Der 27. August 2018 ist für Tausende Genfer ein spezieller Tag. Für die
Kleinen, die aufgeregt das Klassenzimmer zum ersten Mal betreten. Und für die
nicht mehr ganz so Kleinen, die in ihrem bisherigen Schulleben schon einige
Rückschläge erlitten haben. Letztere stehen im Fokus einer Neuerung, die
schweizweit einzigartig ist: Aufs neue Schuljahr führt der Kanton Genf das
Schulobligatorium bis zu 18 Jahren ein.
Das Projekt geht auf das Jahr 2013 zurück, als die von der
Stimmbevölkerung gutgeheissene neue Kantonsverfassung in Kraft trat. Schon
damals zeigte sich, dass Genf in Bezug auf die Abschlüsse auf der Sekundarstufe
II hinterherhinkt. Dazu gehören die gymnasialen Maturitätsschulen und die
Fachmittelschulen (allgemeinbildende Ausbildungsgänge) sowie die klassische
Berufslehre mit ergänzendem schulischem Unterricht (berufsbildende
Ausbildungsgänge).
Genfer müssen nun bis 18 zur Schule, NZZ, 27.8. von Antonio Fumagalli
Einen auf das Personenregister gestützten Vergleich der kantonalen
Abschlussquoten präsentierte das Bundesamt für Statistik (BfS) zum ersten Mal
im Januar dieses Jahres. Für den Kanton Genf sind die Zahlen nicht eben
beruhigend. «Nur» 83,1 Prozent der Genfer bis zum 25. Altersjahr verfügten 2015
über einen Erstabschluss auf der Sekundarstufe II (siehe Grafik). Besonders
auffällig: Der Anteil derjenigen, die einen allgemeinbildenden Abschluss in der
Tasche haben, ist mit 53 Prozent mehr als doppelt so hoch wie im Schweizer
Durchschnitt. Derweil dümpelt die Quote der Lehrdiplome auf niedrigem Niveau
vor sich hin. Ein Abschluss auf Stufe Gymnasium oder Fachmittelschule gilt am
westlichsten Zipfel der Schweiz offensichtlich weiterhin als Königsweg.
Über die Gründe dafür rätseln die Experten. Im Bildungsbericht 2018
heisst es, dass es «bis heute keine empirisch überprüften Faktoren gibt, welche
die persistent hohen Unterschiede bei den kantonalen Maturitätsquoten erklären
könnten». Der BfS-Bericht von Januar hält fest, dass bei der Maturitätsquote
«soziodemografische Faktoren, Merkmale der Bildungssysteme, wirtschaftliche
Aspekte und geografische Besonderheiten hineinspielen» – im Fall Genf also etwa
die Nähe zu Frankreich, wo das Baccalauréat im Gegensatz zur praktischen
Ausbildung hohe Bedeutung geniesst.
Sozialhilfe
verhindern
Im internationalen Vergleich ist die Genfer Abschlussquote von 83,1
Prozent noch immer respektabel. Von dem Ziel, welches der Bund, die kantonalen
Erziehungsdirektoren (EDK) und Organisationen der Arbeitswelt 2006 festgelegt
und in der Folge bestätigt haben, ist man aber weit entfernt: Demnach sollen
«95 Prozent aller 25-Jährigen über einen Abschluss auf der Sekundarstufe II
verfügen». Dahinter stecken nicht zuletzt volkswirtschaftliche Absichten. Denn
wer über keinen solchen Abschluss verfügt, ist nachweislich übermässig von
prekären Arbeitsverhältnissen und Arbeitslosigkeit betroffen und letztlich
vermehrt auf Sozialhilfe angewiesen.
Der Kanton Genf hat also ein ureigenes Interesse daran, die
Abschlussquote in die Höhe zu schrauben – und handelt nun, indem er das
Schulobligatorium ausdehnt. «Wir wollen Schwierigkeiten früh erkennen und alles
dafür tun, um Schulabbrüche zu verhindern», sagt Staatsrätin Anne
Emery-Torracinta (sp.). Dank der Neuerung könne man über 400 Schüler pro Jahr
im System behalten, wobei sich die Zusammenarbeit mit ihnen nicht immer einfach
gestalte. «Einem Jugendlichen, der eine Ausbildung verweigert, kann man nicht
einfach ‹Alter, jetzt gehst du zurück zur Schule› zurufen», so die Genfer
Bildungsministerin. Um ein Angebot auszugestalten, das den eigenen Ansprüchen
genüge, habe die Umsetzung des Verfassungsauftrags ein halbes Jahrzehnt in
Anspruch genommen.
Konkret hat der Kanton neue Strukturen geschaffen, um die Jugendlichen
auf dem Weg in den Arbeitsmarkt so eng wie möglich zu begleiten. So werden
vorbereitende Kurse und Passerellen angeboten, die zu einer Lehrstelle führen
sollen und nicht wie bis anhin nach einem Jahr zu Ende gehen. Die Jugendlichen
können in verschiedene Berufsbildungszentren «hineinschnuppern», um ihre
Berufswahl besser treffen zu können. Zudem überprüft eine persönliche Referenzperson
die Fortschritte in regelmässigen Abständen und tritt auch mit den Eltern in
Kontakt – denn diese sind letztlich in der Pflicht. Wer trotz Obligatorium
seine Kinder bis zum 18. Geburtstag nicht zur Ausbildung schickt, kann gebüsst
werden. «Dies ist aber ganz klar nicht unsere Absicht – wir werden keine
Jugendlichen mit der Polizei abholen», sagt Amtsdirektor Eric Stachelscheid.
16 Millionen Franken
Solch weitreichende Massnahmen sind naturgemäss nicht gratis zu haben.
Die genauen Kosten hängen auch vom Erfolg des Pilotprojekts ab – sind die
Ergebnisse positiv, kann es ab 2019 ausgeweitet werden. Gemäss Angaben des
Bildungsdepartements beträgt das Budget über vier Jahre hinweg mehr als 16
Millionen Franken, wobei der grössere Teil für die ersten beiden Schuljahre
vorgesehen ist. «Ohne die verfassungsrechtliche Grundlage wäre es sicherlich
schwieriger gewesen, das entsprechende Budget zu erhalten», sagt
Emery-Torracinta. Sie sei überzeugt, dass sich die Investitionen lohnten.
In der Restschweiz wird das Genfer Versuchslabor mit Interesse verfolgt,
das Bildungsdepartement erhält gemäss eigenen Angaben regelmässig entsprechende
Anfragen von anderen Kantonen. Silvia Steiner, Präsidentin der EDK und Zürcher
Regierungsrätin, will sich zu den konkreten Massnahmen Genfs nicht äussern, sie
hält die zugrunde liegende Absicht aber für «wichtig und richtig». Auch
Lehrerverbandspräsident Beat Zemp begrüsst den «sinnvollen Schritt». Abgesehen
von Neuenburg, wo die Arbeiterpartei soeben einen entsprechenden Gesetzesvorschlag
präsentiert hat, sind der EDK aber keine Kantone bekannt, in denen ähnliche
Projekte wie in Genf verfolgt werden – schliesslich zeigen die teilweise
markant höheren Abschlussquoten, dass der Erfolgsweg nicht zwingend über ein
Schulobligatorium bis zum Eintritt ins Erwachsenenleben führen muss.
Wie bitte? Normalerweise kommentieren Silvia Steiner und Beat Zemp jeden kleinen Autonomierülpser aus den Kantonen mit "NEIN! Harmos! Lehrplan 21!" Und nun heisst es «wichtig und richtig» und «sinnvollen Schritt». Wenn aber ein Kanton den Beginn des Fremdsprachenunterrichts um 2 Jahre verschieben will, werden die Initianten vor Bundesgericht gezerrt. Das macht doch alles keinen Sinn mehr.
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