28. August 2018

Vom Lernen und Vergessen

Bei einer Utopie-Konferenz, die vor kurzem an der Universität Lüneburg stattfand, wurde auch über Bildung gesprochen. Die Zukunft, so hörten wir, werde ganz andere Formen des Lernens verlangen. Vor allem werde es nicht mehr um einen Stoff gehen, dieses Wort sollte verboten werden, und auch nicht mehr um ein Lernen im rein kognitiven Sinn, denn alle Untersuchungen zeigten, dass das meiste, was Kinder und Jugendliche in Schulen lernten, wieder vergessen werde.
Vieles vergessen, NZZ, 28.8. von Konrad Paul Liessmann


Nur das, so die These, was mit starken emotionalen Erfahrungen und Erlebnissen verbunden sei, bleibe im Gedächtnis.

All das ist zwar keine Zukunftsmusik, sondern gehört seit langem zum rhetorischen Arsenal der Reformpädagogik, aber es klingt trotzdem noch immer plausibel.
Schaut man jedoch genauer hin, entdeckt man an dieser beliebten Kritik einer angeblich antiquierten Lernkultur selbst einige erschreckende Züge. Man stelle sich vor, es gelänge tatsächlich, Kinder und Jugendliche ununterbrochen so mit emotionalen Erfahrungen zu versorgen, dass sie diese nie mehr vergessen könnten: Solch eine Schule wäre zweifellos die Hölle.

Dass Leerläufe und die Möglichkeit, sich innerlich zu dispensieren, essenziell zur Logik des Lernens gehören, hat eine erfahrungsversessene Pädagogik leider vergessen.
Vergessen hat die Pädagogik aber auch, über das Vergessen selbst nachzudenken. Der Sinn des Lernens im Zuge von Bildungsprozessen besteht nämlich nicht darin, sich alles für alle Zeiten zu merken.

Das Gedächtnis ist keine Festplatte, auf der etwas gespeichert und danach jederzeit wieder abgerufen werden kann, sondern es arbeitet prinzipiell selektiv.

Leben selbst, nicht nur Lernen, ist ein Wechselspiel von Erinnern und Vergessen. Es kann sinnvoll sein, den Versuch zu unternehmen, etwas Gelerntes zu behalten, indem man ständig daran weiterarbeitet, es kann aber auch sinnvoll sein, etwas nur für eine bestimmte Situation zu lernen und dann wieder zu vergessen.

Das Vergessen hinterlässt Spuren. Wer etwas lernt und dann wieder vergisst, ist deshalb ein anderer als der, der nicht durch diesen Prozess gegangen ist. Gelesene Bücher, deren Inhalt man mehr oder weniger vergessen hat, sind etwas ganz anderes als ungelesene Bücher.

Und wenn Bildung etwas mit dem Kennenlernen unterschiedlicher Formen und Disziplinen des Wissens zu tun hat, mit der Auseinandersetzung mit verschiedenen Konzepten der Weltdeutung und Weltbegegnung, dann bedeutet dies immer auch, sich irgendwann auf einiges davon zu konzentrieren und anderes allmählich wieder zu vergessen. Aber hätte man nicht die Möglichkeit gehabt, vieles zu lernen, hätte man bestimmte Wege nicht einschlagen können. Unterricht auf das beschränken zu wollen, was später nützt, ist deshalb immer der falsche Ansatz. Niemand weiss, was später nützen wird.

Die alltagssprachliche Rede, dass man auch im Geistigen manches erst verdauen müsse, weiss, wovon sie spricht.

Natürlich soll man lernen, um etwas zu erfahren und zu wissen. Man muss dazu aber nicht nur viel aufnehmen, sondern vieles auch wieder ausscheiden, um das zu behalten, was letztlich die Bildung ausmacht. Lehrerinnen und Lehrer sollten sich ruhig dazu bekennen, dass sie Dinge lehren – ja: einen Stoff anbieten –, von denen vieles früher oder später wieder vergessen werden wird. Aber jeder Schüler, jede Schülerin wird anders und anderes vergessen.

Und genau darum geht es.

Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien. Es gibt keine Fragen, die seiner Kolumne fremd sind.


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