1. September 2018

Politische Werbung in Lehrmitteln

Bereits der Titel ist eine kämpferische Ansage. «Gleicher Lohn für gleiche Arbeit!» lautet er, und im gleichen Stil geht es weiter: «In der Bundesverfassung ist festgehalten, dass Frauen und Männer für die gleiche Arbeit den gleichen Lohn erhalten sollen. Das ist aber nicht überall der Fall.» Gut, so lesen wir weiter, gibt es da die Gewerkschaften, allen voran die Unia: «Sie setzt sich für gerechte Löhne und faire Arbeitsbedingungen ein.»
Wer wissen will, wie das geht, kann sich per Mausklick ein Video einer grossen Unia-Demonstration in Bern anschauen. Gitarrenklänge ertönen, dann werden die politischen Hauptforderungen eingeblendet – «Lohngleichheit jetzt! Keine Erhöhung des Frauenrentenalters!» –, man sieht marschierende Politikerinnen und Gewerkschafterinnen. «Ich möchte nicht erst mit 65 in Rente gehen!», sagt eine von ihnen, «Ernsthafte Lohnkontrollen!», ruft eine andere.
Die Unia kämpft für uns - wie in neuen Lehrmitteln politische Werbung verbreitet wird, NZZ, 31.8. von Lucien Scherrer


«Im Rahmen des Machbaren»

Wer vermutet, dass dieses proletarische Pathos auf der Website der Unia oder in einem Artikel der Gewerkschaftszeitung «Work» zu finden ist, irrt: Es stammt aus einem neuen, auf den Lehrplan 21 zugeschnittenen Schweizer Lehrmittel, auch online angeboten vom Zürcher Lehrmittelverlag, entwickelt von Experten der PH Fachhochschule Nordwestschweiz, der Pädagogischen Hochschule Zürich und der Universität Basel. «Gesellschaften im Wandel» heisst es, «das neue Stufenlehrmittel für Geschichte und Politik auf der Sekundarstufe I».

Wie ist es möglich, dass in Lehrmitteln für die öffentliche Schule derart unverhohlen für politische Akteure und deren Anliegen geworben wird? Laut Béatrice Ziegler, Professorin, Geschichtsdidaktikerin der PH Fachhochschule Nordwestschweiz und Fachlektorin des Lehrmittels «Gesellschaften im Wandel», geht es nicht um Werbung. «In allen Lehrmittelteilen wird darauf hingewirkt, dass die Gegenstände ausgewogen dargestellt und umstrittene Standpunkte im Rahmen des Machbaren relativiert werden.»
Natürlich könne man «nicht bei jedem vorstellbaren Thema ein ganzes Meinungsspektrum vorführen», aber wenn etwa der «gewerkschaftliche Kampf um gleiche Löhne» dargestellt werde, heisse das nicht, dass die Löhne tatsächlich ungleich seien oder andere Kausalitäten behauptet würden. «Das Lehrmittel ermöglicht vielmehr die Auseinandersetzung mit dieser Position, etwas, was die Lehrperson in ihrem Unterricht machen kann und machen wird.»

«Verschiedene Perspektiven», nur wo?

Tatsächlich steht auch in einem dazugehörigen Handbuch für Lehrer, politische Fragen müssten aus «verschiedenen Perspektiven dargestellt» werden, «so dass das Spektrum an Meinungen und Argumenten sichtbar, nachvollziehbar und kritisierbar wird». Soll diesem Anspruch Genüge getan werden, ist allerdings sehr viel Eigeninitiative der Lehrerinnen und Lehrer gefragt – ja sie müssten ihr eigenes Lehrmittel infrage stellen.
Denn Gegenargumente zu gewerkschaftlichen Forderungen nach staatlichen Lohnkontrollen oder einer Kanonisierung des heutigen Frauenrentenalters sucht man bei «Gesellschaften im Wandel» vergeblich. Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände kommen gar nicht erst vor. Und anders, als es Ziegler darstellt, geben die Autoren Meinungen als Fakten wider, ebenso stellen sie Kausalitäten her, um unterschwellig für staatliche Eingriffe zu werben.

So behaupten sie im Verein mit der Unia, Frauen verdienten immer noch «20 Prozent weniger als ihre Arbeitskollegen». Dass es Studien gibt, die einen unerklärlichen Lohnunterschied von gerade einmal 2,9% festgestellt haben, erfahren die Schüler aus dem Lehrmittel nicht. Sie erfahren auch nicht, dass die Frage umstritten ist, wie weit Lohnunterschiede oder die Untervertretung von Frauen in Führungsetagen tatsächlich auf Diskriminierung zurückgehen.

Dafür wird ihnen pauschal erklärt, Frauen seien «in der Arbeitswelt den Männern nicht vollständig gleichgestellt und nehmen weniger Führungspositionen ein». Der «Kampf» für eine «vollkommene Gleichstellung», so heisst es an anderer Stelle, sei noch lang, und zwar «in allen Lebensbereichen».

Das antikapitalistische, klassenkämpferische Geraune zieht sich durch das gesamte Lehrmittel. Die Folgen der Globalisierung etwa werden wie folgt beschrieben: «Wer ohnehin schon viel hat, profitiert von der Globalisierung, wer dagegen nur wenig hat, gerät noch mehr unter wirtschaftlichen Druck.» Allein schon dieser Befund ist höchst umstritten.
Die WTO etwa kommt zum Schluss, dass freier Handel in zahlreichen Ländern zu einer drastischen Verringerung der Armut geführt hat. Doch auch dieses Argument wird bei «Gesellschaften im Wandel» nirgends «sichtbar». Stattdessen suggerieren die Autoren wie im Fall der Unia, es gebe politische Kräfte, die all diese Ungerechtigkeiten aus der Welt schaffen könnten, wenn man sie nur gewähren liesse.

Ein Loblied auf die Attac

Bestimmte Nichtregierungsorganisationen (NGO), so wird den Kindern erklärt, «fordern Wohlstand für alle statt Reichtum für wenige», sie «verlangen Regeln, die allen Menschen ein gutes Leben ermöglichen». Oder: «Sie wollen eine Wirtschaft, in der nicht nur der Gewinn im Zentrum steht, sondern auch Mensch und Umwelt.» Als Beispiele werden die Occupy-Wall-Street-Bewegung genannt oder die «weltweit aktive Bewegung Attac».
Diese linke Gruppierung (Aushängeschild in Deutschland: Oskar Lafontaine) setzt sich laut den Autoren dafür ein, «dass aus dem Welthandel ein fairer Handel wird: ein Handel also, der niemanden benachteiligt». Immer wieder versuche Attac, auf die negativen Folgen des Konsums aufmerksam zu machen, etwa mit dem Kauf-nix-Tag: «Damit sollen Menschen zum Nachdenken über ihr Konsumverhalten angeregt werden.»

An anderer Stelle darf sich eine Vertreterin von Public Eye über das «sagenhafte» Vermögen von Modezaren wie Amancio Ortega (Zara) auslassen, das auf der Ausbeutung von Näherinnen beruhe. Dazu gibt es Bilder von Globalisierungsgegnern, die Fahnen linksextremer Gruppierungen schwenken: «Gegen Krieg und Kapitalismus! Stopp G-7». Die Frage, ob diese Leute wirklich «Wohlstand für alle» schaffen würden, stellt sich durchaus – aber ob sie sich im Schulunterricht nach der erwähnten Bearbeitung wirklich aufdrängt, ist fraglich.

Man nennt es «Aufklärung»

Die unkritische Bewerbung von Gewerkschaften und bestimmter NGO ist weder einzigartig noch zufällig. So finden sich auch im preisgekrönten, ebenfalls für den Lehrplan 21 entwickelten Lehrmittel «Durchblick Geschichte» des Westermann-Verlags Fotos von Unia-Aktivisten, Greenpeace oder Amnesty International, samt wohlwollenden Texten.
Danach werden die Schüler aufgefordert, ein Porträt von Amnesty «oder einer vergleichbaren NGO» zu erstellen. Im Lehrmittel «Gesellschaften im Wandel» erhält Amnesty ebenfalls mehrere Auftritte samt Logo, ebenso gibt es zahlreiche Verweise auf die «Informationsplattform» humanrights.ch.

Dabei wird suggeriert, dass diese Interessengruppen objektive Wahrheiten vertreten. Béatrice Ziegler drückte es in einem Interview mit einer Fachzeitschrift so aus: Die «Informationsanstrengungen und Kampagnen» von Amnesty oder humanrights.ch leisteten «immer auch einen Beitrag zur Aufklärung und Information der Bevölkerung».
In Wahrheit handelt es sich um gewöhnliche politische Akteure, welche die Bevölkerung mit den üblichen Methoden zu beeinflussen versuchen. Zusammen mit Teilen der SP und der Grünen propagieren die beiden Organisationen einen sehr weit gefassten Begriff von Menschen- und Sozialrechten, über den man geteilter Meinung sein kann.
Humanrights.ch etwa weibelt für eine umstrittene europäische «Sozialcharta», und kürzlich hat die teilweise staatlich finanzierte «Informationsplattform» dazu aufgerufen, das linke Referendum gegen eine gesetzliche Grundlage für Sozialdetektive zu unterschreiben. Zum Personal des Vereins gehören unter anderem ein Gründungsmitglied von Attac Bern und ein Unia-Kader.

Kritisches Denken leicht gemacht

Linke und grüne NGO versuchen schon lange, den Unterricht in öffentlichen Schulen in ihrem Sinne zu beeinflussen. So hat eine «Bildungskoalition» aus Amnesty, Alliance Sud, WWF, Greenpeace und anderen NGO erreicht, dass die Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) im Lehrplan 21 verankert worden ist.

Vermittelt wird diese offiziell völlig ideologiefreie «Bildung» etwa von Amnesty-, Greenpeace- oder Caritas-Aktivisten, die Projekte und Schulbesuche anbieten. Gleichzeitig finanziert der Bund mit der Stiftung Education 21 eine BNE-Fachstelle mit rund fünfzig Mitarbeitern, die der Hilfswerk- und Menschenrechtslobby nahesteht. Ihr langjähriger, im April 2018 verabschiedeter Direktor Jürg Schertenleib etwa war für die Flüchtlingshilfe und den Verein humanrights.ch tätig.

Offiziell sollen BNE und politische Bildung an öffentlichen Schulen die Urteilsfähigkeit stärken, kritisches Denken fördern und die Schüler dazu befähigen, selber aktiv zu werden. Der Einfachheit halber, so könnte man hinzufügen, werden die korrekten Urteile, das richtige Denken und die besten Adressen für künftige Aktivitäten manchmal gleich mitgeliefert.

«Der Wald stirbt» und andere Kuriositäten

Wer das Lehrmittel «Gesellschaften im Wandel» durchblättert, stösst immer wieder auf Glaubenssätze, Lücken und gewagte Definitionen. Auf die Frage, was liberal sei, geben die Autoren beispielsweise folgende Antwort: «Parteien mit liberalen Positionen sind für eine Öffnung der Schweiz gegenüber Europa (zum Beispiel Europäische Union) und gegenüber internationalen Organisationen. Toleranz (. . .) ist ihnen wichtig.» Das Verhältnis zum Staat scheint dagegen komplett unwichtig zu sein – und demnach ist die EU-freundliche SP die liberalste Partei der Schweiz.
Viel Lob gibt es im Lehrmittel nicht nur für die UNO und die EU-Führung (sie «versucht, Entscheidungen im Sinne der Bevölkerung zu treffen»), sondern auch für die Blockfreienbewegung: «Die blockfreien Staaten forderten, dass die Menschenrechte geachtet würden.» Eine interessante These, wenn man bedenkt, dass zu diesen Staaten unter anderem Ghadhafis Libyen, Ceausescus Rumänien und Kim Il Sungs Nordkorea gehörten.
Ohnehin werden die Verbrechen, die im 20. Jahrhundert im Namen des Sozialismus begangen wurden, bestenfalls angetönt, während der Nationalsozialismus zu Recht sehr ausführlich thematisiert wird. Die russische Revolution, so ist etwa zu lesen, habe den Menschen weder Glück noch Freiheit gebracht, und die DDR sei eine Diktatur gewesen. Dass im Namen kommunistischer Gleichheitsträume auf der ganzen Welt Dutzende Millionen Menschen in Gefängnissen vegetieren und sterben mussten, wird nirgends erwähnt. Eine ausführliche Behandlung der Sowjetunion, so die Begründung, sei angesichts der «Fülle von Themen» im Lehrplan 21 nicht möglich.
Dafür feiert das längst vergessene Waldsterben Urständ. Unter dem Titel «Der Wald stirbt» wird den Schülern erklärt, die Wissenschaft habe in den 1980er Jahren vermutet, die Luftverschmutzung führe dazu, «dass sich viele Laub- und Nadelbäume unnatürlich entwickeln». «Erst allmählich wurden von staatlicher Seite Massnahmen zur Senkung des Schadstoffausstosses von Fahrzeugen, Heizungen und Fabriken ergriffen.» Und siehe da: «Der Zustand der Wälder stabilisierte sich langsam.» Das suggeriert einen direkten Zusammenhang zwischen den ergriffenen Massnahmen und der Genesung des Waldes. Dass es diesen gab, ist heute jedoch umstritten. Das Gleiche gilt für die Frage, ob das Waldsterben hierzulande jemals stattgefunden hat.


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