«Schüler
und Eltern gehen vermehrt auf Lehrer los», war Mitte Mai im Boulevardblatt «20
Minuten» zu lesen. Dabei seien selbst tätliche Angriffe keine Ausnahmen mehr.
In Deutschland komme es fast an jeder zweiten Schule zu Gewalt gegen Lehrkräfte
– ein Ergebnis, das sich ansatzweise auf die Schweiz übertragen lasse. So
Franziska Peterhans vom Schweizerischen Lehrerverband. Schuld an diesen
Übergriffen sei vor allem der fehlende Respekt gegenüber Lehrkräften, sagen
Bildungsexperten.
Lehrer – ein schwieriger Beruf in der Krise, Thurgauer Zeitung, 2.7. von Mario Andreotti
Dass
Autoritäten es heute schwer haben, ist längst eine Binsenwahrheit. Das gilt
bekanntlich nicht nur für den Lehrer, der noch bis weit in die Mitte des
letzten Jahrhunderts eine Autoritätsperson war, das gilt auch für den Arzt und
den Pfarrer. «Autorität» wird heute gerne mit «autoritär» gleichgesetzt. Und
wer will schon autoritär sein? Doch für die Lehrer und ihren Lehr- und
Erziehungsauftrag war diese im Zuge der 68er-Bewegung erfolgte
Quasigleichsetzung der beiden Begriffe folgenreich. Sie führte dazu, dass viele
Lehrer immer weniger bereit waren, ihre Führungsaufgabe wahrzunehmen, das
heisst, eine Klasse konsequent zu führen. Die zunehmende Digitalisierung des
Unterrichts, verbunden mit selbst organisiertem Lernen, bei dem die Lehrperson
nicht mehr in erster Linie unterrichtet, sondern die Lernenden als Coach, als
Berater und Partner begleitet, hat diesen Trend noch verstärkt. Dabei wollen
Lernende von der Lehrperson, wie Studien gezeigt haben, neben fachlicher
Kompetenz und Verständnis auch Führung. Sie ist ein unersetzlicher Tragpfeiler
eines respektvollen und effizienten Unterrichts.
Indessen
sind es häufig gerade junge Lehrkräfte, die glauben, durch fraternisierende
Nähe bei den Schülern besser anzukommen, indem sie sich ihnen anbiedern oder
einen Unterrichtsstil pflegen, der mehr nach Laisser-faire als nach Führung
aussieht. Kein Wunder, dass der Respekt der Schüler ausbleibt, denn Schüler
erlauben sich erfahrungsgemäss mehr, wenn Lehrpersonen aus Angst, klare
Vorgaben zu machen, nicht gewillt sind, ihre Klasse wirklich zu führen. Führung
aber bedarf personaler Autorität. Fehlt diese, so kommt es im Endeffekt zu
Übergriffen auf Lehrpersonen, und das nicht nur von Schülern, sondern auch von
Eltern. Dass davon junge, noch wenig erfahrene Lehrer besonders betroffen sind,
erstaunt nicht. Die hohe Ausstiegsrate von 20 Prozent im ersten Dienstjahr
spricht da eine deutliche Sprache. Es lässt sich nicht leugnen, dass manche
Lehrer an der Krise ihres Berufes nicht ganz unschuldig sind. Wer sich mit den
Schülern fraternisierend einlässt, in zerschlissenen Jeans und in Turnschuhen
vor eine Klasse tritt, kann nicht erwarten, dass die Öffentlichkeit ihm Respekt
entgegenbringt. Diese Tatsache wird gerne verschwiegen.
Doch alle
Schuld für ihr eher geringes Ansehen den Lehrern aufzubürden, wäre allzu
einfach. Zu wenig bekannt ist der Öffentlichkeit die tatsächliche berufliche
Belastung der Lehrer, weil man meist nur die Unterrichtsstunden sieht.
Vorbereitung und Nachbereitung des Unterrichts, Korrekturarbeiten, Konferenzen,
Gespräche mit Eltern und so weiter werden dabei selten berücksichtigt. Es
dürfte kein Zufall sein, dass die physische und psychische Belastung der Lehrer
in den letzten Jahren enorm gestiegen ist, wie die wachsende Zahl der
krankheitsbedingten Frühpensionierungen und die verbreiteten Fälle von
Burn-out, aber auch die Tatsache, dass immer mehr Lehrer nur noch im Teilpensum
arbeiten, zeigen.
Soll sich
das beschädigte Ansehen der Lehrer wirklich verbessern, so muss die elementare
Bedeutung von Schule und Unterricht und die sich daraus ergebende Aufgabe der
Lehrer vermehrt zur Sprache kommen – und zwar so, dass sie von der
Öffentlichkeit auch verstanden wird. Und bedenken wir eines zum Schluss: Wir
können nicht einerseits ständig von einer «Wissensgesellschaft» sprechen, in der
Transfer und Kommunikation eine immer grössere Bedeutung bekommen, und
andererseits jenen Berufsstand weiterhin kleinreden, dessen Bedeutung für
diesen Transfer kaum zu überschätzen ist.
Mario
Andreotti Dozent für Neuere Deutsche Literatur und Buchautor
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