26. September 2018

Gymnasien werden keine Orte des Wissens mehr sein

Zwanzig Jahre Euregio-Gymnasium: «Wir stimmen die Fächer auf die Bedürfnisse der Schüler ab», sagt Gründer Peter Fratton. Und in Zukunft seien Mittelschulen keine Orte des Wissens mehr.
Einen Ballon für jeden Maturanden, Thurgauer Zeitung, 14.9. von David Grob


Peter Fratton und Herbert Lippenberger, wie feiern Sie das 20-Jahr-Jubiläum des Euregio-Gymnasiums?
Herbert Lippenberger: Wir feiern in mehreren Etappen. Wir haben am Samstag ein grosses Alumni-Treffen hier vor dem alten Zollhaus. Wir werden dabei 267 Luftballons steigen lassen. Jeder einzelne Luftballon steht für einen absolvierten Maturanden aus den vergangenen 20 Jahren. Und in einer zweiten Etappe organisieren wir von November bis April eine Veranstaltungsreihe in der Sichtbar, mit dem Namen «Euregio schreibt und liest». Dort werden ehemalige Schüler in Vorträgen oder Podien auftreten und etwa zum Thema «Künstliche Intelligenz» reden.

Blicken wir doch kurz auf die Geschichte des Euregio-Gymnasiums zurück.
Peter Fratton: Wir haben das Gymnasium vor zwanzig Jahren deshalb aufgebaut, weil Eltern, deren Kinder bereits bei uns in der «Primaria» waren, Primarschule der SBW, nach einem ungebrochenen Bildungsweg bis zur Matura fragten. Wir sahen dann bald, dass sich auch Externe für unser Gymnasium interessierten. Der Grund liegt vermutlich darin, dass wir die Schweizerische Matura anbieten. Bei dieser sind wir völlig frei in der Fächergestaltung und können die Stundenzahl auf den Lernenden abstimmen. Es wird nicht eine bestimmte Anzahl Lektionen pro Fach vorgeschrieben, sondern es muss einfach am Ende die Maturaprüfung bestanden werden.

Lippenberger: Wir sind dabei nicht dem Kanton, sondern dem Bund unterstellt. So ist die Schule ein eigenständiges Angebot.

Wer geht ans Euregio-Gymnasium?
Lippenberger: Im Prinzip wollen wir unsere eigenen Leute aufnehmen. Aber wir haben auch ehemalige Kantonsschüler oder Lehrabbrecher, die zu uns kommen. Und – etwas abstrakt gesagt – Lernende mit negativen Bildungserfahrungen in den öffentlichen Schulen.

Gibt es eine Eintrittsprüfung?
Lippenberger: Nein. Wir hatten sogar schon mehrere Schüler, die gar keine Schule besucht haben, sondern zu Hause im Homeschooling unterrichtet wurden.

Im Namen Euregio steckt ja bereits die europäische Region: Wie viele deutsche Lernende besuchen Ihre Schule?
Lippenberger: Rund 20 Prozent. Allerdings zumeist Deutschstämmige, die in der Schweiz leben. Wir hatten einst drei Schüler aus Friedrichshafen, die jeweils mit der Fähre gekommen sind.

Was waren Höhepunkte in den vergangenen 20 Jahren?
Lippenberger: Im Prinzip ist jeder einzelne der 267 Maturanden ein Höhepunkt. Ein Höhepunkt ist aber auch das Zollhaus, in dem wir uns befinden. Peter Fratton und seine Frau haben dies vor elf Jahren sehr stilvoll und soft renoviert. Hier lebt viel vom Geist der letzten 150 Jahre weiter.

Was waren die grössten Veränderungen?
Fratton: Veränderungen geschehen in der Regel sehr subtil. Dadurch, dass wir frei sind und unsere Schüler nur die Prüfung bestehen müssen, kann der Unterricht total personalisiert werden. Gerade mit dem Lehrplan 21 wird dies ja auch von der öffentlichen Schule verfolgt. Diesen Ansatz haben wir bereits in den 80er-Jahren angewandt. Das Ziel muss erreicht werden, der Weg zum Ziel ist frei wählbar.

Lippenberger: Momentan haben wir eine Online-Datenbank angelegt, über welche die Lernenden auf die Unterlagen zurückgreifen können. Man muss aber auch aufpassen, denn es braucht immer auch den Menschen. Ein Lehrer muss erkennen, welche Potenziale ein Schüler hat.

Wie sieht die Philosophie des Euregio-Gymnasiums aus?
Fratton: Weil bei uns der Lehrer nicht die Prüfung abnimmt, sitzen der Lernende und der Lehrer eigentlich im gleichen Boot. Bei uns wird die Zusammenarbeit betont. Die Lehrer begleiten die Lernenden auch an die Prüfung. Ähnlich wie ein Sportcoach, der seinen Sportler am Wettkampf unterstützt. So nennen wir die Lehrer auch Lernbegleiter.

Lippenberger: Es ist wie eine Geburt. Ich komme mir jeweils vor wie eine Hebamme, wenn Lernende ihre Maturaprüfung ablegen. Wir sind Partner der Lernenden.

Was bezahlt man für das Euregio-Gymnasium?
Lippenberger: 2000 Franken pro Monat und Schüler.

Fratton: Eine solche Schule kann man nur besuchen, wenn die Eltern den nötigen finanziellen Hintergrund haben. Das ist der «Schissdreck». Für eine Familie mit drei Kindern ist es fast unmöglich, allen drei Kindern die gleichen Chancen zu geben. Und das ist ein Problem. Deutschland hat das besser gelöst: Durch das Sonderungsverbot, wonach allen Kindern der Besuch einer privaten Schule möglich sein muss, bewegt sich das Schulgeld im Rahmen von 180 Euro pro Monat, den Rest bezahlt der Staat.

Wie wird sich die Schule in den nächsten 20 Jahren verändern?
Fratton: Die Digitalisierung wird auch die Schulen verändern. Bisher bedeutete die Digitalisierung im Wesentlichen, dass bestehende Inhalte digital aufbereitet wurden. Ich denke, dass in Zukunft Gymnasien nicht mehr Orte sein werden, an denen man sich Wissen aneignet – dies kann auch von zu Hause aus geschehen –, sondern Orte des Zusammenkommens und des Austauschs von Wissen. Auch Universitäten werden sich dahin gehend verändern müssen. Vorlesungen sind ein Anachronismus.


Lippenberger: Deshalb wird unsere Veranstaltungsreihe auch die Digitalisierung behandeln. 

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