Schüler, Lehrlinge und Studenten gehen gegen
schlechte Noten vor Gericht. Dieses Jahr registrieren manche Schulen einen
Rekord an Rekursen. Dahinter steckt ein neues Business von Anwälten.
Trend von Klagen gegen unliebsame Entscheide hat auch die Schule erreicht, Karikatur von Silvan Wegmann
Vom Klassenzimmer in den Gerichtssaal: Anwälte decken Schulen mit Beschwerden ein, Schweiz am Wochenende, 22.9. von Yannick Nock und Andreas Maurer
Die Eltern von Sarah (11) können den Entscheid des
Schulrats nicht nachvollziehen. Sie wurde einer Sonderklasse zugeteilt. Die
Eltern bekämpfen den Beschluss durch alle Instanzen, vom Regierungsrat zum
Verwaltungsgericht bis zum Bundesgericht. Mit Urteil vom April entscheidet das
höchste Gericht, dass es auf die Beschwerde nicht einmal eintritt. Denn die
Eltern hätten nicht darlegen können, welche ihrer Rechte verletzt worden seien.
Einen
Schritt weiter kommt ein Student der Humanmedizin. Er erreicht immerhin, dass
das Bundesverwaltungsgericht auf seine Beschwerde eintritt. Er darf nicht Arzt
werden, weil er in einer Prüfung des Staatsexamens nur 972 von 1000 Punkten
erreicht hat. Das ist bitter, denn er liegt lediglich sieben Punkte unterhalb
der Bestehensgrenze. Sein bestes Argument: Die Universität habe ihm eine
uneingeschränkte Einsicht in die Prüfungsunterlagen verweigert. Sie gewährt ihm
nur eine Akteneinsichtsdauer von dreissig Minuten, wobei er sich einzig
handschriftliche Notizen machen durfte. Denn die Uni befürchtet, er könnte die
Informationen mit künftigen Kandidaten teilen. So werde sein rechtliches Gehör
verletzt, klagt er. Das Bundesverwaltungsgericht weist die Beschwerde mit
Urteil vom Mai ab.
Das sind zwei aktuelle Beispiele, die einen
grösseren Trend dokumentieren: Klagen gegen unliebsame Entscheidungen haben das
Bildungssystem erreicht. War es vor zwanzig Jahren kaum denkbar, Noten
anzufechten, ist das heute regelmässig der Fall. Es beginnt im Kindergarten,
geht über die Mittelschulen und endet an den Universitäten. Eltern streiten mit
Lehrern, Studenten mit Professoren – und schaffen damit ein neues Business.
Im
Gegensatz zu den Eltern der Primarschülerin hat der gescheiterte Medizinstudent
seine Beschwerde nicht selber formuliert. Er hat einen Anwalt damit beauftragt.
So schaffte er es, dass das Gericht zumindest inhaltlich auf seinen Fall
einging.
Mit
einem Klick zum Bildungsanwalt
Das
Geschäft mit der kleinen Hoffnung auf bessere Karrierechancen boomt. Kürzlich
hat ein Zürcher Start-up die Plattform fragdenanwalt.ch lanciert, auf der sie
Beratungsgespräche mit Anwälten vermittelt. Ein Angebot ist besonders beliebt:
das Anfechten von Prüfungsresultaten. Der Service wird zum Pauschalpreis von
298 Franken angeboten. Über ein Online-Formular kann man Angaben und Unterlagen
zur missglückten Prüfung hochladen. Durch die Digitalisierung sparen die
Beschwerdeführer Zeit und Geld. Für die 298 Franken erhält man allerdings erst
ein Beratungsgespräch. Bis zur Einreichung der Beschwerde werden insgesamt etwa
800 Franken fällig. Doch auch dies ist ein Dumping-Preis verglichen mit dem
üblichen nach dem Anwaltstarif verrechneten Aufwand. Das ist nur möglich, weil
die Beschwerden der Online-Anwälte relativ simpel gemacht sind. Sie bestehen
zum Teil aus zusammenkopierten Textbausteinen.
Didier
Kipfer, einer der Anwälte, die ihre Dienste auf der Online-Plattform anbieten,
sagt, in den Monaten August und September habe er am meisten Arbeit. Denn in
dieser Zeit werden die Lehrabschlussprüfungen angefochten. Aktuell laufe dieses
Geschäft so gut wie noch nie. Diesen Sommer habe er fast 50 Beratungsgespräche
durchgeführt. In etwa einem Drittel der Fälle rate er zu einer Beschwerde. Ab
der Note 3,7 sehe er grundsätzlich eine Chance. Etwa jede dritte seiner
Beschwerden werde gutgeheissen, sagt er. Häufige Gründe seien, dass
Prüfungsreglemente nicht eingehalten würden. Zudem werde oft etwas anderes
geprüft als abgemacht.
Auch der Rechtsdienst der Zürcher Bildungsdirektion
hat dieses Jahr besonders viel zu tun. 2018 haben im Kanton Zürich 85 Schüler
einen Rekurs gegen nicht bestandene Gymnasiums-Aufnahmeprüfungen eingelegt. Das
sind über fünfzig Prozent mehr als im Vorjahr und es ist die höchste Zahl seit
Beginn der Statistik im Jahr 2005. Damals waren es erst 29 Rekurse. Insgesamt
gehen an Zürcher Schulen rund 300 Rekurse in einem Jahr ein.
Im Kanton St. Gallen ist die Zahl der im Bildungsdepartement deponierten Beschwerden deutlich angestiegen: von 85 im Jahr 2012 auf 111 im Jahr 2017.
Die Zürcher Regierung stellt fest, dass Eltern
vermehrt Anteil an der Schullaufbahn ihrer Kinder nähmen und häufiger den
Kontakt mit Lehrern und Schulleitungen suchten.
Bernard Gertsch, Präsident des Schulleiterverbandes, zeigt Verständnis für die Anliegen der Eltern. Er sagt: «Durch die Digitalisierung und den technischen Fortschritt wird es in 20 Jahren viele Berufe in der heutigen Form nicht mehr geben.» Das bereite vielen Eltern Sorge. Zudem seien sie nicht mehr an autoritäre Instanzen gewöhnt. Väter und Mütter fühlten sich oft missverstanden und sähen ihren Nachwuchs unfair behandelt. Die Folge: Die Spannungen an den Schulen steigen.
Bernard Gertsch, Präsident des Schulleiterverbandes, zeigt Verständnis für die Anliegen der Eltern. Er sagt: «Durch die Digitalisierung und den technischen Fortschritt wird es in 20 Jahren viele Berufe in der heutigen Form nicht mehr geben.» Das bereite vielen Eltern Sorge. Zudem seien sie nicht mehr an autoritäre Instanzen gewöhnt. Väter und Mütter fühlten sich oft missverstanden und sähen ihren Nachwuchs unfair behandelt. Die Folge: Die Spannungen an den Schulen steigen.
Das
spiegelt sich auch in der Wahrnehmung des Lehrerberufs. Eine der wenigen
internationalen Studien zum Thema, der «Global Teacher Status Index», kam
bereits 2013 zu einem bemerkenswerten Schluss: Schüler und Eltern in China
haben den grössten Respekt vor der Lehrerschaft. Die Schweiz landet hingegen
auf Platz 15 von 21. Gemäss der Studie ist in der Schweizer Bevölkerung die
Ansicht verbreitet, viele Lehrer würden keinen guten Job machen. Oft schwingt
dabei unterschwellig der Vorwurf mit: «Der Lehrer ruiniert die Berufschancen
meines Kindes.»
Die
Auswirkungen unterscheiden sich von Kanton zu Kanton. Im Aargau sorgen vor
allem Streitigkeiten um den Schulweg und die Zuteilung auf die Schulhäuser für
Beschwerden. Einen Grund dafür sieht die Regierung darin, dass die Kinder heute
früher eingeschult werden und Schulen zentralisiert worden sind.
Wie
man die Probleme lösen könnte
Der
Kanton Bern glaubt, ein Mittel gegen die Rekursflut gefunden zu haben. Die
Schulinspektoren würden vermehrt «mediativ» arbeiten, erklärt ein Sprecher der
Erziehungsdirektion. Sie suchen das Gespräch mit den Eltern, um Probleme
einvernehmlich zu lösen. Deshalb würden aktuell weniger Beschwerden als in den
Vorjahren registriert.
Für
die Berner Art der Problemlösung setzt sich die Elternorganisation «Schule und
Elternhaus Schweiz» ein. Vorstandsmitglied Gordana Reuffurth sagt, beide Seiten
– Schule und Eltern – müssten öfter miteinander sprechen. «Ausserdem sollten
die Schulen besser informieren.» Besonders Zugezogene, die sich nicht im
Schweizer Bildungssystem auskennen, würden oft nicht verstehen, dass später
auch Jugendliche eine Hochschule besuchen könnten, die nicht ans Gymnasium
gegangen sind.
Damit die
Schulkonflikte weniger häufig vor Gericht landen, braucht es aus der Sicht von
Lehrerpräsident Beat Zemp aber mehr. Er fordert, dass die Kantone unabhängige Ombudsstellen einrichten,
an die sich Eltern wenden können, wenn Sie sich ungerecht behandelt fühlen. So
könnten Konflikte frühzeitig gelöst werden.
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