5. August 2018

Stark in Mathe, schwach im Lesen

Die Schweiz rühmt sich gerne ihres einzigartigen Bildungssystems. Es ist durchlässig und bietet eine breite Palette an Bildungswegen: So setzt das Studium an der Uni oder ETH nicht mehr zwingend einen Gymi-Abschluss voraus, sondern kann auch über eine Lehre mit Berufsmatur begonnen werden.

Viersprachig, aber im Lesen nur Durchschnitt, Blick, 3.8. von Romina Brunner


Dass unser Bildungssystem gut und auch zeitgemäss ist, beweisen verschiedene Indikatoren, sagt Urs Moser (60), Titularprofessor am Institut für Bildungsevaluation der Uni Zürich. «Wir haben beste Mathematikleistungen innerhalb Europas, eine geringe Jugendarbeitslosigkeit und Hochschulen, die im internationalen Vergleich zu den Besten gehören.»

Im Lesen könnten wir besser sein
Stolz ist man auch beim Bund. «Unser Bildungssystem ist eines der leistungsfähigsten weltweit», sagt Claudia Zahner Rossier (53) vom Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI). Was sich auch an den Pisa-Resultaten 2015 zeige: Unsere 15-Jährigen gehören in der Mathematik zu den Besten in Europa. Nur Estland weist als weiteres europäisches Land einen vergleichbaren Mittelwert aus, die übrigen europäischen Länder liegen deutlich tiefer. Auch in Naturwissenschaften sind wir besser als andere. Im Lesen liegt die Schweiz im Durchschnitt.

Bei so viel Lob geht allerdings schnell vergessen, dass es um die Lesekompetenz nicht zum Besten steht: Gemäss Pisa-Ranking 2015 sind 20 Prozent der Schülerinnen und Schüler in der Schweiz nach der obligatorischen Schulzeit höchstens in der Lage, einen ganz einfachen Text zu verstehen und zu interpretieren. Einem Drittel von ihnen fehlt selbst diese Kompetenz.

Silvia Steiner (60), Präsidentin der Erziehungsdirektoren (EDK), räumt denn auch ein: «Der Anteil der Jugendlichen, die Mühe mit dem Lesen haben, ist zu gross. Da müssen wir dranbleiben, nicht nur in den Schulen, auch in den Familien.» Eltern sollten ihren Kinder wieder mehr Geschichten vorlesen. Das sei die erste und einfachste Form der Leseförderung.

Doch warum können andere Länder, was wir nicht können? Etwa die Skandinavier, die bei den Pisa-Erhebungen stets die Nase vorne haben? «Skandinavier sehen zum Beispiel TV-Serien meist in der Originalsprache, mit Untertiteln. Das fördert den Spracherwerb», erklärt Beat A. Schwendimann (43), Leiter der Pädagogischen Arbeitsstelle des Lehrerverbands (LCH).

Zudem genössen die Lehrpersonen einen höheren Stellenwert als bei uns. Den Beruf hätten nur die Besten inne, entsprechend sind auch die Aufnahmekriterien für ein Studium höher. «Das Lehrerstudium ist in diesen Ländern gar anspruchsvoller als das der Medizin», sagt Schwendimann. Für ihn ist klar: «Wenn wir mit den Pisa-Siegern Schritt halten wollen, sollte die Studiendauer für Primarlehrer von drei auf fünf Jahre erhöht und mit einem Master abgeschlossen werden.»

Drill will hier niemand
Leseförderung beim TV schauen, Master für Primarlehrer – warum machen wir das nicht auch? Für Bildungsexperte Moser lassen sich Bildungssysteme nicht wie Käse importieren, sondern müssen gemeinsam mit der Schulpraxis entwickelt werden. Zu den Pisa-Siegern gehörten zudem vor allem ostasiatische Staaten, beispielsweise Singapur oder Teile von China.

Diese leistungsorientierten Systeme würden das selbständige Lernen weniger betonen als wir und setzten stärker auf Drill. «Dadurch die Pisa-Ergebnisse zu verbessern, möchte wohl niemand», meint Schwendimann. Die Schweiz könne sich dennoch weiterentwickeln. Etwa bei der Frühförderung und der ausserschulischen Betreuung.

Nicht gerade hoch ist zudem unser Bildungsbudget. Mit 38,3 Milliarden Franken liegen wir im Vergleich zu den andern OECD-Ländern unter dem Durchschnitt. Doch ist unser Geld überhaupt richtig investiert? In Fächer, die Zukunft haben? Müssen wir zum Beispiel wirklich noch Sprachen lernen?

Für Elsbeth Stern (60), Professorin für Lehr-Lern-Forschung an der ETH Zürich, sind Sprachen für die Zukunft zentral. «Selbst wenn die Technik immer mehr übernehmen kann, sollten wir die Herrschaft über die Bedeutung behalten», sagt sie. Jedoch würden Fächer wie Latein an unseren Schulen eine zu grosse Stellung einnehmen.


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