9. September 2018

Eltern gegen Ausbau der Schulzeit

Geht es nach dem Walliser Bildungsdirektor, sollen Erst- und Zweitkindergärtner ab dem kommenden Schuljahr jeweils einen Halbtag mehr zur Schule. An einer Podiumsdiskussion am Dienstag wurde deutlich, dass es bei dieser Reform um mehr geht als um vier Lektionen. Und dass Christophe Darbellay dabei von der eigenen Vergangenheit eingeholt wird.
Kampf um das Wohl des Kindes, Walliser Bote, 7.9. von David Biner


«Heute bin ich ein schlechter Vater.» Christophe Darbellay versucht es mit Humor. Eigentlich sollte er am Elternabend seiner Tochter sein. Aber der Walliser Bildungsdirektor steht an diesem Dienstagabend im Foyer des Hauses der Generationen in Steg. Vor ihm sitzen dicht gedrängt ein paar Männer. Und mehr als 150 Frauen. Darunter Kindergärtnerinnen, Logopädinnen, Kommissionsmitglieder, Primarschullehrerinnen. Und Mütter. Er selbst, sagt Darbellay, dessen Frau die Gemeinde Martinach-Combe im 50-Prozent-Pensum präsidiert, er selbst arbeite rund 70 bis 80 Stunden die Woche. Jeweils volles Programm an den Wochenenden, viele Sitzungen und Veranstaltungen wie eben jene an diesem Abend. «Ich versuche, an zwei Abenden die Woche daheim zu sein. Sonst sind meine Kinder nicht so happy.» Nur wenige der anwesenden Frauen lächeln mit Darbellay über die Alltagssorgen eines Staatsrats. Und es kümmert sie wenig, wie der CVP-Mann Amt und Familie unter einen Hut bringt. Draussen wartet der staatsrätliche Dienstwagen, die Chauffeuse gönnt sich eine Zigarette.

Eigentlich lud das Haus der Generationen zu einer Fachveranstaltung. «Schulzeitmodelle und Bedürfnisse von Eltern und Kindern», so der Aufmacher. Laut einer Studie des Kantons sind im Wallis 74 Prozent der Mütter erwerbstätig. Bei den alleinerziehenden sind es 88 Prozent. Deshalb sei die gute Vereinbarkeit von Beruf und Familie ein wichtiges Thema für den Grossteil der Walliser Eltern, wird die kinderlose CVP-Nationalrätin Viola Amherd im Veranstaltungsflyer zitiert. Es geht um Blockzeiten und Tagesstrukturen. Um Lebensentwürfe, Selbstverwirklichung. Und natürlich: um das Wohl des Kindes. Die Podiumsdiskussion plätschert so dahin, offen. Bis Manfred Kuonen, CSPO-Suppleant und Präsident der Leuker Schulkommission, daran erinnert: «Es gibt aber auch Mütter, die sagen: ‹Ich will mein Kind mittags daheim haben.›» Das Foyer explodiert. Beifallsgeschrei. «Bravo», brabbeln einige Frauen.Zuerst noch so, als wollten sie nicht, dass man sie hört. Im Verlauf des Abends dann immer öfters und lauter. «Jawohl!»

Bierkeller-Stimmung
Die Frauen sind nicht gekommen, um zu hören, wie CSP-Suppleant Egon Werlen, einer der Podiumsgäste und Vater einer Tochter, seine Woche organisiert. Viel mehr wollten sie von Darbellay endlich wissen, wie er seine angekündigten Reformpläne umzusetzen gedenkt. Wie viele Stunden die Kindergärtner mehr zu Schule sollen. Und ab wann (siehe Kasten unten). Und dann wollten sie ihm vor allem klarmachen, dass sie da nicht mitmachen. Entsprechend wurde im Vorfeld des Podiums mobilisiert. Eine Umfrage des Oberwalliser Primarlehrervereins wurde herumgereicht. Gut 70 von schätzungsweise 150 Kindergärtnerinnen im Oberwallis haben daran teilgenommen. Und 75 Prozent davon wollen den zusätzlichen Halbtag nicht. Bereits vor den Sommerferien nutzte in Brig eine Primarlehrerin die Bühne eines Info-Abends, um die Eltern auf die Seite der Lehrerinnen zu bringen. Für jede Unterstützung gegen Darbellays Pläne sei man dankbar, ereiferte sich die Lehrerin. Den Applaus vieler Eltern hatte sie auf sicher.

Das Thema ist emotional. Es geht um mehr als ein paar Schullektionen mehr oder weniger. Bildungspolitik ist auch Familienpolitik. Und wie in keinem anderen Bereich des hiesigen Bildungssystems treffen auf Kindergarten-Stufe die beiden Institutionen Familie und Schule aufeinander. Ab wann ist die Schule zuständig? Soll sie bloss Wissen vermitteln und was und wie viel soll sie den Kindern darüber hinaus auf den Weg geben?

«Die Eltern dürfen nicht die ganze Verantwortung an die Schule abschieben», sagt eine Mutter, als die Podiumsrunde am Ende eröffnet wird.Applaus. Man könne doch nicht Kinder machen, um sie dann einfachabzuschieben, sagte eine andere Mutter mit zittriger Stimme, den Tränen nahe. Eine ganze Generation werde von dieser Negativ-Erfahrung geprägt. Noch mehr Applaus. Bierkeller-Stimmung, pädagogischer Kulturpessimismus im Haus der Generationen. Der Grundton: Jetzt werden unsere Kinder bereits mit vier Jahren eingeschult. Und jetzt müssen sie noch längerbleiben.

An eine sachliche Diskussion war am Dienstagabend nicht zu denken. Weil Podiumsleiterin Romaine Schnyder, die das Zentrum für Entwicklung und Therapie des Kindes und Jugendlichen ZET leitet, ihren Vorgesetzten Darbellay nicht direkt den aufgebrachten Frauen ausliefern wollte; sie schien die Diskussion um die Reform so lange wie möglich hinauszuzögern. Und weil von den hartgesottenen Gegnerinnen des Bildungsdirektors keine an einem Austausch interessiert war. Darbellay, der in seiner langen Polit-Karriere meist dann am stärksten wurde, wenn er in Bedrängnis geriet, macht derweil den Fehler, die politische Ebene allzu oft zu verlassen, um die Dinge aus der eigenen, privaten Warte zu betrachten. Er selbst sei auch mit vier Jahren eingeschult worden. «Und?», fragt er rhetorisch: So schlimm sei er nun auch nicht geworden. «Oder muss ich zuerst noch einen Doktor konsultieren?!» Dann argumentierte er wirtschaftlich, dass «ihr Frauen!» auf dem Arbeitsmarkt gefragt seid. Und dass nun auch Kindergärtnerinnen endlich auf ein 100-Prozent-Pensum kämen, wenn man die Anzahl Lektionen erhöhen würde. Manch eine im Publikum fühlte sich angegriffen, als würde er den Frauen Faulheit vorwerfen.

Schliesslich wird der Walliser Bildungsdirektor von seiner Vergangenheit eingeholt; besonders bei Familien-Themen. Als er demonstrativ ins Publikum rief, er selbst kenne die Sorgen der Eltern, weil er «drei kleine Kinder» habe, reagierte das Publikum mit lautem Raunen und selbstgefälligem Gelächter. Dass er sein viertes, uneheliches Kind nicht erwähnt, weckt bei vielen Frauen den Mutterinstinkt. Und es schadet seiner Glaubwürdigkeit, dann, wenn er sich wie am Dienstag im Spannungsfeld zwischen Familie und Schule bewegt. Nach dem Podium zeigt sich der Bildungsdirektor derweil wenig beeindruckt von der Stimmung zuvor. Eins, zwei Häppchen beim Apéro, hier und da ein Schwatz. Der Dienstwagen wartet. Die Kinder aller Anwesenden sind längst im Bett.

Um was geht es?
Bildungsdirektor Christophe Darbellay hat die Reform nach Amtsantritt 2017 angekündigt und macht jetzt ernst: Ab dem kommenden Schuljahr 2019/20 soll die Anzahl Lektionen im ersten Kindergarten (1H) von 12 auf 16 und im zweiten Kindergarten (2H) von 24 auf 28 erhöht werden. Also einen Halbtag mehr in der Woche. Die Reform betrifft den ganzen Kanton und kostet schätzungsweise rund zwei Millionen Franken. Demnächst will sich das Departement mit dem Verband der Walliser Gemeinden austauschen, zumal die Organisation der Schule in der Kompetenz der Kommunen liegt; der Kanton gibt den Rahmen vor. Die Reform kann der Gesamtstaatsrat im Alleingang auf dem Verordnungsweg umsetzen. Gut möglich, dass sich die Lehrerinnen und Mütter mithilfe von Grossräten und deren Vorstösse zu Wort melden. Denn an der Basis regt sich Widerstand. In einer selbst durchgeführten Umfrage sprachen sich 75 Prozent der teilnehmenden Lehrer gegen die Erhöhung der Stunden aus. Die Umfrage ist samt Erläuterungen auf www.vlpo.ch aufgeschaltet.


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