Bildungsökonom Stefan Wolter über den Lehrermangel
und wie Kinder besser lernen.
"Grössere Klassen machen am meisten Sinn", Schweiz am Wochenende, 11.8. von Yannick Nock
Herr
Wolter, der Lehrermangel wird sich durch die stark steigenden Schülerzahlen
verschärfen. Welche Kantone sind am stärksten betroffen?
Stefan Wolter: Auf der
Primarstufe benötigen wir bis 2025 rund 5 Prozent mehr Lehrer als heute. In
einigen Kantonen wie Thurgau, Fribourg oder dem Aargau sogar deutlich mehr.
Allerdings steigt der Bedarf nicht im gleichen Masse wie die Schülerzahlen, da
der Bund in seinen Prognosen von grösseren Klassen ausgeht, die einen Teil des
Schülerwachstums auffangen werden.
Leidet nicht der Lernerfolg, wenn die
Klassen grösser werden?
Falls es sich nur um ein, zwei Schüler pro Klasse
handelt, hat das auf die durchschnittliche Leistung der Kinder keinen Einfluss.
Die Unterrichtsqualität bleibt gleich gut. Es sei denn, die Klasse besteht
bereits aus mehr als 25 Schülern, dann wird es heikel.
Dabei sagen Lehrer schon
heute, die durchschnittliche Klassengrösse von 19 Kindern sei zu hoch.
Wenn das
der Fall ist, frage ich mich, was in fünf Jahren sein wird. Dann werden sie
sich mit Freude an heute erinnern, als die Verhältnisse im Vergleich noch
hervorragend waren. Pädagogisch gesehen, machen grössere Klassen am meisten
Sinn. Sie ermöglichen es, die Entwicklung aufzufangen, ohne dass die Leistungen
der Schüler darunter leiden. Das Hauptproblem ist nicht die durchschnittliche
Klassengrösse, sondern dass Schulen auf die Leistungsunterschiede der Klassen
oft keine Rücksicht nehmen. In vergleichbaren Gemeinden unterrichten Lehrer
heute Klassen mit 15 Schülern, im Nachbarort mit 25.
Wie lässt sich dieses
Problem lösen?
Das ist nicht so einfach und wird jetzt noch schwieriger, denn
der Anstieg ist sehr ungleich verteilt. In Ballungsgebieten – den Städten und
Agglomerationen – wird es mehr Schüler geben, in manchen Regionen auf dem Land
hingegen weniger. Dabei stammen gerade in der Agglomeration viele Kinder aus
Familien mit Migrationshintergrund. Sie würden am meisten von kleineren Klassen
und einer intensiveren Betreuung profitieren.
Welche Massnahmen sind möglich,
die nicht die Klassengrösse betreffen?
Eine weitere Möglichkeit besteht in
weniger Teilzeitarbeit. In Kantonen wie Aargau, Luzern oder Solothurn gibt es
viele Primarlehrerinnen und -lehrer, die in einem 50-Prozent- oder noch
tieferen Pensum unterrichten. Allerdings bezweifle ich, dass sie freiwillig ihr
Pensum erhöhen, denn oft geht es um die Vereinbarkeit mit dem Familienleben.
Wenn man die Situation ändern will, geht das wohl nur, wenn höhere
Pflichtpensen in den Schulen gesetzlich verankert werden, wie es im Kanton Genf
der Fall ist. Dort müssen Primarlehrer mindestens zu 50 Prozent unterrichten,
die meisten arbeiten sogar Vollzeit.
Das schreckt doch angehende Lehrer und
potenzielle Quereinsteiger ab.
Das ist oft das Gegenargument, es gibt
allerdings kaum verlässliche Erhebungen dazu. In Genf ist der Lehrermangel
nicht grösser als in anderen Kantonen. Viele Faktoren spielen eine Rolle, nicht
nur das Pensum.
Können neue technische Errungenschaften Lehrer unterstützen und
damit den Unterricht verbessern?
Die grosse Hoffnung der Schulen ist die
Digitalisierung. Neue technische Hilfsmittel erlauben Lehrern, grössere Klassen
individuell und effizient zu unterrichten. Programme, die den Lernfortschritt
jedes einzelnen Kindes festhalten und die idealen Übungen auswählen, entlasten
die Lehrerinnen und Lehrer ungemein. Gegen grössere Klassen wird oft
eingewandt, dass die Lehrperson die individuelle Betreuung nicht mehr
gewährleisten kann. Eine Lernsoftware könnte dem entgegenwirken.
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