Die Schweiz rühmt sich gerne ihres einzigartigen
Bildungssystems. Es ist durchlässig und bietet eine breite Palette an
Bildungswegen: So setzt das Studium an der Uni oder ETH nicht mehr zwingend
einen Gymi-Abschluss voraus, sondern kann auch über eine Lehre mit Berufsmatur
begonnen werden.
Viersprachig, aber im Lesen nur Durchschnitt, Blick, 3.8. von Romina Brunner
Dass unser Bildungssystem gut und auch zeitgemäss
ist, beweisen verschiedene Indikatoren, sagt Urs Moser (60), Titularprofessor
am Institut für Bildungsevaluation der Uni Zürich. «Wir haben beste
Mathematikleistungen innerhalb Europas, eine geringe Jugendarbeitslosigkeit und
Hochschulen, die im internationalen Vergleich zu den Besten gehören.»
Im Lesen könnten wir besser sein
Stolz ist man auch beim Bund. «Unser Bildungssystem
ist eines der leistungsfähigsten weltweit», sagt Claudia Zahner Rossier (53)
vom Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI). Was sich
auch an den Pisa-Resultaten 2015 zeige: Unsere 15-Jährigen gehören in der
Mathematik zu den Besten in Europa. Nur Estland weist als weiteres europäisches
Land einen vergleichbaren Mittelwert aus, die übrigen europäischen Länder
liegen deutlich tiefer. Auch in Naturwissenschaften sind wir besser als andere.
Im Lesen liegt die Schweiz im Durchschnitt.
Bei so viel Lob geht allerdings schnell vergessen,
dass es um die Lesekompetenz nicht zum Besten steht: Gemäss Pisa-Ranking 2015
sind 20 Prozent der Schülerinnen und Schüler in der Schweiz nach der
obligatorischen Schulzeit höchstens in der Lage, einen ganz einfachen Text zu
verstehen und zu interpretieren. Einem Drittel von ihnen fehlt selbst diese
Kompetenz.
Silvia Steiner (60), Präsidentin der
Erziehungsdirektoren (EDK), räumt denn auch ein: «Der Anteil der Jugendlichen,
die Mühe mit dem Lesen haben, ist zu gross. Da müssen wir dranbleiben, nicht
nur in den Schulen, auch in den Familien.» Eltern sollten ihren Kinder wieder
mehr Geschichten vorlesen. Das sei die erste und einfachste Form der
Leseförderung.
Doch warum können andere Länder, was wir nicht
können? Etwa die Skandinavier, die bei den Pisa-Erhebungen stets die Nase vorne
haben? «Skandinavier sehen zum Beispiel TV-Serien meist in der Originalsprache,
mit Untertiteln. Das fördert den Spracherwerb», erklärt Beat A. Schwendimann
(43), Leiter der Pädagogischen Arbeitsstelle des Lehrerverbands (LCH).
Zudem genössen die Lehrpersonen einen höheren
Stellenwert als bei uns. Den Beruf hätten nur die Besten inne, entsprechend
sind auch die Aufnahmekriterien für ein Studium höher. «Das Lehrerstudium ist
in diesen Ländern gar anspruchsvoller als das der Medizin», sagt Schwendimann.
Für ihn ist klar: «Wenn wir mit den Pisa-Siegern Schritt halten wollen, sollte
die Studiendauer für Primarlehrer von drei auf fünf Jahre erhöht und mit einem
Master abgeschlossen werden.»
Drill will hier niemand
Leseförderung beim TV schauen, Master für
Primarlehrer – warum machen wir das nicht auch? Für Bildungsexperte Moser
lassen sich Bildungssysteme nicht wie Käse importieren, sondern müssen
gemeinsam mit der Schulpraxis entwickelt werden. Zu den Pisa-Siegern gehörten
zudem vor allem ostasiatische Staaten, beispielsweise Singapur oder Teile von
China.
Diese leistungsorientierten Systeme würden das
selbständige Lernen weniger betonen als wir und setzten stärker auf Drill.
«Dadurch die Pisa-Ergebnisse zu verbessern, möchte wohl niemand», meint
Schwendimann. Die Schweiz könne sich dennoch weiterentwickeln. Etwa bei der
Frühförderung und der ausserschulischen Betreuung.
Nicht gerade hoch ist zudem unser Bildungsbudget.
Mit 38,3 Milliarden Franken liegen wir im Vergleich zu den andern OECD-Ländern
unter dem Durchschnitt. Doch ist unser Geld überhaupt richtig investiert? In
Fächer, die Zukunft haben? Müssen wir zum Beispiel wirklich noch Sprachen
lernen?
Für Elsbeth Stern (60), Professorin für
Lehr-Lern-Forschung an der ETH Zürich, sind Sprachen für die Zukunft zentral.
«Selbst wenn die Technik immer mehr übernehmen kann, sollten wir die Herrschaft
über die Bedeutung behalten», sagt sie. Jedoch würden Fächer wie Latein an
unseren Schulen eine zu grosse Stellung einnehmen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen