Nicht
lange ist es her, da wandten Pädagogen ganz selbstverständlich Gewalt an. In
der ersten Klasse etwa mussten wir ein Stück Seife essen, wenn wir geschwatzt
hatten. Die Lehrerin holte uns nach vorne, wo wir auf einem hölzernen Podest so
lange kauen mussten, bis uns vor aller Augen der Schaum aus dem Munde quoll.
Der Sekundarlehrer ging gar so weit, uns zur Strafe mit einem Elektrogerät
Stromstösse zu versetzen. Erst auf dem Gymnasium hörte die körperliche Gewalt
auf - und damit die Angst vor ihr. An deren Stelle trat, verdeckt, aber nicht
weniger schmerzhaft, die emotionale Gewalt, die in einem intellektuellen Umfeld
bestens gedieh.
Wenn Lehrer zu Bürokraten werden, Tages Anzeiger, 23.8. von Guido Kalberer
Wir
können von Glück reden, dass diese Sadisten heute aus den Schulzimmern verbannt
sind. Aber so fassungslos und entsetzt wir auf diese Zeiten zurückschauen, so
wahrscheinlich ist es, dass wir dereinst auf unsere Gegenwart blicken und uns
darüber wundern, wie unsere Gesellschaft es hat zulassen können, dass in einem
der wichtigsten Berufe so viele Bürokraten und Bürolisten das Sagen
hatten.
Die
seelische Gestimmtheit
Lehrer
ist nicht bloss ein Beruf, sondern eine Berufung. Im Kern gibt es da nämlich
etwas, das die pädagogischen Hochschulen mit einigem Erfolg zu verdrängen
suchen: Das Wesentliche an diesem Beruf ist, das weiss der gesunde
Menschenverstand, weder lehr- noch lernbar. Es ist dies die grundsätzliche
seelische Gestimmtheit, die jemanden zu dieser heute mehr denn je exponierte
Existenz befähigt. Wer diese Veranlagung nicht hat, kann sich noch so viel
aneignen - ein richtig guter Lehrer wird er nie. Auffallen wird er allerdings
auch nicht, da es von angelernten Pädagogen nur so wimmelt.
Ein
Grossteil des didaktischen Überangebotes für angehende Lehrerinnen und Lehrer
ist dazu da, von dieser Leerstelle abzulenken: Das Unterrichten wird in
unzähligen Weiterbildungen und sogenannten Q-Tagen zu einer Technik ge- und
verformt, die es dann bloss richtig anzuwenden gilt. Dafür steht eine
aufgeblähte Bürokratie mit entsprechend teurer Administration zur Verfügung.
Und alle paar Jahre gibt es einen Systemwechsel, den zu bewältigen nur
diejenigen keine Mühe haben, die bereits zu Bürokraten mutiert sind.
Es
verhält sich auch beim Lehrberuf wie beim viel zitierten Eisberg: Der sichtbare
siebte Teil lässt sich mittels kognitiver Methoden aneignen, das macht den
Unterricht für alle planbarer und angenehmer. In dieser Hinsicht erfüllt die
üppige Ausbildung durchaus ihren Sinn und Zweck. Der weitaus grössere Teil aber
ist nicht sichtbar, und es bleibt jedem Einzelnen überlassen zu entscheiden, ob
sein Reservoir an intuitiven Kräften und Energien ausreicht, um auf diesem
schwierigen, heiklen Feld bestehen zu können.
«Ich
weiss nicht, was uns stärker in Anspruch nahm und bedeutsamer für uns wurde,
die Beschäftigung mit den uns vorgetragenen Wissenschaften oder die mit den
Persönlichkeiten unserer Lehrer», schrieb Sigmund Freud in seinem Aufsatz «Zur
Psychologie des Gymnasiasten». «Jedenfalls galt den Letzteren bei uns allen
eine niemals aussetzende Unterströmung, und bei vielen führte der Weg zu den
Wissenschaften nur über die Personen der Lehrer; manche blieben auf diesem Weg
stecken, und einigen ward er auf solche Weise dauernd verlegt.»
Was der
Begründer der Psychoanalyse bereits vor 100 Jahren analysiert hat, sollten wir
heute wieder ernst nehmen. Wer unterrichtet, ist genauso wichtig, wenn nicht
sogar wichtiger als das, was unterrichtet wird. Je nach Lehrperson kommt der
exakt gleiche Stoff bei den Schülerinnen und Schülern an - oder eben nicht.
Denn diese lernen nicht primär für sich selbst, sondern vor allem für die
Lehrerin oder den Lehrer.
Es gibt,
wie Freud feststellte, eine andauernde emotionale «Unterströmung», ein
unbewusstes Wechselspiel zwischen dem, der mehr weiss und kennt, und dem, der
sich dies aneignen will. Da dieses Wissens- ein Machtgefälle ist, lockt die
Versuchung, es auszunutzen. Viel ist die Rede von Missbrauch, wenig vom
kreativen Gebrauch dieser für jegliche Pädagogik notwendigen Ungleichheit und
Differenz.
Unterschätzte
Rhetorik
Die zu
lernende Sache an sich gibt es nicht, sie ist stets behaftet und verbunden mit
der Persönlichkeit dessen, der über sie spricht. Dass der Bedeutung der Sprache
bei der Vermittlung von Wissen so wenig Beachtung beigemessen wird, ist
symptomatisch für unsere bild- und tonfixierte Zeit. Dabei wussten schon die
alten Griechen, dass die Rhetorik ein probates Mittel ist, um an die Sachen
selbst heranzukommen. Wer etwas anschaulich vermitteln kann in einer leicht
verständlichen Sprache und dabei den Humor nicht vergisst, wird mehr Erfolg
haben als einer, der sich ungeschickt ausdrückt. Unbeholfene Satzkonstruktionen
oder Phrasen können den im Wachsen begriffenen Geist nicht sättigen.
Der
Lehrer muss die Kinder lieben, damit sie ihn lieben können. «Man sage nicht,
Schulmeister haben kein Herz! O nein, wenn ein Lehrer sieht, wie eines Kindes
lange erfolglos gereiztes Talent hervorbricht und es vorwärtszustreben beginnt,
dann lacht ihm die Seele vor Freude und Stolz», schreibt Hermann Hesse in der
Erzählung «Unterm Rad». Nur auf dem aus vielen Gefühlsknoten gewobenen Teppich
gegenseitiger Wertschätzung und Anerkennung führt Lernen zum Erfolg. Wer schon
einmal unterrichtet hat, weiss, wozu das Kollektiv einer Klasse fähig ist, wenn
der geistige Flow einsetzt und für eine Sternstunde sorgt. Dann kennt der
Erkenntnisdrang keine Grenzen mehr - ausser der Pausenglocke.
Wer bei
grossen Lehrpersonen lernen durfte, weiss, dass es neben der Kompetenz in der
Sache, der Klarheit im Ausdruck und der Korrektheit im Verhalten noch eine
weitere Komponente gibt, die sehr schwer zu fassen ist: die Aura. Auch wenn
diese mit Charakterstärke nur unzureichend definiert werden kann, spüren wir
doch intuitiv, worum es sich dabei handelt. Es geht um eine Autorität, die in
der Auseinandersetzung mit den Dingen selbst erwächst und nicht einfach
behauptet wird - schon gar nicht mittels physischer oder psychischer
Gewalt.
Autorität,
lange als Ursache für die weitverbreitete Untertanenmentalität diffamiert, gilt
es in diesen Tagen zu rehabilitieren - und in Stellung zu bringen gegen das
ideologisch getränkte Konzept des selbst organisierten Lernens. Nicht nur
Kinder und Jugendliche sind gerne bereit, Berufenen ihr Ohr und ihre
Aufmerksamkeit zu schenken.
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