25. August 2018

Bedeutung und Herausforderungen der Digitalisierung

Als Fachagentur des Bundes und der Kantone ist educa.ch beauftragt, Expertisen an der Schnittstelle von ICT und Bildungssystem sicherzustellen, Kantone bei Projekten zu begleiten, technologische Entwicklungen zu beobachten und den Handlungsbedarf abzuleiten sowie, die Interessenvertretung der öffentlichen Hand gegenüber privaten Anbietern wahrzunehmen. Der Oberwalliser Toni Ritz steht der Educa als Direktor vor.
«Die neuen Welten aufnehmen», Walliser Bote, 21.8. 

Toni Ritz, alle reden zum Schulstart von der Digitalisierung. Wer ist dabei am meisten gefordert? 
«Alle auf ihre Weise. Ich sehe Herausforderungen für Lehrpersonen, Lernende und Eltern. Am Anfang dieser Kette stehen die Lehrpersonen. Sie geben mit dem Lehrplan die Richtung vor. Für sie geht es immer weniger darum, Inhalte und Fakten zu vermitteln. Die sind heute weitgehend übers Internet abrufbar. Viel wichtiger ist, Kompetenzen und personalisiertes Wissen aufzubauen.»

Was heisst das?
«Es steht nicht mehr der Erwerb von klassischem Schulstoff im Zentrum. Die Lernenden sollen die Fähigkeit vermittelt erhalten, die verfügbaren Informationen aufzunehmen, einzuordnen und zu bewerten. Die weltweit vorhandenen Informationen sind nicht nur zu reproduzieren, sondern man soll sie über Lernnetzwerke nutzen und sich dazu eine Meinung bilden können.»

Haben die Lehrpersonen die Befähigung dieser veränderten Art der Stoffvermittlung?
«Im Bildungssystem gibt es keine Wechsel per Knopfdruck. Dieses Umdenken braucht Zeit und Unterstützung. Hier setzt der Lehrplan 21 an. Die Digitalisierung ist und bleibt dabei eine stete Herausforderung.»

Wie ist sie zu meistern? 
«Zuerst dies: Bildung erfordert, bezüglich Arbeitsmarktbefähigung offen, bezüglich Gesellschaftsbefähigung kritisch zu sein. Das heisst, die immensen Möglichkeiten der Digitalisierung nicht nur als Gefahr, sondern auch als Chance wahrzunehmen. Tun wir das nicht, geraten wir hoffnungslos ins Hintertreffen, insbesondere gegenüber dem asiatischen Raum, wo eine gewaltige Entwicklung abgeht. Unser Kulturkreis wird da nicht mithalten können, wenn wir uns nicht mächtig anstrengen. Nehmen wir also die digitale Welt so, als ob man in fünf Jahren wieder eine völlig neue Chance erhalten würde. Längerfristige Überlegungen sind auf diesem Feld fehl am Platz. Dafür dreht es sich zu schnell.»

Was können Eltern tun? 
«Sich bewusst sein, dass der jederzeitige Zugriff auf einen Hochleistungscomputer wie dem· Smartphone Informationen in Echtzeit ermöglicht. Alles wird sofort online, kommentiert, geliked, bewertet, weitergeleitet. Das muss reflektiert werden. Eltern müssen ihren Kindern und Jugendlicben beibringen, diese digitalen Medien verantwortungsvoll zu nutzen.»

Wie verändert die digitale Welt die «Bildung»?
«Sie lässt neue Möglichkeiten im Bereich des Lehrens und Lernens entstehen. Die Bildung muss den Wandel von Gesellschaft und Arbeitswelt aufnehmen, den andersartigen Lebenswelten, in welchen die Kinder hineingeboren werden, Rechnung tragen. Der Lehrplan <Medien und Informatik> vermittelt den qualifizierten und reflektierten Umgang mit Medien. Gleichzeitig müssen die Kinder auf neue Anforderungen wie Konzeptwissen und soziale Interaktion vorbereitet werden. Entscheidend ist, dass die Schule ein gemeinsames Verständnis für <Bildung in (Zeiten) der digitalen Transformation> entwickelt.»

Was bleibt unverändert? 
«Nicht an Bedeutung verlieren die Primärerfahrungen. Kinder sollen in der Familie und mit Freunden die reale Kommunikation pflegen, die Natur erkunden, Kontakt zu Tieren haben. Das trägt dazu bei, Analoges-in die digitale, oft virtuelle Dimension zu spiegeln.»

Die Schulen investieren in die Informatik. Ist es damit getan?
«Wenn Schulen bestehende Unterrichtsmethoden mit Technologie ausstatten, so führt dies nicht zwingend zu mehr Innovation in der Bildung, sondern hauptsächlich zu deren Modernisierung. Entscheidend ist aber die sachgerechte, verantwortungsvolle Anwendung der IT im Verbund mit anderen Möglichkeiten.»

Die da wären?
«Heute erleben wir eine additive Entwicklung des Stundenplans. Immer mehr Bedürfnisse sollen darin Platz finden. Das führt zwangsläufig zu Unzufriedenheit und Überfrachtung. Ich verstehe die Lehrpersonen, die dagegen rebellieren. Besser als ein überladener Stundenplan ist der Weg hin zu mehr Projektunterricht. Damit Schülerinnen und Schüler vermehrt die Möglichkeit für selbst verantwortetes und selbst organisiertes Lernen erhalten. Die bestehenden Strukturen lassen bei gutem Willen mehr Spielraum zu. Das wäre hilfreich, Kompetenzen im erwähnten Sinne zu entwickeln. Die brauchen wir, denn das Schulsystem wird zunehmend zu einem Datenraum..»

Was höhere Qualifikation und Professionalität im Umgang mit Daten erfordert. 
«Genau. Und zwar nicht nur hinsichtlich des Schutzes und der Sicherheit der Daten, die oft als Zeichen der Unsicherheit gefordert werden, sondern auch, um das Potenzial von Daten in Bezug auf Lehren und Lernen zu identifizieren und zu nutzen.»

Wie stellt sich Ihre Organisation dieser Herausforderung? 
«educa.ch schafft im Auftrag der Kantone die Basis für die Föderierung der digitalen Identitäten für alle am Bildungssystem beteiligten Parteien. Dabei werden bestehende oder noch aufzubauende digitale Identitäten im Bildungsbereich auf nationaler Ebene zusammengeführt. Lernende, Lehrpersonen und Verwaltungspersonal der Bildungsinstitutionen sollen sich mit einem einzigen Login bei den genutzten Online-Diensten anmelden können. Zudem wird damit definierbar, welche Daten fliessen und weiterverarbeitet werden sollen.»

Ruft der digitale Bildungsraum nicht zwangsläufig neue Akteure mit unermesslichen Dienstleistungen auf den Plan? 
«Davon ist auszugehen. Diese teilweise all-inclusive bzw. kostenlosen Angebote gilt es für die Anwendung im Unterricht zu prüfen. Sind sie rechtskonform in Bezug auf Datenschutz, Vertragsrecht oder Urheberrecht? Entstehen Abhängigkeiten, die nicht auf den ersten Blick ersichtlich sind oder teuer werden? Daher ist es wichtig, dass das Bildungssystem im Umgang und der Nutzung solcher digitaler Dienstleistungen Orientierung und Rechtssicherheit erhält.»

Neben der Schule verändert sich auch der Arbeitsmarkt. Richtet educa auch einen Blick darauf?
«Eine Studie von Manpower zeigt, dass zwei Drittel aller Kinder der Primarschule einen Beruf ausüben werden, der heute noch gar nicht existiert. Schule soll weiterhin Basiswissen vermitteln, aber auch vermehrt Konzeptwissen lehren, das befähigt, die Arbeit mit den Instrumenten der Zukunft auszuüben. Ich denke hier an Robotik, künstliche Intelligenz, virtuelle Realitäten etc. Die OECD fordert die Förderung der 4K-Kompetenzen – Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und kritisches Denken – neben den klassischen Lehrplan-Fächern. Das zeigt in die richtige Richtung.»

Welche Erwartungen haben Sie als Vater an die Schule?
«Ich wünsche mir, dass Schulen die klassischen Strukturen über Lektionen und Fachlektionen aufzubrechen versuchen und den projekt- und aufgabenorientierten Unterricht leben. Schülerinnen und Schüler sollen die gestellten Aufgaben sowohl alleine wie in Gruppen inner- und ausserhalb der Schule lösen können. Ideenreichtum soll damit gefördert und eine einseitige Gleichschrittdidaktik verhindert werden. Das Individualisieren wird den Lehrpersonen durch die Möglichkeiten der Digitalisierung übrigens erleichtert.»

Was bleibt am Schluss entscheidend?
«Unabhängig davon, ob eine Lehrperson technikaffin ist oder nicht, bin ich als ehemaliger Lehrer überzeugt, dass es das Wichtigste ist, die Kinder fürs Lernen begeistern zu können.»



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