Freitagmorgen
an der Schule Auzelg in Zürich Oerlikon. «Hossa, auf in die fünfte Klasse!»,
steht an der Wandtafel. «Schlagt bitte Seite 109 auf», sagt die Lehrerin Hanna
Bichsel. Die Kinder blättern in ihren grünen Schulbüchern und legen diese neben
ihre Tablets. Auf jedem Pult steht einer der flachen kleinen Computer, an einen
aufklappbaren Ständer gelehnt und mit Tastatur versehen. Die Schülerinnen und
Schüler beugen sich über ein Rasterbild mit schwarzen und weissen Kacheln.
«Erkennt ihr es?», fragt die Lehrerin. «Genau, es ist der Kopf des Roboters von
‹Connected›», sagt sie und bittet, neben die Zeilen ein W für die weissen und
ein S für die schwarzen Kacheln zu notieren. Was die Kinder noch nicht wissen:
Sie sind gerade dabei, das Programmieren zu erlernen.
Jedem Schulkind sein Tablet? NZZ, 8.9. von Lena Schenkel
Mit
dem neuen Schuljahr ist nicht nur der Lehrplan 21 und mit ihm das Fach Medien
und Informatik (MI), sondern auch die Digitalisierung definitiv in den Zürcher
Schulzimmern angekommen. Die Zeit der abgeschlossenen Computerzimmer ist
endgültig vorbei. Die Kinder arbeiten mobil mit Tablets, Laptops oder einer
Mischform, sogenannten Convertibles. Die Kompetenzen des Moduls Medien und
Informatik sollen nicht nur im neuen Schulfach, sondern fächerübergreifend ab
dem Kindergarten vermittelt werden – Letzteres gilt vor allem für die Anwendung
von IT-Geräten. Wie viele davon pro Klasse verfügbar sind und wie oft diese
unter dem Pult hervorgeholt oder eingeschaltet werden, variiert aber je nach
Gemeinde stark.
Mehr, als
der Kanton empfiehlt
Der
Kanton macht diesbezüglich keine Vorgaben. Der Bildungsrat empfiehlt in
Anlehnung an den ICT-Guide der gleichnamigen Fachstelle der Bildungsdirektion
auf Mittelstufe eine 1:3- als Basis- und eine 1:2-Ausrüstung als
«Power»-Variante, die es mittelfristig anzustreben gelte. Die Stadt Zürich als
grösste Gemeinde im Kanton hat sich jedoch wie viele andere (siehe Tabelle)
dazu entschieden, grosszügig aufzurüsten und ab der fünften Primarschulklasse
jedem Kind ein Tablet zur Verfügung zu stellen. «Höchste Eisenbahn», nannte Schulvorsteher
Filippo Leutenegger die Massnahme anlässlich eines Medientermins zum Thema.
«Wenn wir nicht allen eines verteilen können, diskriminieren wir Einzelne»,
erklärte er. Schliesslich könnten sich nicht alle Familien ein solches Gerät
leisten.
Lehrerin
Hanna Bichsel freut es, dass es im Auzelg nun mehr Geräte gibt. «Die Kinder
arbeiten damit nicht nur im Fach MI, sondern erstellen auch Tabellen in der
Mathematik oder recherchieren für Vorträge im Internet», sagt sie. In der
Musikstunde wird das Tablet zum Audiogerät, im Fach Gestalten zum Fotoapparat.
«Früher gab es drei Digitalkameras für das ganze Schulhaus», erinnert sich
Bichsel; «da kamen wir nirgends hin.» Auch einige Lehrmittel sind bereits auf
mobile Geräte ausgerichtet. So bietet etwa die Online-Version von «Dis donc!»
im Fach Französisch dem Niveau der Schülerin angepasste zusätzliche Übungen.
Hinzu kommen Apps, die beispielsweise das Lesen- oder Vokabel-Lernen mit neuen
Methoden ermöglichen.
Auch
in Adliswil wird neuerdings MI unterrichtet. Anders als in der Nachbarstadt
Zürich erhält hier aber nicht jeder Fünftklässler ein persönliches IT-Gerät. An
der Schule Werd etwa teilen sich 340 Primarschulkinder 40 Tablets und 35
Laptops. «Meines Wissens haben wir damit eine der geringsten Gerätedichten im
Kanton», sagt der Schulleiter Daniel Jud. Eine 1:1-Ausrüstung sei in der
Planungsphase einmal angedacht gewesen, so der ehemalige ICT-Verantwortliche
der Schule Adliswil, habe sich aber als zu teuer erwiesen. Trotzdem sei diese
punktuell, zum Beispiel während des MI-Unterrichts, durchaus möglich. Die
Stundenpläne seien so gestaltet, dass nie zwei Klassen gleichzeitig in diesem
Fach unterrichtet würden, und die Geräte könnten online reserviert werden. Das
sei relativ kurzfristig möglich, sagt Jud.
Ein
spontanes Hervorholen des Tablets im Unterricht, etwa um kurz im Internet etwas
nachzuschauen, sei dadurch aber nicht möglich. «Das Lehrplanmodul Medien und
Informatik beinhaltet aber nicht nur das Programmieren oder die Arbeit mit dem
Computer», betont Schulleiter Jud. Es gehe auch darum, den Kindern
Medienkompetenzen zu vermitteln, ihnen die Chancen und Gefahren von
Social-Media-Plattformen aufzuzeigen oder zu erklären, wie man sich auf diesen
verhalte.
Stick
statt persönliches Gerät
Ihre
Daten abspeichern können die Adliswiler Schülerinnen auch, ohne ein
persönliches Gerät zu besitzen: mittels Cloud, auf die sie von überall her
zugreifen können. Ähnlich verfährt die Stadt Winterthur. Dort stehen jeder
Primarschulklasse sechs Laptops zur Verfügung und ab 2019 jedem Schulhaus ein
Pool an Tablets – die Verteilung bleibt den Schulen überlassen. Jeder Schüler
und jede Lehrerin erhält zudem einen sogenannten Lernstick, der das
Betriebssystem sowie sämtliche Materialien der Schule enthält und das
Abspeichern persönlicher Daten ermöglicht. Der von einer Fachhochschule
entwickelte USB-Stick lässt sich prinzipiell auch auf einem Gerät zu Hause
verwenden.
«Natürlich
wäre es schön, wenn jedes Kind ein eigenes Gerät hätte», sagt der Schulleiter
in Adliswil, «aber es geht auch so.» Er habe durchaus Verständnis für den
strategischen Entscheid der Schulpflege, der nicht allein finanziell begründet
sei. Die Schule Adliswil wolle erst mit einer kleinen Ausstattung Erfahrungen
sammeln und schrittweise erweitern. «Wir wollen das Geld nicht einfach zum
Fenster hinauswerfen», sagt Jud. Dieses Vorgehen habe den positiven
Nebeneffekt, die Eltern und Einwohner etappenweise ins Boot zu holen, die der
IT-Aufrüstung mitunter auch kritisch gegenüberstünden. Um eine 1:1-Ausstattung
komme man wohl allein der Digitalisierung der Lehrmittel wegen irgendwann nicht
mehr herum.
Das
sieht auch der Medienpädagoge Steve Bass so. «Wenn wir den Lehrplan 21 ernst
nehmen, gibt es nur die Pro-Kopf-Ausrüstung als Ziel», sagt der
ICT-Verantwortliche an der Schule Regensdorf. Eine solche wurde hier für
Mittelstufenschüler vor zwei Jahren eingeführt, Schülerinnen der Unterstufe
teilen sich zu zweit ein Tablet. Doch auch Bass hält einen Koffer mit Tablets
für einen gangbaren Anfang. Überhaupt sei es mit dem Verteilen von Geräten
nicht getan. Die Schulen müssten sich zuerst die pädagogischen und erst in
einem zweiten Schritt die technischen Fragen stellen. In Regensdorf habe man
sich schon vor zwölf Jahren überlegt, was die Schule in diesem Bereich brauche.
Bereits 2016 überarbeitete sie ihren ICT-Guide: ein 105 Seiten starkes
Regelwerk mit Fünfjahresplan. Regensdorf ist eine von 15 Schulen im Kanton, die
ihr Konzept online gestellt haben.
Von
diesen abgesehen ist nicht bekannt, für welche IT-Lösung sich die einzelnen
Gemeinden entschieden haben – einen Überblick hat weder das Volksschulamt noch
der Verband der Zürcher Schulpräsidentinnen und Schulpräsidenten. Dass die
Schulen sehr unterschiedlich ausgerüstet sind, zeigt eine nicht repräsentative
Umfrage des Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverbands (ZLV) vom April 2017: Laut
dieser standen in zwei Dritteln der Schulzimmer zwei bis fünf Geräte zur
Verfügung. 3 Prozent hatten mehr als zehn, 9 Prozent gar keines. Allerdings gab
die Hälfte der Befragten an, zusätzlich Sets an Laptops oder Tablets ausleihen
zu können. Viele Gemeinden dürften zum Start des neuen Lehrplans nochmals
aufgerüstet haben, die Unterschiede bleiben aber gross, wie die Beispiele
Adliswil und Zürich zeigen.
Vorwurf
der Ungerechtigkeit
Für
den ZLV-Präsidenten Christian Hugi ist dies stossend. «Wir Lehrer sehen die
Bildungsgerechtigkeit in Gefahr», sagt er, hier lägen eindeutig die Grenzen der
Gemeindeautonomie. Es gehe nicht an, dass die digitale Infrastruktur vom Budget
abhänge und nach Schulkreis so stark variiere. Der ZLV wünscht sich eine
einheitliche kantonale Regelung, wie es sie etwa in Luzern gibt. Das Argument
der fehlenden rechtlichen Grundlage seitens des Volksschulamtes lässt Hugi
nicht gelten: «Jedes Zürcher Schulkind hat Anrecht auf dieselbe Bildung, und
der harmonisierte kantonale Lehrplan bietet durchaus eine Möglichkeit, für alle
dieselben Verbindlichkeiten zu schaffen.»
Anders
sieht dies die Zürcher Bildungsdirektion. Die Harmonisierung auf der Grundlage
der Bundesverfassung betreffe lediglich Strukturen wie Schuleintrittsalter und
Schulpflicht sowie Dauer und Ziele der Bildungsstufen. Der gemeinsame Lehrplan
21 setze inhaltlich neue Akzente in Medien und Informatik, die Infrastruktur
der Schulen sei im Kanton Zürich aber in der Kompetenz der Gemeinden, heisst es
dort auf Anfrage. Diese seien gesetzlich verpflichtet, die Lehrmittel und die
notwendige Ausstattung zur Verfügung zu stellen.
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