19. August 2018

Schule macht krank

Manchmal zieht sich dieses Gefühl von Überforderung durch ihren Alltag. In letzter Zeit immer öfter. «Ich kann seit drei Wochen nicht mehr schlafen, habe ständig Angstattacken, Atemnot und Schwindel», sagt die 15-jährige Oberstufenschülerin. «Ich kann fast nicht mehr in die Schule gehen.»

In Zahlen

30  Prozent der elfjährigen Schüler in der Schweiz leiden unter Schlafproblemen. 
649 ambulante Notfälle gingen 2017 bei der Kinder- und Jugendpsychiatrie Zürich ein. 
45 Minuten pro Woche sollen Kinder von der 3. bis 6. Klasse maximal für Hausaufgaben aufwenden.
10 Jahre alt sind die Jüngsten, die sich beim Sorgentelefon der Pro Juventute melden. 
8'000'000 Franken will die Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz nächstes Jahr in die psychische Gesundheit investieren. 
30 Prozent der Jugendlichen, die vergangenes Jahr beim Sorgentelefon 147 anriefen, hatten schwerwiegende persönliche Probleme.

Jeder dritte Schüler leidet an Burnout-Symptomen, Sonntagszeitung, 19.8. von Nadja Pastega

Diese Not kennen heute viele Kinder und Jugendliche. «Teilweise fühlt es sich an, wie wenn ich eine Nebelwand vor den Augen hätte», erzählt ein Mädchen, das Hilfe bei der Beratungsstelle von Pro Juventute suchte. «Ich mag einfach nicht mehr und frage mich, wie ich diesen Nebel durchdringen und ohne diesen dauernden Stress leben kann.»
In der Schule glänzen, den Eltern genügen – diesen Druck halten längst nicht alle aus. «Immer mehr Kinder und Jugendliche leiden unter Stress», sagt Thomas Mattig, Direktor der nationalen Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz. 

Leistungsdruck gab es in der Schule schon immer. Doch die Belastung scheint ein Mass erreicht zu haben, das krank machen kann. An der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Bern haben sich die Notfallaufnahmen in den letzten zehn Jahren verdreifacht. Auch beim Notfalldienst der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich sind die ambulanten Notfälle in die Höhe geschnellt. Sie haben in den letzten zehn Jahren von 49 auf 649 Untersuchungen pro Jahr zugenommen. «Die Gründe dafür sind vielfältig», sagt Gregor Berger, Leiter der Notfallstation. «Doch ein wesentlicher Faktor ist die Schule.» 

Fast jeder dritte Elfjährige leidet unter Schlafproblemen
Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat das Ausmass des Seelenleidens bei Kindern untersucht – der erschreckende Befund: Von den elfjährigen Schülern in der Schweiz leidet fast jeder Dritte unter Schlafproblemen, einem typischen Stresssymptom. 15 Prozent klagen über Niedergeschlagenheit, 12 Prozent leiden regelmässig unter Kopfschmerzen. Schule, Nachhilfe, Hausaufgaben und danach noch zum Sport oder in die Klavierstunde: Das Burn-out hat die Schulkinder erreicht.

Mit einem Burn-out kann ein Sammelsurium an Diagnosen einhergehen. Depression ist eine davon. Warnsymptome für ein Burn-out bei Kindern hat viele Gesichter: Schlaflosigkeit, Schulverweigerung, Suizidgedanken.

Die zunehmende Überforderung vieler Kinder stellt man auch bei der Stiftung Pro Juventute fest. In den Beratungsgesprächen habe es «eine deutliche Veränderung bei den Themen» gegeben, sagt Sprecher Bernhard Bürki. 30 Prozent der Jugendlichen, die sich letztes Jahr beim Sorgentelefon von Pro Juventute meldeten, hätten wegen «schwerwiegender persönlicher Probleme» Hilfe gesucht. 2010 waren es erst 18 Prozent. Die jüngsten Hilfesuchenden sind gerade mal zehn Jahre alt. Unbeschwert spielen, mit Freunden herumtoben und dabei völlig die Zeit vergessen – bei immer mehr Kindern hat diese «paradiesische» Vorstellung nichts mehr mit der Realität zu tun.

Die Schulverantwortlichen fühlen sich dafür meist nicht zuständig. Laut Reto Wyss, Vorstandsmitglied der Schweizerischen Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) und CVP-Regierungsrat im Kanton Luzern, seien Primarschüler nicht primär wegen der Schule gestresst, sondern durch die vielfältigen Verpflichtungen, denen sie in der Freizeit nachgehen. «Viele Kinder besuchen neben der Schule noch mehrere musische oder sportliche Angebote, die sie zusätzlich belasten», sagt Wyss. «Dazu kommt der Medienkonsum – der teilweise schon bei Kindern mehr als zwei Stunden pro Tag beträgt.»
Doch in den Unikliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie zeigt sich ein anderes Bild. Beim Notfalldienst in Zürich sinken die Fallzahlen während der Schulzeiten markant – und steigen vor den Aufnahmeprüfungen ins Gymnasium, während der Probezeiten oder vor den Lehrabschlussprüfungen deutlich an. Wie sich zeigt, sind Mädchen stärker vom schulischen Leistungsdruck betroffen als Buben. «Mädchen wollen alle Anforderungen erfüllen», sagt Psychiater Gregor Berger von der Zürcher Notfallstation. «Wenn sie merken, dass sie das nicht können, geraten sie in eine Krisensituation.»

Ausweg: Cannabis
Aber auch Buben kennen die Ausweglosigkeit der Überforderung. Manche reagieren gereizt, suchen einen Ausweg bei Cannabis. Oft fängt es scheinbar harmlos an. Mit einer Null-Bock-Haltung und Klagen, wie unendlich langweilig die Schule doch sei. Irgendwann kann der Schulverleider in die Verweigerung kippen. Wie bei jenem zehnjährigen Primarschüler aus Zürich, der eines Morgens nicht mehr aufstehen wollte und sich weigerte, in die Schule zu gehen. Die Eltern versuchten es mit Zureden, die Lehrerin auch. Nichts half. Schliesslich suchten die Eltern Rat beim Psychologen. Diagnose: Erschöpfungsdepression. Also Burn-out. 

Der Grund war schnell gefunden: Der Bub hatte acht verschiedene Lehrer, diese ständigen Wechsel wurden ihm zu viel. Solche Fälle hat der Kinder- und Jugendpsychologe Allan Guggenbühl immer wieder in seiner Praxis. «Heute ist es die Regel, dass schon Primarschüler vier bis fünf Lehrpersonen haben. Manche kommen damit klar, andere sind damit überfordert. Vor allem kontaktfreudige Kinder, die immer wieder versuchen, sich auf jeden Lehrer einzustimmen. Wenn das über längere Zeit geht, können Schüler, die diese ständigen Wechsel nicht ertragen, in ein Burn-out rutschen.»

Obergrenze für Hausaufgaben 
Das kann sogar zu einer Angststörung führen. Einer, der die Nöte der Schüler kennt, ist Basil Eckert, Leiter der Abteilung Schulpsychologie im Kanton Schwyz und Vorstandsmitglied der Interkantonalen Leitungskonferenz der Schweizer Schulpsychologen. «Stress und Leistungsdruck in der Schule sind ein Thema, das uns immer wieder beschäftigt», sagt Eckert. «Durch grossen Stress können bei Kindern Versagens- und Prüfungsängste entstehen, die sich zum Beispiel in Form von Black-outs manifestieren.» In schlimmen Fällen könne es zur Schulverweigerung kommen. «Diese Schüler getrauen sich nicht mehr in die Schule.»

Jetzt erarbeitet der schulpsychologische Dienst des Kantons Schwyz ein Angebot für Schüler mit Prüfungsangst. Der Kanton St. Gallen hat ein solches Gruppentraining bereits im letzten Schuljahr durchgeführt. Auch bei den Hausaufgaben wird angesetzt, um Druck von den Schülern zu nehmen. Im Kanton Zürich gibt es über die Feiertage ein Hausaufgabenverbot. Im Kanton Bern wurde im Rahmen des Lehr-plans 21 die Zeit, die Hausaufgaben beanspruchen dürfen, heruntergesetzt: auf 30 Minuten pro Woche für Erst- und Zweitklässler, auf 45 Minuten für Dritt- bis Sechstklässler und auf 90 Minuten für die Oberstufe. Im Kanton Genf können die Schüler die Hausaufgaben in einer betreuten Stunde direkt an der Schule erledigen.

Das Problem der gestressten Schüler werde zunehmen, schätzt Thomas Mattig von der Gesundheitsförderung Schweiz. Mit Bund und Kantonen wurde daher vereinbart, das Thema psychische Gesundheit künftig breiter anzugehen. Die Stiftung will in den nächsten Jahren rund acht Millionen Franken in eine Kampagne zur psychischen Gesundheit investieren. «Wir müssen jetzt Gegensteuer geben», sagt Mattig. «Sonst sind die Folgen für die Gesellschaft fatal.» (SonntagsZeitung)


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