9. September 2018

Unterschiedliche Ausrüstung für das neue Schulfach Medien und Informatik

Freitagmorgen an der Schule Auzelg in Zürich Oerlikon. «Hossa, auf in die fünfte Klasse!», steht an der Wandtafel. «Schlagt bitte Seite 109 auf», sagt die Lehrerin Hanna Bichsel. Die Kinder blättern in ihren grünen Schulbüchern und legen diese neben ihre Tablets. Auf jedem Pult steht einer der flachen kleinen Computer, an einen aufklappbaren Ständer gelehnt und mit Tastatur versehen. Die Schülerinnen und Schüler beugen sich über ein Rasterbild mit schwarzen und weissen Kacheln. «Erkennt ihr es?», fragt die Lehrerin. «Genau, es ist der Kopf des Roboters von ‹Connected›», sagt sie und bittet, neben die Zeilen ein W für die weissen und ein S für die schwarzen Kacheln zu notieren. Was die Kinder noch nicht wissen: Sie sind gerade dabei, das Programmieren zu erlernen.
Jedem Schulkind sein Tablet? NZZ, 8.9. von Lena Schenkel


Mit dem neuen Schuljahr ist nicht nur der Lehrplan 21 und mit ihm das Fach Medien und Informatik (MI), sondern auch die Digitalisierung definitiv in den Zürcher Schulzimmern angekommen. Die Zeit der abgeschlossenen Computerzimmer ist endgültig vorbei. Die Kinder arbeiten mobil mit Tablets, Laptops oder einer Mischform, sogenannten Convertibles. Die Kompetenzen des Moduls Medien und Informatik sollen nicht nur im neuen Schulfach, sondern fächerübergreifend ab dem Kindergarten vermittelt werden – Letzteres gilt vor allem für die Anwendung von IT-Geräten. Wie viele davon pro Klasse verfügbar sind und wie oft diese unter dem Pult hervorgeholt oder eingeschaltet werden, variiert aber je nach Gemeinde stark.

Mehr, als der Kanton empfiehlt

Der Kanton macht diesbezüglich keine Vorgaben. Der Bildungsrat empfiehlt in Anlehnung an den ICT-Guide der gleichnamigen Fachstelle der Bildungsdirektion auf Mittelstufe eine 1:3- als Basis- und eine 1:2-Ausrüstung als «Power»-Variante, die es mittelfristig anzustreben gelte. Die Stadt Zürich als grösste Gemeinde im Kanton hat sich jedoch wie viele andere (siehe Tabelle) dazu entschieden, grosszügig aufzurüsten und ab der fünften Primarschulklasse jedem Kind ein Tablet zur Verfügung zu stellen. «Höchste Eisenbahn», nannte Schulvorsteher Filippo Leutenegger die Massnahme anlässlich eines Medientermins zum Thema. «Wenn wir nicht allen eines verteilen können, diskriminieren wir Einzelne», erklärte er. Schliesslich könnten sich nicht alle Familien ein solches Gerät leisten.
Lehrerin Hanna Bichsel freut es, dass es im Auzelg nun mehr Geräte gibt. «Die Kinder arbeiten damit nicht nur im Fach MI, sondern erstellen auch Tabellen in der Mathematik oder recherchieren für Vorträge im Internet», sagt sie. In der Musikstunde wird das Tablet zum Audiogerät, im Fach Gestalten zum Fotoapparat. «Früher gab es drei Digitalkameras für das ganze Schulhaus», erinnert sich Bichsel; «da kamen wir nirgends hin.» Auch einige Lehrmittel sind bereits auf mobile Geräte ausgerichtet. So bietet etwa die Online-Version von «Dis donc!» im Fach Französisch dem Niveau der Schülerin angepasste zusätzliche Übungen. Hinzu kommen Apps, die beispielsweise das Lesen- oder Vokabel-Lernen mit neuen Methoden ermöglichen.

Auch in Adliswil wird neuerdings MI unterrichtet. Anders als in der Nachbarstadt Zürich erhält hier aber nicht jeder Fünftklässler ein persönliches IT-Gerät. An der Schule Werd etwa teilen sich 340 Primarschulkinder 40 Tablets und 35 Laptops. «Meines Wissens haben wir damit eine der geringsten Gerätedichten im Kanton», sagt der Schulleiter Daniel Jud. Eine 1:1-Ausrüstung sei in der Planungsphase einmal angedacht gewesen, so der ehemalige ICT-Verantwortliche der Schule Adliswil, habe sich aber als zu teuer erwiesen. Trotzdem sei diese punktuell, zum Beispiel während des MI-Unterrichts, durchaus möglich. Die Stundenpläne seien so gestaltet, dass nie zwei Klassen gleichzeitig in diesem Fach unterrichtet würden, und die Geräte könnten online reserviert werden. Das sei relativ kurzfristig möglich, sagt Jud.

Ein spontanes Hervorholen des Tablets im Unterricht, etwa um kurz im Internet etwas nachzuschauen, sei dadurch aber nicht möglich. «Das Lehrplanmodul Medien und Informatik beinhaltet aber nicht nur das Programmieren oder die Arbeit mit dem Computer», betont Schulleiter Jud. Es gehe auch darum, den Kindern Medienkompetenzen zu vermitteln, ihnen die Chancen und Gefahren von Social-Media-Plattformen aufzuzeigen oder zu erklären, wie man sich auf diesen verhalte.

Stick statt persönliches Gerät

Ihre Daten abspeichern können die Adliswiler Schülerinnen auch, ohne ein persönliches Gerät zu besitzen: mittels Cloud, auf die sie von überall her zugreifen können. Ähnlich verfährt die Stadt Winterthur. Dort stehen jeder Primarschulklasse sechs Laptops zur Verfügung und ab 2019 jedem Schulhaus ein Pool an Tablets – die Verteilung bleibt den Schulen überlassen. Jeder Schüler und jede Lehrerin erhält zudem einen sogenannten Lernstick, der das Betriebssystem sowie sämtliche Materialien der Schule enthält und das Abspeichern persönlicher Daten ermöglicht. Der von einer Fachhochschule entwickelte USB-Stick lässt sich prinzipiell auch auf einem Gerät zu Hause verwenden.
«Natürlich wäre es schön, wenn jedes Kind ein eigenes Gerät hätte», sagt der Schulleiter in Adliswil, «aber es geht auch so.» Er habe durchaus Verständnis für den strategischen Entscheid der Schulpflege, der nicht allein finanziell begründet sei. Die Schule Adliswil wolle erst mit einer kleinen Ausstattung Erfahrungen sammeln und schrittweise erweitern. «Wir wollen das Geld nicht einfach zum Fenster hinauswerfen», sagt Jud. Dieses Vorgehen habe den positiven Nebeneffekt, die Eltern und Einwohner etappenweise ins Boot zu holen, die der IT-Aufrüstung mitunter auch kritisch gegenüberstünden. Um eine 1:1-Ausstattung komme man wohl allein der Digitalisierung der Lehrmittel wegen irgendwann nicht mehr herum.

Das sieht auch der Medienpädagoge Steve Bass so. «Wenn wir den Lehrplan 21 ernst nehmen, gibt es nur die Pro-Kopf-Ausrüstung als Ziel», sagt der ICT-Verantwortliche an der Schule Regensdorf. Eine solche wurde hier für Mittelstufenschüler vor zwei Jahren eingeführt, Schülerinnen der Unterstufe teilen sich zu zweit ein Tablet. Doch auch Bass hält einen Koffer mit Tablets für einen gangbaren Anfang. Überhaupt sei es mit dem Verteilen von Geräten nicht getan. Die Schulen müssten sich zuerst die pädagogischen und erst in einem zweiten Schritt die technischen Fragen stellen. In Regensdorf habe man sich schon vor zwölf Jahren überlegt, was die Schule in diesem Bereich brauche. Bereits 2016 überarbeitete sie ihren ICT-Guide: ein 105 Seiten starkes Regelwerk mit Fünfjahresplan. Regensdorf ist eine von 15 Schulen im Kanton, die ihr Konzept online gestellt haben.
Von diesen abgesehen ist nicht bekannt, für welche IT-Lösung sich die einzelnen Gemeinden entschieden haben – einen Überblick hat weder das Volksschulamt noch der Verband der Zürcher Schulpräsidentinnen und Schulpräsidenten. Dass die Schulen sehr unterschiedlich ausgerüstet sind, zeigt eine nicht repräsentative Umfrage des Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverbands (ZLV) vom April 2017: Laut dieser standen in zwei Dritteln der Schulzimmer zwei bis fünf Geräte zur Verfügung. 3 Prozent hatten mehr als zehn, 9 Prozent gar keines. Allerdings gab die Hälfte der Befragten an, zusätzlich Sets an Laptops oder Tablets ausleihen zu können. Viele Gemeinden dürften zum Start des neuen Lehrplans nochmals aufgerüstet haben, die Unterschiede bleiben aber gross, wie die Beispiele Adliswil und Zürich zeigen.

Vorwurf der Ungerechtigkeit

Für den ZLV-Präsidenten Christian Hugi ist dies stossend. «Wir Lehrer sehen die Bildungsgerechtigkeit in Gefahr», sagt er, hier lägen eindeutig die Grenzen der Gemeindeautonomie. Es gehe nicht an, dass die digitale Infrastruktur vom Budget abhänge und nach Schulkreis so stark variiere. Der ZLV wünscht sich eine einheitliche kantonale Regelung, wie es sie etwa in Luzern gibt. Das Argument der fehlenden rechtlichen Grundlage seitens des Volksschulamtes lässt Hugi nicht gelten: «Jedes Zürcher Schulkind hat Anrecht auf dieselbe Bildung, und der harmonisierte kantonale Lehrplan bietet durchaus eine Möglichkeit, für alle dieselben Verbindlichkeiten zu schaffen.»

Anders sieht dies die Zürcher Bildungsdirektion. Die Harmonisierung auf der Grundlage der Bundesverfassung betreffe lediglich Strukturen wie Schuleintrittsalter und Schulpflicht sowie Dauer und Ziele der Bildungsstufen. Der gemeinsame Lehrplan 21 setze inhaltlich neue Akzente in Medien und Informatik, die Infrastruktur der Schulen sei im Kanton Zürich aber in der Kompetenz der Gemeinden, heisst es dort auf Anfrage. Diese seien gesetzlich verpflichtet, die Lehrmittel und die notwendige Ausstattung zur Verfügung zu stellen.


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