5. August 2018

Ungleiche Bildungschancen

Ein Fall aus dem Kanton Obwalden hat die Diskussion über die Chancengleichheit im Schweizer Bildungssystem neu entfacht. Bildungsökonom Stefan Wolter sagt im Interview, warum die schlechtesten Schüler häufig Akademiker-Kinder sind.

© Grafik: watson / Daten: Institut für Bildungsevaluation Zürich, 2013
Warum die schlechtesten Schüler häufig Akademikerkinder sind, Watson, 30.7. von Jacqueline Büchi



Herr Wolter, wer kommt heute eher ins Gymnasium: ein intelligentes Kind oder ein reiches Kind?
Stefan Wolter: Ein sehr intelligentes Kind hat in der Regel gute Chancen, ins Gymnasium zu kommen – ungeachtet seiner sozialen Herkunft. In vielen Fällen spielt das Elternhaus aber tatsächlich eine Rolle, wobei es mehr um den Bildungshintergrund der Eltern geht und weniger um ihre finanziellen Möglichkeiten. Tatsache ist: Kinder von Akademikern schaffen den Übertritt ins Gymnasium eher als Kinder von Nicht-Akademikern. Am augenfälligsten ist der Unterschied aber bei den schlechten Schülern.

Heisst das: Schlechte Gymi-Schüler kommen meist aus Akademiker-Familien?
Ja, das ist so. Es handelt sich um Kinder, die entweder von ihren Eltern ins Gymnasium gepusht wurden, oder die einer Erwartungshaltung ihrer Eltern entsprechen wollen, obwohl sie da nicht hingehören. Leider sind mir hier keine Bestrebungen bekannt, hier Gegensteuer geben zu wollen.

Darauf kommen wir zurück! Zuerst aber zu einem aktuellen Fall, der eine hitzige Debatte über die Chancengleichheit im Schweizer Bildungssystem entfacht hat. Im Kanton Obwalden wollte das Sozialamt einer jungen Frau den Besuch der Mittelschule verbieten, weil ihre Eltern von der Sozialhilfe leben. Was sagen Sie als Bildungsökonom dazu?
Aus der Sicht der Effizienz und der Chancengerechtigkeit ist es klar: In unserem Bildungssystem sollten alle Schüler die gleichen Möglichkeiten haben, ungeachtet des Einkommens ihrer Eltern. Wenn es um die Alternative Fachmittelschule oder Berufslehre mit Berufsmaturität geht, dann sehe ich tatsächlich Argumente – und nicht nur ökonomische –, die für die Berufslehre sprechen. Wenn es um die Alternative Gymnasium oder Lehre geht, dann wäre es aus ökonomischer Sicht schwierig zu sagen, welche der beiden Varianten dem Steuerzahler langfristig mehr bringt. Es kann sein, dass die junge Frau dank einem Gymi-Abschluss eine steile Karriere hinlegt und am Ende Steuern für drei zahlt. Genauso gut kann sie sich aber ein brotloses Fach mit schlechten Aussichten auf dem Stellenmarkt aussuchen. In dem Fall wäre eine Lehre mit Berufsmatur und späterem Studium sowohl lukrativer als auch befriedigender für die Betroffene.

Politiker rühmen gern die Durchlässigkeit des Schweizer Bildungssystems. Zu Recht?
Ja, unser Bildungssystem gehört zu den durchlässigsten der Welt. Nach der Sekundarschule stehen den Jugendlichen noch praktisch alle Türen offen. Sie können eine Lehre mit Berufsmatur machen, danach an eine Fachhochschule oder via Passerelle an die Uni. Auch beim Lohn hat ein Lehrling langfristig nicht unbedingt schlechtere Aussichten als ein Gymnasiast.

Und trotzdem sitzen in den Gymnasien überwiegend Kinder aus privilegierten Haushalten, wie eine Studie im Auftrag der Zürcher Bildungsdirektion zeigt. Was sagt uns das?
In der Zürcher Studie wurden Langzeitgymnasien untersucht. Dort ist der Bildungshintergrund der Eltern besonders entscheidend. Weil der Übertritt nach der Primarschule in einem jungen Alter erfolgt, fällt die Frühförderung durch die Eltern stärker ins Gewicht. In der Oberstufe relativieren sich die Unterschiede teilweise. Das ist auch der Grund dafür, warum die meisten internationalen Forscher das Konzept der frühen Separierung der Schüler in unterschiedliche Leistungszüge kritisch sehen.

In Zürich haben sich die Grünen vor zwei Jahren für die Abschaffung des Langzeitgymnasiums ausgesprochen, auch anderswo wurde schon darüber diskutiert. Wäre der Schritt aus Ihrer Sicht sinnvoll?
Die Forschungsliteratur lässt keinen Zweifel daran, dass die Schüler bis zum Ende der obligatorischen Schulzeit in gemischten Klassen bleiben sollten. Das Langzeitgymnasium dürfte der Chancengerechtigkeit schaden. Wenn man dies als Massstab nimmt, spräche einiges für eine Abschaffung. Nur ist das politisch schwer vermittelbar.

Wer stellt sich quer?
Vor allem Eltern, deren Kinder in der Schule gut sind – oder die das zumindest denken. Sie befürchten, dass schwächere Mitschüler die Leistungsentwicklung ihrer Kinder bremsen. Diese Angst ist laut Studien jedoch komplett unbegründet. Schlechte Schüler würden von heterogenen Klassen hingegen profitieren. Die können es dann nicht, weil sie von den guten Schülern früh separiert werden.

Wo orten Sie sonst noch Verbesserungspotenzial, was die Chancengleichheit im Bildungswesen betrifft?
Wie eingangs erwähnt, wird die Chancengleichheit im Gymnasium vor allem am unteren Ende der Noten-Skala, also bei den schlechteren Schülern, geritzt. Es gilt verstärkt zu verhindern, dass mittelmässige Schüler ins Gymi kommen, nur weil ihre Eltern reich oder gebildet sind. Solche Massnahmen, das zeigt unsere Forschung, würden vor allem auch von jenen Eltern begrüsst, deren Kinder nicht ans Gymnasium gehen. Mit anderen Worten: Ein gerechterer Zugang zu den Gymnasien würde auch das Ansehen der Gymnasien stärken.

Wie lässt sich verhindern, dass schlechte Schüler aufgrund ihrer Herkunft ans Gymnasium kommen?
Das wäre relativ einfach, wenn man bei den Übertritten die tatsächlichen Leistungen zum Massstab nähme. Am wirksamsten ist eine standardisierte Aufnahmeprüfung, die extern konzipiert und anonym abgelegt wird. Eine Kombination der Prüfungsnote mit den Vornoten macht weiter Sinn, damit die Tagesform am Prüfungstermin nicht zu stark ins Gewicht fällt. Kritisch sehe ich hingegen Systeme, bei denen nur die Vornoten und die Lehrerempfehlungen über die Aufnahme ans Gymnasium entscheiden. Hier ist die Gefahr gross, dass sich die Lehrperson – bewusst oder unbewusst – von der sozialen Herkunft des Schülers beeinflussen lässt.

Kinder aus gutsituierten Familien gehen häufiger in Gymi-Vorbereitungskurse und in die Nachhilfe. Braucht es flächendeckende Gratis-Kurse für alle Kinder, wie dies in der Vergangenheit bereits gefordert wurde?
Nein. Aus meiner Sicht ist es falsch, wenn Kinder nur dank dem «Doping-Mittel» der Nachhilfe ans Gymnasium kommen. In dem Fall kommt das Scheitern häufig einfach später, in der Probezeit, oder man muss Jahre repetieren. Sinnvoll wäre allenfalls eine punktuelle Förderung wie beispielsweise von Migranten, die in der Schulsprache einen Nachholbedarf haben, aber sicher keine flächendeckenden Kursprogramme. Realistischerweise wird es in diesem Bereich immer eine gewisse Ungleichheit geben. Man kann den Eltern schliesslich nicht verbieten, ihre Kinder zu fördern.

Die Maturitätsquote variiert von Kanton zu Kanton stark. In Basel machen über 31 Prozent der Schüler eine gymnasiale Matur, in Glarus nicht einmal 13 Prozent. Hat ein Kind, das in Basel geboren wird, also grundsätzlich bessere Aussichten auf eine akademische Laufbahn als ein durchschnittliches Schweizer Kind?
Nicht unbedingt. Basler Maturanden haben ein viel höheres Risiko, ein Studium abbrechen zu müssen, als jene aus anderen Kantonen. Die Betrachtung der letzten Jahrzehnte zeigt, dass überdurchschnittliche Maturitätsquoten auch mit überdurchschnittlichen Abbruchquoten an den Universitäten einhergehen. Viele Basler, die erfolgreich die Matura machen, stehen darum Mitte 20 ohne Ausbildung da. Es fragt sich, ob es für sie längerfristig wirklich ein Vorteil war, dass sie das Gymnasium gemacht haben – oder ob sie sich besser für eine Lehre entschieden hätten.

In welchen Fällen würden Sie einem Jugendlichen raten, sich für eine Lehre zu entscheiden, obwohl seine Noten fürs Gymnasium reichen würden?
Solche Fälle gibt es zuhauf. Nur weil jemand die schulischen Voraussetzungen erfüllt, heisst das noch lange nicht, dass er am Gymnasium am besten aufgehoben ist. Eine gymnasiale Ausbildung macht Sinn, wenn man einen Berufswunsch hat, der sich nur mit einem Universitätsabschluss realisieren lässt – mit einem Jus-, Medizin- oder Volkswirtschaftsstudium beispielsweise. Für Leute, die weniger konkrete Vorstellungen haben, wäre eine Lehre mit Berufsmatur aber häufig die bessere Wahl. So verdienen sie mit 18 ihr eigenes Geld – und können dann immer noch eine tertiäre Ausbildung machen. Dabei geniessen sie den Vorteil, dass sie neben dem Studium auf ihrem gelernten Beruf zu einem vernünftigen Lohn arbeiten können – und sich nicht in einem unterbezahlten Studi-Job abmühen müssen.


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