12. August 2018

Sollen Sport, Zeichnen und Musik selektionsrelevant sein?

Am Montag beginnt in beiden Basel die Schule. Für die 6.-Klässler ist es ein besonders wegweisendes Jahr. Es entscheidet sich, ob sie die künftigen drei Jahre im Niveau P, E oder A absolvieren werden. Wer in den leistungsstärksten Zug eingeteilt wird, der wird mit hoher Wahrscheinlichkeit das Gymnasium besuchen und später an der Uni studieren. Wer es «nur» ins schwächste Niveau A schafft, der wird sich nach drei Jahren mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Lehrstelle suchen müssen. 
Soll in der Schule nur noch das Hirn zählen, Schweiz am Wochenende, 11.8. von Leif Simonsen


In kaum einem anderen Land werden die Weichen so früh gestellt wie in der Schweiz, was auch von Bildungsexperten kritisiert wird. Deshalb wird ein besonderes Augenmerk auf die Selektionskriterien gerichtet. Welche Fächer entscheiden über die Zuteilung? In Basel-Stadt wird diese Frage in der Schullaufbahnverordnung beantwortet. Seit der Umstellung auf Harmos zählen alle Fächer. Deutsch, Mathe und Natur/Mensch/Gesellschaft dreifach, Französisch und Englisch eineinhalbfach, Gestalten, Musik und Bewegung/Sport einfach. 

Nun arbeitet das Erziehungsdepartement an einer neuen Schullaufbahnverordnung, wie die «Schweiz am Wochenende» weiss. Diese soll bereits im nächsten Schuljahr in Kraft treten. Nach der Harmos-bedingten Umstellung auf drei Sekundarschuljahre will das Erziehungsdepartement von Conradin Cramer (LDP) über die Bücher. Im September und Oktober plant es eine Konsultation bei Personalverbänden, allen voran der Schulkonferenz. Diskussionen sind garantiert. Denn im Zentrum der Debatte wird stehen, welche Rolle die sogenannt «nicht kognitiven» Fächer einnehmen sollen. Es geht dabei um diese Frage: Was soll mein sportliches, handwerkliches oder musisches Talent in der Schule für einen Stellenwert haben? 

Integrative Kraft gewisser Fächer 
Konservative und progressive Kräfte spalten hier selbst die Lehrer. Gaby Hintermann, Präsidentin der Basler Schulkonferenz, sagt: «Es steht eine ähnlich interessante Debatte an wie bei der letzten Veränderung der Schullaufbahnverordnung.» Besonders im Fokus steht die Gestaltung. Sie selber unterrichtet am Theobald-Baerwart-Schulhaus Deutsch, ist in jüngster Zeit aber gerade von Fachkolleginnen von der Bedeutung der gestaltenden Fächer überzeugt worden. «Hier sind auch wichtige Fähigkeiten gefragt. Genauso wie in der Sprache und in der Mathematik geht es darum, zu begreifen und zu interpretieren, darüber hinaus aber auch um die Schulung des räumlich-praktischen Vorstellungsvermögens, das dann beispielsweise eine Chirurgin später ebenso braucht.» Dass SchülerInnen ihre bildnerischen Fähigkeiten in der Schule in Fächern wie Handarbeit, Werken und Zeichnen weiterentwickeln können, trüge auch einen wichtigen Teil zur Integration bei, denn viele hätten dazu zu Hause nicht die Möglichkeiten. 

Auch die Bildungspolitiker werden die Veränderungen intensiv verfolgen. Joël Thüring, SVP-Grossrat und Mitglied der grossrätlichen Bildungskommission, ist gegenüber einer Aufwertung der nicht kognitiven Fächer skeptisch. Eigentlich nur weil die Motivation in diesen Fächern ganz verloren gehen könnte, will er deren Promotionsrelevanz nicht ganz abschaffen. «Aber im Vergleich zu Englisch und Französisch sollte es etwas weniger ins Gewicht fallen, finde ich.» Sein Vorschlag im Sinn eines Kompromisses: Französisch und Englisch stärker gewichten, Sport, Musik und Werken leicht schwächen. Im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte haben sich die Anforderungen an die SchulabgängerInnen stark weiterentwickelt. Beat Zemp, Präsident des Schweizerischen Lehrerdachverbands, erinnert sich an die Zeit, als er selber zur Schule ging: «Ein Drittel der Schüler meines Jahrgangs startete direkt nach der obligatorischen Schulzeit ins Erwerbsleben.» Heute wollen wir, dass 95 Prozent der SchülerInnen einen Abschluss auf der Sekundarstufe II, sei es eine Matur oder eine Berufslehre, haben. Das Verdienst des Schulsystems sei, dass auch nicht kognitive Fähigkeiten mit in die gesamtheitliche Bewertung einfliessen würden. «Schon Pestalozzi sagte, dass Kopf, Herz und Hand zusammengehören», sagt Zemp. Immerhin: Dank dem Lehrplan 21 sei man dieser Vorstellung nähergekommen. Hier steht bekanntlich die Vermittlung von Kompetenzen und nicht das reine Pauken von Wissen im Zentrum. Gemäss einigen Experten ist man dabei nicht genügend weit gegangen. Der deutsche Philosoph Richard David Precht sagte gerade diese Woche in einem Interview mit dem «Blick»: Selbst an den Gymnasien würden Schülerinnen und Schüler zu Sekretärinnen ausgebildet, mit Selbstbefähigung habe das nichts zu tun. Eine umstrittene Haltung, wie der Bildungsexperte Rüttimann darlegt. 

Fächer haben sich weiterentwickelt 
Auch im Baselbiet wird – unabhängig von der Schulstufe - seit Jahrzehnten darüber diskutiert, welche Fächer zählen sollen und welche nicht. Hier ist beim Übertritt von der Primarschule in die Sek nicht der Notenschnitt, sondern die Empfehlung des Lehrers oder der Lehrerin ausschlaggebend. Mit der Anpassung in Basel-Stadt dürfte das Thema nun auch im Landkanton neu befeuert werden. SP-Landrat Martin Rüegg sagt: «Ich bin der Meinung, dass dies in beiden Kantonen gleich gehandhabt werden sollte.» Er setzt sich seit langem für eine gesamtheitlichere Ausbildung ein – wenngleich nicht auf Primarschulniveau. Bereits vor zwölf Jahren reichte Rüegg, der selber Sport am Gymnasium unterrichtet, eine Motion ein, dank der im Landkanton der Sportunterricht im Progymnasium promotionsrelevant wurde. Er hatte mehr verlangt: Nämlich, dass der Sport auch am Gymnasium zählt. Vor zwei Jahren wies er den Regierungsrat auf das «unschöne Jubiläum» hin: Noch immer sei Sport an den Baselbieter Gymnasien kein Promotionsfach. Seine Argumente klingen ähnlich wie diejenigen der Gestaltungs-, Hauswirtschafts- oder Musiklehrer, die ihr Fach gestärkt haben wollen. «Die gesellschaftliche und schulische Bedeutung des Fachs hat in den vergangenen Jahren stetig zugenommen.» Sport sei nicht mehr einfach nur «schnell laufen» oder «einen grossen Bizeps haben». Vielmehr könne die Bildungsrelevanz nachgewiesen werden. «Die Verknüpfung von praktischem Handeln und theoretischem Wissen gelingt hier speziell gut.» Rüegg hat sich die Stärkung des Sportunterrichts auf die Fahne geschrieben, unterstützt aber auch die Bestrebungen, die anderen nicht kognitiven Fächer aufzuwerten. «Der Sport ist genauso wenig nur Sackhüpfen wie Gestaltung nur Häkeln ist. Diese Fächer haben einen enormen Wandel durchgemacht. Ich will eine Allgemeinbildung haben, die diesen Namen verdient. Dazu gehören das Lesen und das Schreiben, aber eben nicht nur.» 

Selbst konservative Kreise wollen keine Geringschätzung gegenüber den angesprochenen Fächern haben. Dass eine gewisse Skepsis selbst in Lehrerkreisen spürbar ist, hat andere Gründe. So sagt beispielsweise Gaby Hintermann: «Je mehr Fächer zählen, desto höher wird der Druck auf die Schüler, weil überall rekursfähige Leistungserhebungen erbracht werden müssen. Diese Belastung wird ebenfalls von vielen beklagt.» So werde es viel mehr um ein Abwägen gehen, ob das Gewicht, das eine Note einem Fach gibt, den Preis rechtfertigt.

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