Natürlich
werden meine Lehrplan-kritischen Mitstreiter und ich derzeit oft – mitunter
etwas hämisch – gefragt, wie wir nun mit dem Lehrplan 21 gestartet seien. Denn
ab diesem August ist das verheissungsvolle Dokument in Kraft, das unsere
Schüler von einem verstaubten zu einem zeitgemässen Unterricht führen soll. Die
Bemerkungen nehmen wir mittlerweile gelassen entgegen. Wir, die seinerzeit das
Memorandum «550 gegen 550» lancierten, setzen nun den Lehrplan pragmatisch um,
den wir lange bekämpft haben.
Unter uns
gibt es niemanden, der seinen Unterrichtserfolg mit dem blossen Nachvollzug von
Schulwissen gleichsetzt, wie dies den Lehrkräften des Landes oft angedichtet
wird. In unserem Berufsverständnis geht es immer um das Verstehen,
Durcharbeiten und Anwenden des Stoffes durch unsere Schüler, also um
zunehmendes Können in unseren Fächern.
Im Kompetenzrausch, Weltwoche, 22.8. von Alain Pichard
Im
Übrigen sind Lesen, Rechnen und Schreiben klassische Kompetenzen, und zwar
entscheidende. Sie sind einiges wichtiger als beispielsweise das im Lehrplan 21
formulierte Kompetenzziel: «. . . können ihren Körper sensomotorisch wahrnehmen
und musikbezogen reagieren».
Für
viele von uns bleibt dieser Lehrplan 21 fremd und in weiten Teilen ein
«albernes Geschwafel». Selbst in unserem nördlichen Nachbarland, das den Weg
zur Kompetenzorientierung bereits vor Jahren vollzogen hat (und mächtig
darunter leidet), lacht man über die Beflissenheit der Schweizer, die wieder
einmal alles besonders gut machen wollen.
Die
Idee, einen derart detaillierten Kompetenzkatalog aufzulegen, stammt von Theoretikern.
Sie glauben, den Prozess des Erwerbs von Kompetenzen über alle Schulstufen
hinweg systematisch aufbauen zu können. Und sie ignorieren völlig, dass die
Unterrichtssituationen in der Schweiz überall verschieden sind. So unterrichte
ich derzeit hauptamtlich am Oberstufenzentrum Orpund eine Klasse, in der vier
Schüler zu Hause kein Deutsch sprechen. Gleichzeitig habe ich auch Lektionen in
einer Klasse in einem Oberstufenzentrum in Biel (Luftlinie: 1,5 km), in der
lediglich drei Schüler zu Hause Deutsch sprechen. In den Masterplänen der
Theoretiker kommen die Schwierigkeiten des Alltags grundsätzlich nicht vor.
Umerziehungsprogramm
Der
Lehrplan 21 allein war nie das Problem – abgesehen von seinem radikalen
Innovationsanspruch. Das Problem ist, dass er Teil einer grösseren Entwicklung
ist, die sich nach und nach durchsetzt.
Mit
Harmos wurde der Bevölkerung seinerzeit ein Harmonisierungsprojekt verkauft,
das sich in Wirklichkeit aber als eine Steuerungsvorlage erwies: Hier wurden
die Weichen in Richtung Kompetenzorientierung, Standardisierung,
Vermessungswahn und Output-Orientierung gestellt.
Eine
Allianz aus Politik, Verwaltung und Wissenschaft verfolgt ihre eigenen
Interessen, die nur bedingt etwas mit einer gesunden Entwicklung unserer Schule
zu tun haben. Es geht um Kontrolle und Auftragssicherheit. Der klassische
Konflikt zwischen Basis und Überbau ging in den ersten Runden klar an den
Überbau. Das ständig wachsende Heer an Test- und Lehrplanentwicklern,
Lehrmittelherstellern, Schulmanagern, Lernberatern, Evaluationisten,
Funktionären oder PH-Dozenten sichert sich mit eifriger Unterstützung unserer
Lehrerverbände seinen Anteil an dem ständig wachsenden Bildungskuchen.
Die
Folge sind Kompetenzraster, neue Beurteilungsformen, Bewertung überfachlicher Kompetenzen,
siebenseitige Beobachtungsfragebögen im Kindergarten, flächendeckende Tests in
der Nordwestschweiz, Change-Management-Papiere im Thurgau, Umbau des
Hauswirtschaftsunterrichts, eine abenteuerliche Fremdsprachendidaktik,
«Classroom Walkthrough»-Kontrollen der Schulleitungen, neue Inklusionskonzepte,
die derzeit auf die Schulen unseres Landes niederprasseln.
Für
eine Bilanz ist es sicher noch viel zu früh. Aber erste Auswirkungen sind
benennbar: Kindergärtnerinnen müssen Windeln wechseln, Dreizehnjährige sich für
Schnupperlehren bewerben, Arbeitsgesetze mit Ausnahmeklauseln versehen werden,
weil die Lehrlinge zu jung sind. Die Anzahl der Lehrabbrüche steigt, mit einer
untauglichen Fremdsprachendidaktik wird unsere französische Landessprache an
die Wand gefahren, und der bei uns beliebte Hauswirtschaftsunterricht wird
zugunsten eines «ideologiebefrachteten Umerziehungsprogramms» in einen
Theorieunterricht verwandelt.
Lasst uns in Ruhe arbeiten
Die
neuen «professionellen Leitungsstrukturen» dienen nun der Umsetzung.
«Implementierung» heisst hier das immer häufiger auftauchende Zauberwort. Ein
Wort, das die Erwartung weckt, man könne an den Schulen herumschrauben,
ähnlich, wie ein Algorithmus es mit Programmen tut. Und so werden kritische
Lehrkräfte vermehrt drangsaliert oder mit den «sanften Methoden des Change-
Managements» gefügig gemacht. Dahinter stehen die wirtschaftsfreundlichen
Lobbygruppen, Stiftungen, Think-Tanks oder internationalen Organisationen, in
ihrem Geist von der Handschrift einer neoliberalen Ideologie geprägt, die
unsere Bildungsideale als überholt betrachten.
Den
Eltern ist zu raten, im Zweifelsfall der Weisheit der Praxis zu vertrauen, denn
das Herz der Unterrichtsentwicklung ist der Einfallsreichtum der Lehrkräfte,
die je den richtigen Mix für ihre Situation finden müssen. Das Schweizer
Schulwesen war bis anhin recht stabil, seine Resultate liessen sich sehen.
Vielleicht
ist es ein frommer Wunsch: Aber man sollte uns in Ruhe arbeiten lassen, auch
mit diesem Lehrplan. Methodenfreiheit, zurückhaltende Behörden und die
Erkenntnis, dass Schulen am meisten von anderen Schulen lernen, werden sich
auszahlen, zum Wohle unserer Kinder.
Alain
Pichard ist Lehrer und Gemeindepolitiker (GLP) in Biel.
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