Politische
Debatten über Schulreformen sind heute häufig Debatten über das Gymnasium. Sie
konzentrieren sich auf die Frage, ob die Maturitätsquote zu hoch oder zu
niedrig ist. Das unlängst von den Akademien der Wissenschaft Schweiz
herausgegebene Weissbuch «Zukunft Bildung Schweiz» ist da nur das letzte
Beispiel.
Das Gymnasium wird überbewertet, Luzerner Zeitung, 2.8. von Mario Andreotti
2017
haben mehr als ein Drittel der jungen Erwachsenen in der Schweiz einen
Maturitätsabschluss erworben. Mit 20,8 Prozent ist die gymnasiale
Maturitätsquote laut dem Bundesamt für Statistik so hoch wie noch nie, wobei es
einzelne Kantone, wie etwa Genf, Tessin und Basel-Stadt, auf über 30 Prozent
bringen. Trotzdem gibt es, vor allem im akademischen Bereich, Stimmen, welche
die Maturitätsquote in der Schweiz, im Vergleich zu jener der Nachbarländer,
für zu niedrig halten und sich daher eine Erhöhung wünschen. Sie argumentieren
gerne mit der Ablösung der Industriegesellschaft durch die postindustrielle
Informationsgesellschaft, in der Wissen immer wichtiger werde. Dazu beklagen
sie den zunehmenden Fachkräftemangel, dem nur begegnet werden könne, wenn
mehrjunge Menschen über eine höhere Bildung verfügen. Andernfalls verliere die
Schweiz international den Anschluss.
Das
tönt auf den ersten Blick recht einleuchtend. Aber eben nur auf den ersten
Blick. Es wäre ein Leichtes, aufzuzeigen, dass Länder mit einem verschulten
Bildungssystem, das heisst mit einer überdurchschnittlich hohen
Maturitätsquote, die höchste Jugendarbeitslosigkeit verzeichnen: Italien 35
Prozent, Spanien 53 Prozent, Griechenland 55 Prozent. Dabei ist das Gefühl, auf
dem Arbeitsmarkt nicht gebraucht zu werden, für einen jungen Menschen die
grösste Demütigung.
Und was
die Schweiz betrifft, da liesse sich ebenfalls zeigen, dass in Kantonen mit
einer Maturitätsquote von deutlich mehr als 20 Prozent sich die spätere
Ausfallsquote an den Universitäten mindestens verdoppelt. Entweder sind viele
der Studierenden schon in den ersten Prüfungen überfordert oder sie brechen das
Studium aus anderen Gründen vorzeitig ab. So meine Erfahrung als Dozent. Machen
wir uns eines klar: Nicht wenige Gymnasien, vor allem in Kantonen mit einer hohen
Maturitätsquote, bescheinigen in den Maturitätszeugnissen Studierfähigkeit, wo
diese nicht gegeben ist. Wir haben heute, als Folge des Übergangs vom Elite-
zum Massengymnasium, viel zu viele Gymnasiasten, die den intellektuellen
Anforderungen eines Gymnasiums im Grunde nicht gewachsen sind.
Obwohl
uns die Erfahrung etwas anderes lehrt, sind auch wir in der Schweiz zunehmend
geneigt, die Qualität der Bildung an den Maturitätsquoten zu messen. Rudolf H.
Strahm, der ehemalige Preisüberwacher, warnt zu Recht vor der
Akademisierungsfalle, in der viele Länder bereits sitzen. Er spricht von einem
«beachtlichen Bildungsdünkel» und einer «Fehleinschätzung des
Fachkräfteproblems» und plädiert für den dualen Bildungsweg, also für eine
Ausbildung, die sowohl im Betrieb als auch in der Berufsschule erfolgt, wie sie
in der Schweiz Tradition hat.
Angesichts
der Tatsache, dass der Konkurrenzkampf um den Berufsnachwuchs hart ist, dass
allein im Kanton St. Gallen Ende Mai dieses Jahres 1500 Lehrstellen noch offen
waren, wird man Strahm recht geben müssen. Wenn die Akademisierung der
Gesellschaft fortschreitet, immer mehrjunge Menschen eine Matura machen, haben
die Betriebe zunehmend Schwierigkeiten, die anspruchsvollen Lehrstellen zu
besetzen.
Und
niemand wird behaupten wollen, dass heute in zahlreichen Berufslehren von
Lehrlingen, neben ihrem ausgeprägten Praxisbezug, weniger Fachwissen gefordert
wird als von Studierenden an Hochschulen. Dazu kommt, dass unser Bildungssystem
längst durchlässig ist, der Weg zu einer erfolgreichen beruflichen Laufbahn und
einem tertiären Berufsabschluss grundsätzlich jedem offensteht. So sind wir
denn gut beraten, wenn wir akademische Bildung und duale Berufsbildung nicht
gegeneinander ausspielen, sondern als zwei gleichwertige, sich ergänzende Bildungssysteme
betrachten. Eine geringe Jugendarbeitslosigkeit ist der Dank dafür.
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