21. August 2018

Lehrer: Ein Teilzeitjob für Frauen

Die Schweizer Volksschulen müssen bis 2025 über 100 000 Kinder zusätzlich unterrichten. Dazu braucht es weitere 2000 Lehrkräfte. Verzweifelt versuchen die Schulen, wieder mehr Männer für den Lehrerberuf zu gewinnen.

Gesucht: Männer für die Schulzimmer, NZZ, 21.8. von Jörg Krummenacher


«Männer an die Primarschule» – so nennt sich ein 2014 gegründeter Verein, der dem seit 50 Jahren sinkenden Anteil männlicher Lehrkräfte entgegenwirken will. Bis 1964 unterrichteten mehr Männer als Frauen an den Schweizer Primarschulen, heute ist es nur noch ein Sechstel. Vereinspräsident Ron Halbright spricht von einer «negativen Spirale»: Es sei zum gesellschaftlichen Stereotyp geworden, dass Arbeit mit Kindern Frauensache sei. Nötig sei eine Trendwende: Bis 2030, so das ambitiöse Ziel des Vereins, soll der Männeranteil an Primarschulen wieder auf 30 Prozent und somit auf beinah das Doppelte ansteigen.

Drei Viertel Frauen

Kindergarten, Primarschule, Sekundarschule: Jedes Kind durchläuft die obligatorischen drei Volksschulstufen. Während in den Kindergärten fast nur Frauen tätig sind, steigt der Männeranteil in den Sekundarschulen auf 44 Prozent. Halbright sieht den Hauptgrund in den höheren Löhnen auf dieser Stufe, da Männer lohnaffiner seien als Frauen, bei denen die Familientauglichkeit im Vordergrund stehe. Insgesamt, auf allen drei Stufen zusammen, unterrichten in den öffentlichen Schulen der Volksschule heute nurmehr 25 Prozent Männer. Die Aufteilung nach Kantonen zeigt dabei deutliche Unterschiede: In Uri ist der Männeranteil mit 33 Prozent am höchsten, in Freiburg mit 21 Prozent am tiefsten.
Weshalb aber ist eine ausgeglichenere Geschlechterverteilung im Lehrkörper sinnvoll? Buben wie Mädchen sollten von einer bunten Vielfalt an Bezugspersonen beiderlei Geschlechts profitieren können, sagt Ron Halbright. So brauchten die Buben erlebbare Vorbilder, um realistische Männerbilder entwickeln zu können: «Sonst weichen sie auf fiktive, oft problematische Vorbilder aus, die sie in den Medien finden.»
Mehr Männer sind schlicht auch notwendig, um dem Mangel an Lehrkräften in Schweizer Schulstuben zu begegnen. In den letzten Jahren wurden Massnahmen angestossen, die insbesondere darauf abzielen, Schnupperlehren anzubieten und Quereinsteiger zu gewinnen. Weitere Projekte sind für die nächsten vier Jahre geplant. Bis jetzt hält sich der Erfolg in Grenzen: Halbright spricht von einigen Dutzend Männern, die das Schnupperangebot wahrgenommen hätten. Und der Anteil der Quereinsteiger etwa an der Pädagogischen Hochschule Zürich betrug 2017 nur gerade 8 Prozent. «Mit den Quereinsteigenden allein lässt sich das Problem des Lehrermangels nicht lösen», sagt denn auch Beat Zemp, der Präsident des Dachverbands der Schweizer Lehrkräfte (LCH).

Viele Lehrer steigen aus

Bereits heute wird mehr oder weniger verzweifelt nach Lehrkräften – Männern wie Frauen – gesucht, vor allem in Kindergärten, bei Heilpädagogen und bei Französischlehrern. Kantone wie Zürich und Bern haben für das beginnende Schuljahr Notmassnahmen ergreifen müssen, indem sie beispielsweise Studierende bereits vor Studienabschluss in den Klassen einsetzen – eine Massnahme, die der LCH ablehnt. Die Situation bei den Heilpädagogen nennt Beat Zemp gar «hoffnungslos».
Allein: Der Lehrermangel wird sich in den kommenden Jahren noch akzentuieren. Denn die Schülerzahlen in der Volksschule dürften, so die Prognosen des Bundesamts für Statistik, bis 2025 um mehr als 100 000 auf einen Höchststand von 1,04 Millionen ansteigen. Dadurch werden, wie es im kürzlich publizierten Bildungsbericht Schweiz heisst, rund 2000 zusätzliche Lehrkräfte benötigt. Gleichzeitig werden viele Lehrkräfte aus geburtenstarken Jahrgängen pensioniert. Betroffen sind alle Kantone. Gemäss dem Bundesamt für Statistik werden schon bis 2021 aber vor allem Basel-Stadt, Thurgau, Graubünden und Appenzell Innerrhoden auf Primarstufe nach Lehrern suchen müssen, auf Sekundarstufe wiederum Basel-Stadt, zudem die Kantone Bern, Luzern, Schaffhausen, Glarus und Appenzell Ausserrhoden. In der Primarschule werden bis zu 20 Prozent mehr Lehrer benötigt, in der Sekundarschule gar bis zu 40 Prozent.
Die pädagogischen Hochschulen bilden heute zwar deutlich mehr Lehrkräfte aus als früher, können vorderhand den steigenden Bedarf aber nicht decken. Negativ wirkt sich zudem aus, dass laut Bildungsbericht viele ausgebildete Lehrkräfte aus dem Beruf aussteigen oder gar nie eine Stelle antreten. Allein in den ersten fünf Jahren nach Abschluss des Studiums geht ein Fünftel der Lehrkräfte verloren.

Zeitgemässe Löhne gefordert

Den Hauptgrund ortet der Lehrerverband in den ungenügenden Arbeits- und Anstellungsbedingungen. LCH-Zentralpräsident Beat Zemp ist überzeugt, «dass sich bei besseren Bedingungen mehr talentierte Junge und Quereinsteiger für den Beruf interessieren würden». Der LCH fordert aufgrund einer Lohnanalyse denn auch zeitgemässe und verlässliche Löhne, insbesondere für Kindergartenlehrpersonen. Die Löhne hätten mit der gestiegenen Arbeitsbelastung nicht mitgehalten.
Diese hat auch dazu beigetragen, dass inzwischen 70 Prozent aller Lehrkräfte in der Schweiz Teilzeit arbeiten. In Basel-Stadt, Bern und Solothurn sind es gar mehr als 80 Prozent. Vielerorts werden schon kaum mehr Vollpensen ausgeschrieben. Beat Zemp fordert, dass sich dies vor allem auf der Primarstufe wieder ändert. Dabei müssten die Kantone flexibel bleiben und gewiss nicht so weit gehen wie Genf, dem einzigen Kanton mit mehr Voll- als Teilzeit arbeitenden Lehrkräften. Der Grund: Erlaubt sind dort nur 100-Prozent-Stellen oder deren Aufteilung auf zwei halbe Pensen.


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