sollen Menschen zum Nachdenken über ihr Konsumverhalten angeregt werden.»
An anderer Stelle darf
sich eine Vertreterin von Public Eye über das «sagenhafte» Vermögen von
Modezaren wie Amancio Ortega (Zara) auslassen, das auf der Ausbeutung von
Näherinnen beruhe. Dazu gibt es Bilder von Globalisierungsgegnern, die Fahnen
linksextremer Gruppierungen schwenken: «Gegen Krieg und Kapitalismus! Stopp
G-7». Die Frage, ob diese Leute wirklich «Wohlstand für alle» schaffen würden,
stellt sich durchaus – aber ob sie sich im Schulunterricht nach der erwähnten
Bearbeitung wirklich aufdrängt, ist fraglich.
Man nennt es «Aufklärung»
Die unkritische
Bewerbung von Gewerkschaften und bestimmter NGO ist weder einzigartig noch
zufällig. So finden sich auch im preisgekrönten, ebenfalls für den Lehrplan 21
entwickelten Lehrmittel «Durchblick Geschichte» des Westermann-Verlags Fotos
von Unia-Aktivisten, Greenpeace oder Amnesty International, samt wohlwollenden
Texten.
Danach werden die
Schüler aufgefordert, ein Porträt von Amnesty «oder einer vergleichbaren NGO»
zu erstellen. Im Lehrmittel «Gesellschaften im Wandel» erhält Amnesty ebenfalls
mehrere Auftritte samt Logo, ebenso gibt es zahlreiche Verweise auf die
«Informationsplattform» humanrights.ch.
Dabei wird suggeriert,
dass diese Interessengruppen objektive Wahrheiten vertreten. Béatrice Ziegler
drückte es in einem Interview mit einer Fachzeitschrift so aus: Die
«Informationsanstrengungen und Kampagnen» von Amnesty oder humanrights.ch
leisteten «immer auch einen Beitrag zur Aufklärung und Information der
Bevölkerung».
In Wahrheit handelt es
sich um gewöhnliche politische Akteure, welche die Bevölkerung mit den üblichen
Methoden zu beeinflussen versuchen. Zusammen mit Teilen der SP und der Grünen
propagieren die beiden Organisationen einen sehr weit gefassten Begriff von
Menschen- und Sozialrechten, über den man geteilter Meinung sein kann.
Humanrights.ch etwa
weibelt für eine umstrittene europäische «Sozialcharta», und kürzlich hat die
teilweise staatlich finanzierte «Informationsplattform» dazu aufgerufen, das
linke Referendum gegen eine gesetzliche Grundlage für Sozialdetektive zu
unterschreiben. Zum Personal des Vereins gehören unter anderem ein
Gründungsmitglied von Attac Bern und ein Unia-Kader.
Kritisches Denken leicht gemacht
Linke und grüne NGO
versuchen schon lange, den Unterricht in öffentlichen Schulen in ihrem Sinne zu
beeinflussen. So hat eine «Bildungskoalition» aus Amnesty, Alliance Sud, WWF,
Greenpeace und anderen NGO erreicht, dass die Bildung für nachhaltige
Entwicklung (BNE) im Lehrplan 21 verankert worden ist.
Vermittelt wird diese
offiziell völlig ideologiefreie «Bildung» etwa von Amnesty-, Greenpeace- oder
Caritas-Aktivisten, die Projekte und Schulbesuche anbieten. Gleichzeitig
finanziert der Bund mit der Stiftung Education 21 eine BNE-Fachstelle mit rund
fünfzig Mitarbeitern, die der Hilfswerk- und Menschenrechtslobby nahesteht. Ihr
langjähriger, im April 2018 verabschiedeter Direktor Jürg Schertenleib etwa war
für die Flüchtlingshilfe und den Verein humanrights.ch tätig.
Offiziell sollen BNE und
politische Bildung an öffentlichen Schulen die Urteilsfähigkeit stärken,
kritisches Denken fördern und die Schüler dazu befähigen, selber aktiv zu
werden. Der Einfachheit halber, so könnte man hinzufügen, werden die korrekten
Urteile, das richtige Denken und die besten Adressen für künftige Aktivitäten
manchmal gleich mitgeliefert.
«Der Wald stirbt» und andere Kuriositäten
Wer das Lehrmittel
«Gesellschaften im Wandel» durchblättert, stösst immer wieder auf
Glaubenssätze, Lücken und gewagte Definitionen. Auf die Frage, was liberal sei,
geben die Autoren beispielsweise folgende Antwort: «Parteien mit liberalen
Positionen sind für eine Öffnung der Schweiz gegenüber Europa (zum Beispiel
Europäische Union) und gegenüber internationalen Organisationen. Toleranz
(. . .) ist ihnen wichtig.» Das Verhältnis zum Staat scheint dagegen
komplett unwichtig zu sein – und demnach ist die EU-freundliche SP die
liberalste Partei der Schweiz.
Viel Lob gibt es im
Lehrmittel nicht nur für die UNO und die EU-Führung (sie «versucht,
Entscheidungen im Sinne der Bevölkerung zu treffen»), sondern auch für die
Blockfreienbewegung: «Die blockfreien Staaten forderten, dass die
Menschenrechte geachtet würden.» Eine interessante These, wenn man bedenkt,
dass zu diesen Staaten unter anderem Ghadhafis Libyen, Ceausescus Rumänien und
Kim Il Sungs Nordkorea gehörten.
Ohnehin werden die
Verbrechen, die im 20. Jahrhundert im Namen des Sozialismus begangen
wurden, bestenfalls angetönt, während der Nationalsozialismus zu Recht sehr
ausführlich thematisiert wird. Die russische Revolution, so ist etwa zu lesen,
habe den Menschen weder Glück noch Freiheit gebracht, und die DDR sei eine
Diktatur gewesen. Dass im Namen kommunistischer Gleichheitsträume auf der
ganzen Welt Dutzende Millionen Menschen in Gefängnissen vegetieren und sterben
mussten, wird nirgends erwähnt. Eine ausführliche Behandlung der Sowjetunion,
so die Begründung, sei angesichts der «Fülle von Themen» im Lehrplan 21 nicht
möglich.
Dafür feiert das längst
vergessene Waldsterben Urständ. Unter dem Titel «Der Wald stirbt» wird den
Schülern erklärt, die Wissenschaft habe in den 1980er Jahren vermutet, die
Luftverschmutzung führe dazu, «dass sich viele Laub- und Nadelbäume unnatürlich
entwickeln». «Erst allmählich wurden von staatlicher Seite Massnahmen zur
Senkung des Schadstoffausstosses von Fahrzeugen, Heizungen und Fabriken
ergriffen.» Und siehe da: «Der Zustand der Wälder stabilisierte sich langsam.»
Das suggeriert einen direkten Zusammenhang zwischen den ergriffenen Massnahmen
und der Genesung des Waldes. Dass es diesen gab, ist heute jedoch umstritten.
Das Gleiche gilt für die Frage, ob das Waldsterben hierzulande jemals
stattgefunden hat.
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