Am
Montag beginnt in mehreren Kantonen das neue Schuljahr. Tausende Kinder werden
erstmals im Klassenzimmer sitzen und erwartungsfroh auf ihren Lehrer oder ihre
Lehrerin blicken. Was sie nicht wissen: Die Schulen stehen an einem Wendepunkt.
Die neue Generation wird unter anderen Bedingungen unterrichtet als ihre
älteren Geschwister. Grund dafür sind die steigenden Schülerzahlen. Sie werden
historische Höchstwerte erreichen. Die Folge: Die durchschnittliche
Klassengrösse von 19 Kindern steigt. Darin sind sich Bund, Lehrer und Experten
einig.
Schulen in der Teilzeitfalle, Schweiz am Wochenende, 11.8. von Yannick Nock
Doch
selbst Klassen von 21 Schülern werden den Anstieg nicht komplett auffangen
können. Schon heute suchen die Kantone dringend neue Lehrkräfte. Der oberste
Lehrer der Schweiz, Beat Zemp, warnt deshalb vor einem Lehrermangel: «Im
Vergleich zu 2015 werden 2025 fast 120 000 zusätzliche Schülerinnen und Schüler
in den Klassenzimmern sitzen», sagt er. «Das wird ein massiver Zuwachs.» Hinzu
kommt, dass viele Pädagogen bald in Pension gehen.
Teilzeitverbot in Genf
Ein
weiterer Trend verschärft die ohnehin angespannte Situation: Der Lehrerberuf
ist zum Teilzeitjob geworden. Arbeiteten Primarlehrer vor 20 Jahren meistens
Vollzeit, ist das längst nicht mehr der Fall. Die Erstklässler haben zwar einen
Klassenlehrer oder eine Klassenlehrerin, sie sind aber nicht mehr jeden Tag an
der Schule. Frauen und Männer mit kleineren Pensen füllen die Lücke.
Spitzenreiter
ist der Aargau. In keinem anderen Kanton arbeiten mehr Lehrer Teilzeit. Gemäss
Bildungsbericht 2018 unterrichtet fast die Hälfte der Aargauer
Primarlehrerinnen und -lehrer in einem Pensum unter 50 Prozent. Auch in Luzern,
Solothurn oder Bern sind die Pädagogen öfter in tiefen Pensen beschäftigt
(siehe Tabelle). Ganz anders im Kanton Genf. Dort arbeiten Primarlehrer fast
immer Vollzeit. Das ist kein Zufall, denn die Stellen werden entweder zu 100
Prozent oder im Jobsharing (2 mal 50 Prozent) ausgeschrieben. Der Kanton hat
diese Regelung durchgesetzt, um einen Lehrermangel zu verhindern. Es ist
faktisch ein Teilzeitverbot.
Nun
könnte das Modell auch in anderen Regionen zum Vorbild werden. Es wäre die wohl
effektivste Art, den Lehrermangel zu beheben. Denn Quereinsteiger und Studenten
auszubilden, kostet viel Geld. «Würde jede Lehrkraft ihr Pensum um nur 10
Prozent erhöhen, gäbe es keinen Lehrermangel», sagt Stefan Wolter, Direktor der
Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung und Professor an der
Universität Bern (siehe Interview rechts). «Wenn sich der Lehrermangel
verschärft, müssen die Kantone über ein Pflichtpensum diskutieren.» Nur noch
Vollzeit-Stellen anzubieten, wäre laut Wolter allerdings kontraproduktiv. Das
würde eine Kündigungswelle auslösen. Ein Mindestpensum von 50 bis 60 Prozent
sei allerdings vorstellbar.
Das
Modell hat bereits einige Befürworter. Für Rolf Dubs, renommierter Pädagoge und
emeritierter Professor der Universität St. Gallen (HSG), ist die
Teilzeit-Kultur ein Fehler: «Auf der Primarstufe sollten Teilzeitstellen
komplett vermieden werden», sagt er. Dabei geht es nicht um Massnahmen zur
Überwindung des Lehrermangels,
sondern
um die soziale und emotionale Beziehung der Lehrerinnen und Lehrer zu ihren
Schülern.
Frauenfeindliche Regel?
«Ein
gutes Verhältnis zwischen Kind und Lehrer ist entscheidend für den schulischen
Erfolg», sagt er. Die Kleinen müssten spüren, dass ein Klassenlehrer ständig
für sie da ist. Dieses Vertrauen sei schwierig zu vermitteln, wenn sich mehrere
Lehrer eine Stelle teilen. Zudem würden auch Schulreisen und andere Aktivitäten
darunter leiden. «Dass immer weniger Klassen- oder Skilager durchgeführt
werden, liegt auch daran, dass sich niemand mehr dafür verantwortlich fühlt.»
Ganz
neu ist die Idee des Teilzeitverbots nicht. 2013 kündigte der Kanton Freiburg
an, Kleinpensen von 20 oder 30 Prozent für Lehrer zu verbieten. Es folgte ein
Aufschrei der Lehrer. Als kontraproduktiv und frauenfeindlich bezeichnete
Lehrerpräsident Zemp das Vorhaben, weil über 80 Prozent der
Primarschullehrkräfte Frauen sind. Der Kanton gab wegen des öffentlichen Drucks
nach. Die Situation war damals allerdings eine andere: Die Schülerzahlen sanken
zu der Zeit.
Zemp
weist darauf hin, dass die Vollzeitpensen heute nicht immer freiwillig
reduziert werden. Oft sei es der letzte Ausweg, weil die Arbeitsbelastung für
Lehrpersonen deutlich gestiegen sei. Deshalb kann er dem Genfer Modell nichts
abgewinnen. «Würde man diese unflexible Regelung schweizweit einführen, könnten
wir das Bildungssystem in der heutigen Form nicht aufrechterhalten.»
Rund 70
Prozent der Lehrer in der Schweiz arbeiten Teilzeit. Dass die Sonderregelung in
der Westschweiz funktioniert, hat laut Zemp einen einfachen Grund: «Genf
bezahlt die höchsten Löhne für Primarlehrpersonen und kann es sich daher
leisten, eine solche Vorgabe zu machen.»
Der
Lehrerpräsident hält deshalb andere Massnahmen für sinnvoller. Der Verband
unterstützt das Vorhaben, mehr Männer für die Primarschule zu gewinnen. Der
Bedarf ist gross, wie Zahlen des Bundes zeigen. So werden die Kantone
Basel-Stadt, Graubünden oder Thurgau über die nächsten Jahre bis zu 20 Prozent
zusätzliche Primarlehrer benötigen. Dabei droht die Lage schon heute zu
eskalieren. Ein Lehrerstreik wurde beispielsweise in Baselland kürzlich nur
knapp abgewendet.
Bei der
Anpassung der Pensen bleibt Zemp vorsichtig. Falls sich die Situation aber
verschlechtern sollte, werde der Verband bei seinen Mitgliedern für eine
Aufstockung der Pensen werben. «Aber natürlich auf freiwilliger Basis.»
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