9. August 2018

Hohe Maturitätsquote lässt Studenten auflaufen

Politische Debatten über Schulreformen sind heute häufig Debatten über das Gymnasium. Sie konzentrieren sich auf die Frage, ob die Maturitätsquote zu hoch oder zu niedrig ist. Das unlängst von den Akademien der Wissenschaft Schweiz herausgegebene Weissbuch «Zukunft Bildung Schweiz» ist da nur das letzte Beispiel.
Das Gymnasium wird überbewertet, Luzerner Zeitung, 2.8. von Mario Andreotti



2017 haben mehr als ein Drittel der jungen Erwachsenen in der Schweiz einen Maturitätsabschluss erworben. Mit 20,8 Prozent ist die gymnasiale Maturitätsquote laut dem Bundesamt für Statistik so hoch wie noch nie, wobei es einzelne Kantone, wie etwa Genf, Tessin und Basel-Stadt, auf über 30 Prozent bringen. Trotzdem gibt es, vor allem im akademischen Bereich, Stimmen, welche die Maturitätsquote in der Schweiz, im Vergleich zu jener der Nachbarländer, für zu niedrig halten und sich daher eine Erhöhung wünschen. Sie argumentieren gerne mit der Ablösung der Industriegesellschaft durch die postindustrielle Informationsgesellschaft, in der Wissen immer wichtiger werde. Dazu beklagen sie den zunehmenden Fachkräftemangel, dem nur begegnet werden könne, wenn mehrjunge Menschen über eine höhere Bildung verfügen. Andernfalls verliere die Schweiz international den Anschluss.

Das tönt auf den ersten Blick recht einleuchtend. Aber eben nur auf den ersten Blick. Es wäre ein Leichtes, aufzuzeigen, dass Länder mit einem verschulten Bildungssystem, das heisst mit einer überdurchschnittlich hohen Maturitätsquote, die höchste Jugendarbeitslosigkeit verzeichnen: Italien 35 Prozent, Spanien 53 Prozent, Griechenland 55 Prozent. Dabei ist das Gefühl, auf dem Arbeitsmarkt nicht gebraucht zu werden, für einen jungen Menschen die grösste Demütigung.

Und was die Schweiz betrifft, da liesse sich ebenfalls zeigen, dass in Kantonen mit einer Maturitätsquote von deutlich mehr als 20 Prozent sich die spätere Ausfallsquote an den Universitäten mindestens verdoppelt. Entweder sind viele der Studierenden schon in den ersten Prüfungen überfordert oder sie brechen das Studium aus anderen Gründen vorzeitig ab. So meine Erfahrung als Dozent. Machen wir uns eines klar: Nicht wenige Gymnasien, vor allem in Kantonen mit einer hohen Maturitätsquote, bescheinigen in den Maturitätszeugnissen Studierfähigkeit, wo diese nicht gegeben ist. Wir haben heute, als Folge des Übergangs vom Elite- zum Massengymnasium, viel zu viele Gymnasiasten, die den intellektuellen Anforderungen eines Gymnasiums im Grunde nicht gewachsen sind.

Obwohl uns die Erfahrung etwas anderes lehrt, sind auch wir in der Schweiz zunehmend geneigt, die Qualität der Bildung an den Maturitätsquoten zu messen. Rudolf H. Strahm, der ehemalige Preisüberwacher, warnt zu Recht vor der Akademisierungsfalle, in der viele Länder bereits sitzen. Er spricht von einem «beachtlichen Bildungsdünkel» und einer «Fehleinschätzung des Fachkräfteproblems» und plädiert für den dualen Bildungsweg, also für eine Ausbildung, die sowohl im Betrieb als auch in der Berufsschule erfolgt, wie sie in der Schweiz Tradition hat.

Angesichts der Tatsache, dass der Konkurrenzkampf um den Berufsnachwuchs hart ist, dass allein im Kanton St. Gallen Ende Mai dieses Jahres 1500 Lehrstellen noch offen waren, wird man Strahm recht geben müssen. Wenn die Akademisierung der Gesellschaft fortschreitet, immer mehrjunge Menschen eine Matura machen, haben die Betriebe zunehmend Schwierigkeiten, die anspruchsvollen Lehrstellen zu besetzen.


Und niemand wird behaupten wollen, dass heute in zahlreichen Berufslehren von Lehrlingen, neben ihrem ausgeprägten Praxisbezug, weniger Fachwissen gefordert wird als von Studierenden an Hochschulen. Dazu kommt, dass unser Bildungssystem längst durchlässig ist, der Weg zu einer erfolgreichen beruflichen Laufbahn und einem tertiären Berufsabschluss grundsätzlich jedem offensteht. So sind wir denn gut beraten, wenn wir akademische Bildung und duale Berufsbildung nicht gegeneinander ausspielen, sondern als zwei gleichwertige, sich ergänzende Bildungssysteme betrachten. Eine geringe Jugendarbeitslosigkeit ist der Dank dafür.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen