9. September 2018

Wettrennen um Zahl der Tablets

Erinnert sich noch jemand an die Zeiten, als die pädagogische Internationale fast in corpore nach Finnland pilgerte, ins Schulwunderland mit den besten Pisa-Resultaten? Vorbei. Interessiert keinen mehr. Estland ist jetzt das neue Finnland, weil Estland den andern Ländern offenbar weit voraus ist mit der Digitalisierung seiner Schulen. Man hat zwar keine Ahnung, was die hektischen Reformen der letzten zwanzig Jahre tatsächlich bewirkt haben, wie der oberste Schweizer Bildungsforscher Stefan Wolter kürzlich in diesen Spalten reichlich ernüchtert erklärt hat. Doch der nächste grosse Reformhype in der Schule ist gleichwohl bereits in vollem Gang.
Digitalisierung der Schulen: Vor falschen Hoffnungen sei gewarnt, NZZ, 8.9. von Martin Beglinger


Der zuständige Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann gab 2017 das entsprechende Motto für die Bildungspolitik vor. «Wir sollten uns später nicht den Vorwurf machen müssen, wir hätten irgendetwas verschlafen.» Und bei der Vorstellung des jüngsten nationalen Bildungsberichtes bekräftigte er vor kurzem: «Digitalisierung hat oberste Priorität.» Also wird man lieber mehr als weniger investieren, es dürften Hunderte von Millionen in den nächsten Jahren sein.

Einen ersten Eindruck von diesem grossen neuen Run liefert der Kanton Zürich, wo sich die Gemeinden derzeit ein Wettrennen über die Zahl der Tablets in den Klassen liefern. Ist nicht eines pro Kind das Beste? Aber sicher, wird jeder ICT-Verantwortliche sagen. Oder reicht ein Gerät für zwei, drei oder gar vier Kinder vollauf? Wer diese Meinung vertritt, gerät rasch unter Rechtfertigungsdruck.

Natürlich sei jedem Kind ein eigenes Schul-Tablet gegönnt, und selbstverständlich sind Investitionen in die Digitalisierung sinnvoll. Nur sei ebenso vor falschen Vorstellungen gewarnt, die mit der digitalen Aufrüstung im Klassenzimmer verbunden sind. Man kann sich die Kritik an Elternabenden gut ausmalen, wonach die Bildungschancen ungerecht verteilt sind, weil das eigene Kind ein Tablet teilen muss und jenes in der Nachbargemeinde nicht. Als würde die Zahl der Computer in den Klassen über gerechte Chancen in der Bildung entscheiden.

Schön wär's, es ginge so leicht, aber das glauben höchstens die Geräteverkäufer. So manchem Dreijährigen, der mit einem Tablet ruhiggestellt wird, wünschte man lieber Eltern, die mit ihrem Kind reden; die Antwort geben, wenn es etwas wissen will, und nochmals antworten, wenn es nachfragt.

Überall preist die IT-Industrie jetzt ihre neue Hard- und Software als grandiose Lösung für die Schule der Zukunft an. Von massgeschneidertem und individualisiertem Unterricht für jedes einzelne Kind ist gerne die Rede. Algorithmen sollen es nun richten. Keine Frage, man ist heute wesentlich weiter als mit den Sprachlabors, die vor vierzig Jahren mit viel Pomp eingeführt wurden und als einer der grössten und teuersten Flops in der Schulreformgeschichte endeten. Doch das Gemeinsame dahinter ist eine übersteigerte Hoffnung in die Technik.

Man muss gewiss nicht so weit gehen wie der Soziologe Richard Münch, der in seinem neuen Buch über den «Bildungsindustriellen Komplex» bereits den Untergang des gesamten Lehrberufes an die Wand malt – verdrängt durch einen von den IT-Giganten forcierten digitalen Unterricht. Aber gerade jetzt, am Anfang dieses Digitalisierungsschubes, lohnt es sich, eine der wenigen unbestrittenen Erkenntnisse der Bildungsforschung in Erinnerung zu rufen: Viel wichtiger als die Tablet-Versorgungsquote ist und bleibt, wie Eltern mit ihren Kindern umgehen und wer vor einer Klasse steht.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen