Bei einer Utopie-Konferenz,
die vor kurzem an der Universität Lüneburg stattfand, wurde auch über Bildung
gesprochen. Die Zukunft, so hörten wir, werde ganz andere Formen des Lernens
verlangen. Vor allem werde es nicht mehr um einen Stoff gehen, dieses Wort
sollte verboten werden, und auch nicht mehr um ein Lernen im rein kognitiven
Sinn, denn alle Untersuchungen zeigten, dass das meiste, was Kinder und
Jugendliche in Schulen lernten, wieder vergessen werde.
Vieles vergessen, NZZ, 28.8. von Konrad Paul Liessmann
Nur
das, so die These, was mit starken emotionalen Erfahrungen und Erlebnissen
verbunden sei, bleibe im Gedächtnis.
All
das ist zwar keine Zukunftsmusik, sondern gehört seit langem zum rhetorischen
Arsenal der Reformpädagogik, aber es klingt trotzdem noch immer plausibel.
Schaut
man jedoch genauer hin, entdeckt man an dieser beliebten Kritik einer angeblich
antiquierten Lernkultur selbst einige erschreckende Züge. Man stelle sich vor,
es gelänge tatsächlich, Kinder und Jugendliche ununterbrochen so mit
emotionalen Erfahrungen zu versorgen, dass sie diese nie mehr vergessen
könnten: Solch eine Schule wäre zweifellos die Hölle.
Dass
Leerläufe und die Möglichkeit, sich innerlich zu dispensieren, essenziell zur
Logik des Lernens gehören, hat eine erfahrungsversessene Pädagogik leider
vergessen.
Vergessen
hat die Pädagogik aber auch, über das Vergessen selbst nachzudenken. Der Sinn
des Lernens im Zuge von Bildungsprozessen besteht nämlich nicht darin, sich
alles für alle Zeiten zu merken.
Das
Gedächtnis ist keine Festplatte, auf der etwas gespeichert und danach jederzeit
wieder abgerufen werden kann, sondern es arbeitet prinzipiell selektiv.
Leben
selbst, nicht nur Lernen, ist ein Wechselspiel von Erinnern und Vergessen. Es
kann sinnvoll sein, den Versuch zu unternehmen, etwas Gelerntes zu behalten,
indem man ständig daran weiterarbeitet, es kann aber auch sinnvoll sein, etwas
nur für eine bestimmte Situation zu lernen und dann wieder zu vergessen.
Das
Vergessen hinterlässt Spuren. Wer etwas lernt und dann wieder vergisst, ist
deshalb ein anderer als der, der nicht durch diesen Prozess gegangen ist.
Gelesene Bücher, deren Inhalt man mehr oder weniger vergessen hat, sind etwas
ganz anderes als ungelesene Bücher.
Und
wenn Bildung etwas mit dem Kennenlernen unterschiedlicher Formen und
Disziplinen des Wissens zu tun hat, mit der Auseinandersetzung mit
verschiedenen Konzepten der Weltdeutung und Weltbegegnung, dann bedeutet dies
immer auch, sich irgendwann auf einiges davon zu konzentrieren und anderes
allmählich wieder zu vergessen. Aber hätte man nicht die Möglichkeit gehabt,
vieles zu lernen, hätte man bestimmte Wege nicht einschlagen können. Unterricht
auf das beschränken zu wollen, was später nützt, ist deshalb immer der falsche
Ansatz. Niemand weiss, was später nützen wird.
Die
alltagssprachliche Rede, dass man auch im Geistigen manches erst verdauen
müsse, weiss, wovon sie spricht.
Natürlich
soll man lernen, um etwas zu erfahren und zu wissen. Man muss dazu aber nicht
nur viel aufnehmen, sondern vieles auch wieder ausscheiden, um das zu behalten,
was letztlich die Bildung ausmacht. Lehrerinnen und Lehrer sollten sich ruhig
dazu bekennen, dass sie Dinge lehren – ja: einen Stoff anbieten –, von denen
vieles früher oder später wieder vergessen werden wird. Aber jeder Schüler,
jede Schülerin wird anders und anderes vergessen.
Und
genau darum geht es.
Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie
und Ethik an der Universität Wien. Es gibt keine Fragen, die seiner Kolumne
fremd sind.
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