Geht es nach dem Walliser Bildungsdirektor, sollen
Erst- und Zweitkindergärtner ab dem kommenden Schuljahr jeweils einen Halbtag
mehr zur Schule. An einer Podiumsdiskussion am Dienstag wurde deutlich, dass es
bei dieser Reform um mehr geht als um vier Lektionen. Und dass Christophe
Darbellay dabei von der eigenen Vergangenheit eingeholt wird.
Kampf um das Wohl des Kindes, Walliser Bote, 7.9. von David Biner
«Heute
bin ich ein schlechter Vater.» Christophe Darbellay versucht es mit Humor.
Eigentlich sollte er am Elternabend seiner Tochter sein. Aber der Walliser
Bildungsdirektor steht an diesem Dienstagabend im Foyer des Hauses der
Generationen in Steg. Vor ihm sitzen dicht gedrängt ein paar Männer. Und mehr
als 150 Frauen. Darunter Kindergärtnerinnen, Logopädinnen,
Kommissionsmitglieder, Primarschullehrerinnen. Und Mütter. Er selbst, sagt
Darbellay, dessen Frau die Gemeinde Martinach-Combe im 50-Prozent-Pensum
präsidiert, er selbst arbeite rund 70 bis 80 Stunden die Woche. Jeweils volles
Programm an den Wochenenden, viele Sitzungen und Veranstaltungen wie eben jene
an diesem Abend. «Ich versuche, an zwei Abenden die Woche daheim zu sein. Sonst
sind meine Kinder nicht so happy.» Nur wenige der anwesenden Frauen lächeln mit
Darbellay über die Alltagssorgen eines Staatsrats. Und es kümmert sie wenig,
wie der CVP-Mann Amt und Familie unter einen Hut bringt. Draussen wartet der
staatsrätliche Dienstwagen, die Chauffeuse gönnt sich eine Zigarette.
Eigentlich
lud das Haus der Generationen zu einer Fachveranstaltung. «Schulzeitmodelle und
Bedürfnisse von Eltern und Kindern», so der Aufmacher. Laut einer Studie des
Kantons sind im Wallis 74 Prozent der Mütter erwerbstätig. Bei den
alleinerziehenden sind es 88 Prozent. Deshalb sei die gute Vereinbarkeit von
Beruf und Familie ein wichtiges Thema für den Grossteil der Walliser Eltern,
wird die kinderlose CVP-Nationalrätin Viola Amherd im Veranstaltungsflyer
zitiert. Es geht um Blockzeiten und Tagesstrukturen. Um Lebensentwürfe,
Selbstverwirklichung. Und natürlich: um das Wohl des Kindes. Die
Podiumsdiskussion plätschert so dahin, offen. Bis Manfred Kuonen,
CSPO-Suppleant und Präsident der Leuker Schulkommission, daran erinnert: «Es
gibt aber auch Mütter, die sagen: ‹Ich will mein Kind mittags daheim haben.›»
Das Foyer explodiert. Beifallsgeschrei. «Bravo», brabbeln einige Frauen.Zuerst
noch so, als wollten sie nicht, dass man sie hört. Im Verlauf des Abends dann
immer öfters und lauter. «Jawohl!»
Bierkeller-Stimmung
Die
Frauen sind nicht gekommen, um zu hören, wie CSP-Suppleant Egon Werlen, einer
der Podiumsgäste und Vater einer Tochter, seine Woche organisiert. Viel mehr
wollten sie von Darbellay endlich wissen, wie er seine angekündigten
Reformpläne umzusetzen gedenkt. Wie viele Stunden die Kindergärtner mehr zu
Schule sollen. Und ab wann (siehe Kasten unten). Und dann wollten sie ihm vor
allem klarmachen, dass sie da nicht mitmachen. Entsprechend wurde im Vorfeld
des Podiums mobilisiert. Eine Umfrage des Oberwalliser Primarlehrervereins
wurde herumgereicht. Gut 70 von schätzungsweise 150 Kindergärtnerinnen im
Oberwallis haben daran teilgenommen. Und 75 Prozent davon wollen den
zusätzlichen Halbtag nicht. Bereits vor den Sommerferien nutzte in Brig eine
Primarlehrerin die Bühne eines Info-Abends, um die Eltern auf die Seite der
Lehrerinnen zu bringen. Für jede Unterstützung gegen Darbellays Pläne sei man
dankbar, ereiferte sich die Lehrerin. Den Applaus vieler Eltern hatte sie
auf sicher.
Das Thema
ist emotional. Es geht um mehr als ein paar Schullektionen mehr oder weniger.
Bildungspolitik ist auch Familienpolitik. Und wie in keinem anderen Bereich des
hiesigen Bildungssystems treffen auf Kindergarten-Stufe die beiden
Institutionen Familie und Schule aufeinander. Ab wann ist die Schule zuständig?
Soll sie bloss Wissen vermitteln und was und wie viel soll sie den Kindern
darüber hinaus auf den Weg geben?
«Die
Eltern dürfen nicht die ganze Verantwortung an die Schule abschieben», sagt
eine Mutter, als die Podiumsrunde am Ende eröffnet wird.Applaus. Man könne doch
nicht Kinder machen, um sie dann einfachabzuschieben, sagte eine andere Mutter
mit zittriger Stimme, den Tränen nahe. Eine ganze Generation werde von dieser
Negativ-Erfahrung geprägt. Noch mehr Applaus. Bierkeller-Stimmung,
pädagogischer Kulturpessimismus im Haus der Generationen. Der Grundton: Jetzt
werden unsere Kinder bereits mit vier Jahren eingeschult. Und jetzt müssen sie
noch längerbleiben.
An eine
sachliche Diskussion war am Dienstagabend nicht zu denken. Weil Podiumsleiterin
Romaine Schnyder, die das Zentrum für Entwicklung und Therapie des Kindes und
Jugendlichen ZET leitet, ihren Vorgesetzten Darbellay nicht direkt den
aufgebrachten Frauen ausliefern wollte; sie schien die Diskussion um die Reform
so lange wie möglich hinauszuzögern. Und weil von den hartgesottenen
Gegnerinnen des Bildungsdirektors keine an einem Austausch interessiert war.
Darbellay, der in seiner langen Polit-Karriere meist dann am stärksten wurde,
wenn er in Bedrängnis geriet, macht derweil den Fehler, die politische Ebene
allzu oft zu verlassen, um die Dinge aus der eigenen, privaten Warte zu
betrachten. Er selbst sei auch mit vier Jahren eingeschult worden. «Und?»,
fragt er rhetorisch: So schlimm sei er nun auch nicht geworden. «Oder muss ich
zuerst noch einen Doktor konsultieren?!» Dann argumentierte er wirtschaftlich,
dass «ihr Frauen!» auf dem Arbeitsmarkt gefragt seid. Und dass nun auch
Kindergärtnerinnen endlich auf ein 100-Prozent-Pensum kämen, wenn man die Anzahl
Lektionen erhöhen würde. Manch eine im Publikum fühlte sich angegriffen, als
würde er den Frauen Faulheit vorwerfen.
Schliesslich
wird der Walliser Bildungsdirektor von seiner Vergangenheit eingeholt;
besonders bei Familien-Themen. Als er demonstrativ ins Publikum rief, er selbst
kenne die Sorgen der Eltern, weil er «drei kleine Kinder» habe, reagierte das
Publikum mit lautem Raunen und selbstgefälligem Gelächter. Dass er sein
viertes, uneheliches Kind nicht erwähnt, weckt bei vielen Frauen den Mutterinstinkt.
Und es schadet seiner Glaubwürdigkeit, dann, wenn er sich wie am Dienstag im
Spannungsfeld zwischen Familie und Schule bewegt. Nach dem Podium zeigt sich
der Bildungsdirektor derweil wenig beeindruckt von der Stimmung zuvor. Eins,
zwei Häppchen beim Apéro, hier und da ein Schwatz. Der Dienstwagen wartet. Die
Kinder aller Anwesenden sind längst im Bett.
Um was geht es?
Bildungsdirektor
Christophe Darbellay hat die Reform nach Amtsantritt 2017 angekündigt und macht
jetzt ernst: Ab dem kommenden Schuljahr 2019/20 soll die Anzahl Lektionen im
ersten Kindergarten (1H) von 12 auf 16 und im zweiten Kindergarten (2H) von 24
auf 28 erhöht werden. Also einen Halbtag mehr in der Woche. Die Reform betrifft
den ganzen Kanton und kostet schätzungsweise rund zwei Millionen Franken.
Demnächst will sich das Departement mit dem Verband der Walliser Gemeinden
austauschen, zumal die Organisation der Schule in der Kompetenz der Kommunen
liegt; der Kanton gibt den Rahmen vor. Die Reform kann der Gesamtstaatsrat im
Alleingang auf dem Verordnungsweg umsetzen. Gut möglich, dass sich die
Lehrerinnen und Mütter mithilfe von Grossräten und deren Vorstösse zu Wort
melden. Denn an der Basis regt sich Widerstand. In einer selbst durchgeführten
Umfrage sprachen sich 75 Prozent der teilnehmenden Lehrer gegen die Erhöhung
der Stunden aus. Die Umfrage ist samt Erläuterungen auf www.vlpo.ch
aufgeschaltet.
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