Der
Kaderbeamte, der den pädophilen Lehrer Jürg Jegge deckte, ist selber einem
Lehrling zu nahe gekommen. Als der
Skandal um Jürg Jegge vor einem Jahr aufflog, waren alle überrascht. Doch
warnende Stimmen gab es schon vor fünfzig Jahren. Nur hörte niemand hin. Das
zeigt die politische Aufarbeitung des Falls.
Jürg Jegge hatte einen gleichgesinnten Unterstützer im Volksschulamt, Aargauer Zeitung, 29.6. von Andreas Maurer
Nachdem
Missbrauchsopfer Markus Zangger im April 2017 publik gemacht hatte, dass er und
andere Schüler jahrelang von ihrem Lehrer sexuell missbraucht worden waren,
eröffnete die Staatsanwaltschaft ein Strafverfahren. Doch sie stellte fest,
dass alle Straftaten verjährt waren.
Die
Zürcher Bildungsdirektorin Silvia Steiner (CVP), die vor ihrem Amtsantritt
Staatsanwältin war, sagt: «Das entlässt uns nicht aus unserer politischen
Verantwortung.» Deshalb investierte sie 100'000 Franken in einen 90-seitigen
Bericht. Anwalt Michael Budliger arbeitete sich mit der Unterstützung der
Historikerin Monika Gisler durch alte Protokolle von Regierungsräten,
Bildungsbeamten und Schulpflegern.
Die
externen Ermittler stiessen immer wieder auf den Namen eines prominenten
Beamten: Gerhard Keller, Leiter der Abteilung Volksschule während 28 Jahren. Er
war der Kantonsbeamte, der Jegge beaufsichtigt und ein verhängnisvolles
Sondersetting beantragt hatte. Er setzte beim damaligen Regierungsrat Alfred
Gilgen (LdU) durch, dass Jegge sechs Sonderschüler bei sich zu Hause
unterrichten durfte. Das sorgte für Kritik. Die Primarschulpflege Oberembrach
schickte 1978 ein geharnischtes Schreiben an die Zürcher Regierung. Sie
kritisierte Dreierlei: den geplanten Schulversuch, Jegges Unterrichtsmethoden
sowie Kellers kritiklose Haltung gegenüber Jegge. Regierungsrat Gilgen ordnete
darauf eine Aussprache an.
Der Vorwurf der Dummheit
Keller
war ein Bewunderer von Jegge und ein Fan seines Bestsellers «Dummheit ist
lernbar». Vor der Sitzung verteidigte er Jegge, indem er die Intelligenz der
Schulpfleger in einer Stellungnahme infrage stellte: «Bei uns ist Dummheit
nicht lernbar, bei der Schulpflege auch nicht. Mit so viel Dummheit muss man
geboren sein.» Nach der Sitzung notierte der inzwischen verstorbene
Regierungsrat auf das Protestschreiben der Schulpfleger eine handschriftliche
Bemerkung: «Keine Antwort mehr nötig».
Schon
in den Jahren zuvor intervenierten Schulpfleger mehrmals beim Kanton. Sie
kritisierten, dass bei Jegge die Vermittlung des Schulstoffes zu kurz komme.
Eine Frau, die im Bericht anonymisiert wird, verlangte von Jegge, dass er nicht
nur Psychologe der Kinder sein solle, sondern vor allem deren Lehrer. Nach
weiteren Schulbesuchen von anderen Personen wurden ähnliche Missstände moniert:
In Jegges Schülergruppen herrschten offenbar chaotische Zustände, wobei der Lehrer
oft nicht einmal anwesend war. Nach der Publikation seines Bestsellers häuften
sich seine Abwesenheiten. Und kein einziger seiner Schüler schaffte den
geplanten Wechsel von der Sonder- in die Regelklasse.
Als
Keller wiederholt mit Kritik aus der Gemeinde konfrontiert wurde, verschaffte
er seinem Ärger Luft, indem er sich in einer Aktennotiz des Stilmittels des
Sarkasmus bediente. Er schrieb: «Ich bin ‹gerne› bereit, auch noch zum dritten
Mal Nachforschungen zu machen, wenn gewünscht kann ich auch das FBI
einschalten. Man könnte aber auch einmal die pädagogischen Ideen von Jegge
diskutieren.»
Die Nähe des Amtschefs
Nicht
im Bericht steht, dass Keller, der gleich alt ist wie Jegge, ebenfalls ein zu
nahes Verhältnis zu einem seiner Schützlinge pflegte. 1992 liess er einen
seiner Lehrlinge bei sich übernachten und weckte diesen am Morgen. Der Amtschef
tauchte im Morgenmantel am Bett auf und massierte den Nacken des 18-Jährigen,
der nur einen Slip trug. Vor Gericht stritt Keller die Handlung nicht ab. Er gab
an, den Lehrling massiert zu haben, um dessen verspannte Muskulatur zu lockern.
Jegge argumentierte später ähnlich und erklärte seine sexuellen Übergriffe als
Lockerungsübungen. Keller war vor Gericht aber erfolgreich. Die Rückenmassage
habe zwar die Persönlichkeitsrechte des Lehrlings verletzt, stelle aber keine
sexuelle Handlung dar, hiess es im Freispruch.
Keller
führt heute ein Geschäft, das Schulen und Behörden berät. Er will sich auf
Anfrage nicht äussern, da die Vorgänge zu lange her seien. Er liess sich aber
von Anwalt Budliger einvernehmen und konnte diesen dabei überzeugen, dass er
nichts von Jegges sexuellen Übergriffen gewusst habe.
Bildungsdirektorin
Steiner sagt: «Jegge war ein Vorzeigepädagoge. Man schaute zu ihm hoch. Viele,
auch in der Erziehungsdirektion, bewunderten, ihn.» Das System als Ganzes habe
aber nicht versagt, da in anderen Missbrauchsfällen interveniert worden sei.
Man habe nicht gewusst, was sich hinter Jegges Türen abgespielt habe. Steiner
sieht den Fehler ihrer Vorgänger und der Behörden darin, dass sie Jegge zu
grosse Freiräume gewährt hätten.
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