Ein Fall aus dem
Kanton Obwalden hat die Diskussion über die Chancengleichheit im Schweizer
Bildungssystem neu entfacht. Bildungsökonom Stefan Wolter sagt im Interview,
warum die schlechtesten Schüler häufig Akademiker-Kinder sind.
© Grafik: watson / Daten: Institut für Bildungsevaluation Zürich, 2013
Warum die schlechtesten Schüler häufig Akademikerkinder sind, Watson, 30.7. von Jacqueline Büchi
Warum die schlechtesten Schüler häufig Akademikerkinder sind, Watson, 30.7. von Jacqueline Büchi
Herr Wolter, wer
kommt heute eher ins Gymnasium: ein intelligentes Kind oder ein reiches Kind?
Stefan
Wolter: Ein sehr
intelligentes Kind hat in der Regel gute Chancen, ins Gymnasium zu kommen –
ungeachtet seiner sozialen Herkunft. In vielen Fällen spielt das Elternhaus
aber tatsächlich eine Rolle, wobei es mehr um den Bildungshintergrund der
Eltern geht und weniger um ihre finanziellen Möglichkeiten. Tatsache
ist: Kinder von Akademikern schaffen den Übertritt ins Gymnasium eher
als Kinder von Nicht-Akademikern. Am augenfälligsten ist der Unterschied aber
bei den schlechten Schülern.
Heisst das:
Schlechte Gymi-Schüler kommen meist aus Akademiker-Familien?
Ja, das ist so. Es handelt
sich um Kinder, die entweder von ihren Eltern ins Gymnasium gepusht wurden,
oder die einer Erwartungshaltung ihrer Eltern entsprechen wollen, obwohl sie da
nicht hingehören. Leider sind mir hier keine Bestrebungen bekannt, hier
Gegensteuer geben zu wollen.
Darauf kommen wir
zurück! Zuerst aber zu einem aktuellen Fall, der eine hitzige Debatte über die
Chancengleichheit im Schweizer Bildungssystem entfacht hat. Im Kanton Obwalden wollte das
Sozialamt einer jungen Frau den Besuch der Mittelschule verbieten, weil
ihre Eltern von der Sozialhilfe leben. Was sagen Sie als
Bildungsökonom dazu?
Aus der Sicht der Effizienz
und der Chancengerechtigkeit ist es klar: In unserem Bildungssystem sollten
alle Schüler die gleichen Möglichkeiten haben, ungeachtet des Einkommens ihrer
Eltern. Wenn es um die Alternative Fachmittelschule oder Berufslehre mit
Berufsmaturität geht, dann sehe ich tatsächlich Argumente – und nicht nur ökonomische
–, die für die Berufslehre sprechen. Wenn es um die Alternative Gymnasium oder
Lehre geht, dann wäre es aus ökonomischer Sicht schwierig zu sagen, welche der
beiden Varianten dem Steuerzahler langfristig mehr bringt. Es kann sein, dass
die junge Frau dank einem Gymi-Abschluss eine steile Karriere hinlegt und am
Ende Steuern für drei zahlt. Genauso gut kann sie sich aber ein brotloses Fach
mit schlechten Aussichten auf dem Stellenmarkt aussuchen. In dem Fall wäre eine
Lehre mit Berufsmatur und späterem Studium sowohl lukrativer als auch
befriedigender für die Betroffene.
Politiker rühmen
gern die Durchlässigkeit des Schweizer Bildungssystems. Zu Recht?
Ja, unser Bildungssystem
gehört zu den durchlässigsten der Welt. Nach der Sekundarschule stehen den
Jugendlichen noch praktisch alle Türen offen. Sie können eine Lehre mit
Berufsmatur machen, danach an eine Fachhochschule oder via Passerelle an die
Uni. Auch beim Lohn hat ein Lehrling langfristig nicht unbedingt schlechtere
Aussichten als ein Gymnasiast.
Und trotzdem sitzen
in den Gymnasien überwiegend Kinder aus privilegierten Haushalten, wie eine
Studie im Auftrag der Zürcher Bildungsdirektion zeigt. Was sagt uns das?
In der Zürcher Studie wurden
Langzeitgymnasien untersucht. Dort ist der Bildungshintergrund der Eltern
besonders entscheidend. Weil der Übertritt nach der Primarschule in einem
jungen Alter erfolgt, fällt die Frühförderung durch die Eltern stärker ins
Gewicht. In der Oberstufe relativieren sich die Unterschiede teilweise. Das ist
auch der Grund dafür, warum die meisten internationalen Forscher das Konzept
der frühen Separierung der Schüler in unterschiedliche Leistungszüge kritisch
sehen.
In Zürich haben
sich die Grünen vor zwei Jahren für die Abschaffung des Langzeitgymnasiums
ausgesprochen, auch anderswo wurde schon darüber diskutiert. Wäre der Schritt
aus Ihrer Sicht sinnvoll?
Die Forschungsliteratur lässt
keinen Zweifel daran, dass die Schüler bis zum Ende der obligatorischen
Schulzeit in gemischten Klassen bleiben sollten. Das Langzeitgymnasium dürfte
der Chancengerechtigkeit schaden. Wenn man dies als Massstab nimmt, spräche
einiges für eine Abschaffung. Nur ist das politisch schwer vermittelbar.
Wer stellt sich
quer?
Vor allem Eltern, deren Kinder
in der Schule gut sind – oder die das zumindest denken. Sie befürchten, dass
schwächere Mitschüler die Leistungsentwicklung ihrer Kinder bremsen. Diese
Angst ist laut Studien jedoch komplett unbegründet. Schlechte Schüler würden
von heterogenen Klassen hingegen profitieren. Die können es dann nicht, weil
sie von den guten Schülern früh separiert werden.
Wo orten Sie sonst
noch Verbesserungspotenzial, was die Chancengleichheit im Bildungswesen betrifft?
Wie eingangs erwähnt, wird die
Chancengleichheit im Gymnasium vor allem am unteren Ende der Noten-Skala, also
bei den schlechteren Schülern, geritzt. Es gilt verstärkt zu verhindern, dass
mittelmässige Schüler ins Gymi kommen, nur weil ihre Eltern reich oder gebildet
sind. Solche Massnahmen, das zeigt unsere Forschung, würden vor allem auch von
jenen Eltern begrüsst, deren Kinder nicht ans Gymnasium gehen. Mit anderen
Worten: Ein gerechterer Zugang zu den Gymnasien würde auch das Ansehen der Gymnasien
stärken.
Wie lässt sich
verhindern, dass schlechte Schüler aufgrund ihrer Herkunft ans Gymnasium
kommen?
Das wäre relativ einfach, wenn
man bei den Übertritten die tatsächlichen Leistungen zum Massstab nähme. Am
wirksamsten ist eine standardisierte Aufnahmeprüfung, die extern konzipiert und
anonym abgelegt wird. Eine Kombination der Prüfungsnote mit den Vornoten macht
weiter Sinn, damit die Tagesform am Prüfungstermin nicht zu stark ins Gewicht
fällt. Kritisch sehe ich hingegen Systeme, bei denen nur die Vornoten und die
Lehrerempfehlungen über die Aufnahme ans Gymnasium entscheiden. Hier ist die
Gefahr gross, dass sich die Lehrperson – bewusst oder unbewusst – von der
sozialen Herkunft des Schülers beeinflussen lässt.
Kinder aus
gutsituierten Familien gehen häufiger in Gymi-Vorbereitungskurse und in die
Nachhilfe. Braucht es flächendeckende Gratis-Kurse für alle Kinder, wie dies in
der Vergangenheit bereits gefordert wurde?
Nein. Aus meiner Sicht ist es
falsch, wenn Kinder nur dank dem «Doping-Mittel» der Nachhilfe ans Gymnasium
kommen. In dem Fall kommt das Scheitern häufig einfach später, in der
Probezeit, oder man muss Jahre repetieren. Sinnvoll wäre allenfalls eine
punktuelle Förderung wie beispielsweise von Migranten, die in der Schulsprache
einen Nachholbedarf haben, aber sicher keine flächendeckenden Kursprogramme.
Realistischerweise wird es in diesem Bereich immer eine gewisse Ungleichheit
geben. Man kann den Eltern schliesslich nicht verbieten, ihre Kinder zu
fördern.
Die Maturitätsquote
variiert von Kanton zu Kanton stark. In Basel machen über 31 Prozent
der Schüler eine gymnasiale Matur, in Glarus nicht einmal 13 Prozent.
Hat ein Kind, das in Basel geboren wird, also grundsätzlich bessere Aussichten
auf eine akademische Laufbahn als ein durchschnittliches Schweizer Kind?
Nicht unbedingt. Basler
Maturanden haben ein viel höheres Risiko, ein Studium abbrechen zu müssen, als
jene aus anderen Kantonen. Die Betrachtung der letzten Jahrzehnte zeigt, dass
überdurchschnittliche Maturitätsquoten auch mit überdurchschnittlichen
Abbruchquoten an den Universitäten einhergehen. Viele Basler, die erfolgreich
die Matura machen, stehen darum Mitte 20 ohne Ausbildung da. Es fragt sich, ob
es für sie längerfristig wirklich ein Vorteil war, dass sie das Gymnasium gemacht
haben – oder ob sie sich besser für eine Lehre entschieden hätten.
In welchen Fällen
würden Sie einem Jugendlichen raten, sich für eine Lehre zu entscheiden, obwohl
seine Noten fürs Gymnasium reichen würden?
Solche Fälle gibt es zuhauf.
Nur weil jemand die schulischen Voraussetzungen erfüllt, heisst das noch lange
nicht, dass er am Gymnasium am besten aufgehoben ist. Eine gymnasiale
Ausbildung macht Sinn, wenn man einen Berufswunsch hat, der sich nur mit einem
Universitätsabschluss realisieren lässt – mit einem Jus-, Medizin- oder
Volkswirtschaftsstudium beispielsweise. Für Leute, die weniger konkrete
Vorstellungen haben, wäre eine Lehre mit Berufsmatur aber häufig die bessere
Wahl. So verdienen sie mit 18 ihr eigenes Geld – und können dann immer noch
eine tertiäre Ausbildung machen. Dabei geniessen sie den Vorteil, dass sie
neben dem Studium auf ihrem gelernten Beruf zu einem vernünftigen Lohn arbeiten
können – und sich nicht in einem unterbezahlten Studi-Job abmühen müssen.
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