Erinnert sich noch jemand an die Zeiten, als die pädagogische
Internationale fast in corpore nach Finnland pilgerte, ins Schulwunderland mit
den besten Pisa-Resultaten? Vorbei. Interessiert keinen mehr. Estland ist jetzt
das neue Finnland, weil Estland den andern Ländern offenbar weit voraus ist mit
der Digitalisierung seiner Schulen. Man hat zwar keine Ahnung, was die
hektischen Reformen der letzten zwanzig Jahre tatsächlich bewirkt haben, wie
der oberste Schweizer Bildungsforscher Stefan Wolter kürzlich in diesen Spalten
reichlich ernüchtert erklärt hat. Doch der nächste grosse Reformhype
in der Schule ist gleichwohl bereits in vollem Gang.
Digitalisierung der Schulen: Vor falschen Hoffnungen sei gewarnt, NZZ, 8.9. von Martin Beglinger
Der zuständige Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann gab 2017 das
entsprechende Motto für die Bildungspolitik vor. «Wir sollten uns später nicht
den Vorwurf machen müssen, wir hätten irgendetwas verschlafen.» Und bei der
Vorstellung des jüngsten nationalen Bildungsberichtes bekräftigte er vor
kurzem: «Digitalisierung hat oberste Priorität.» Also wird man lieber mehr als
weniger investieren, es dürften Hunderte von Millionen in den nächsten Jahren
sein.
Einen ersten Eindruck von diesem grossen neuen Run liefert der Kanton
Zürich, wo sich die Gemeinden derzeit ein Wettrennen über die Zahl der Tablets
in den Klassen liefern. Ist nicht eines pro Kind das Beste? Aber sicher, wird
jeder ICT-Verantwortliche sagen. Oder reicht ein Gerät für zwei, drei oder gar
vier Kinder vollauf? Wer diese Meinung vertritt, gerät rasch unter
Rechtfertigungsdruck.
Natürlich sei jedem Kind ein eigenes Schul-Tablet gegönnt, und
selbstverständlich sind Investitionen in die Digitalisierung sinnvoll. Nur sei
ebenso vor falschen Vorstellungen gewarnt, die mit der digitalen Aufrüstung im
Klassenzimmer verbunden sind. Man kann sich die Kritik an Elternabenden gut
ausmalen, wonach die Bildungschancen ungerecht verteilt sind, weil das eigene
Kind ein Tablet teilen muss und jenes in der Nachbargemeinde nicht. Als würde
die Zahl der Computer in den Klassen über gerechte Chancen in der Bildung
entscheiden.
Schön wär's, es ginge so leicht, aber das glauben höchstens die
Geräteverkäufer. So manchem Dreijährigen, der mit einem Tablet ruhiggestellt
wird, wünschte man lieber Eltern, die mit ihrem Kind reden; die Antwort geben,
wenn es etwas wissen will, und nochmals antworten, wenn es nachfragt.
Überall preist die IT-Industrie jetzt ihre neue Hard- und Software als
grandiose Lösung für die Schule der Zukunft an. Von massgeschneidertem und
individualisiertem Unterricht für jedes einzelne Kind ist gerne die Rede.
Algorithmen sollen es nun richten. Keine Frage, man ist heute wesentlich weiter
als mit den Sprachlabors, die vor vierzig Jahren mit viel Pomp eingeführt
wurden und als einer der grössten und teuersten Flops in der
Schulreformgeschichte endeten. Doch das Gemeinsame dahinter ist eine
übersteigerte Hoffnung in die Technik.
Man muss gewiss nicht so weit gehen wie der Soziologe Richard Münch, der
in seinem neuen Buch über den «Bildungsindustriellen Komplex»
bereits den Untergang des gesamten Lehrberufes an die Wand malt – verdrängt
durch einen von den IT-Giganten forcierten digitalen Unterricht. Aber gerade
jetzt, am Anfang dieses Digitalisierungsschubes, lohnt es sich, eine der
wenigen unbestrittenen Erkenntnisse der Bildungsforschung in Erinnerung zu
rufen: Viel wichtiger als die Tablet-Versorgungsquote ist und bleibt, wie
Eltern mit ihren Kindern umgehen und wer vor einer Klasse steht.
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