Jürg Jegge war ein gefeierter Star, bis er als Pädophiler geoutet wurde. Wie
der vermeintliche Vorzeigepädagoge Schüler jahrelang sexuell missbrauchen
konnte, ohne dass es jemand bemerkte.
Verhängnisvolle Freiheiten, Thurgauer Zeitung, 30.6. von Florian Schoop
Jürg
Jegge war für viele ein Mann, der sich für seine Schüler einsetzte, ein
Buchautor, der sich als Reformpädagoge mit dem Bildungssystem anlegte, oder gar
ein Lehrer, der als «neuer Pestalozzi» gefeiert wurde. Seit April 2017 ist
Jegge aber vor allem eines: ein Mann, der seine Schüler sexuell missbrauchte.
Vor einem Jahr erschien ein Buch mit dem Titel «Jürg Jegges dunkle Seite». Der
Autor ist Markus Zangger, ein ehemaliger Schüler. Auf knapp 200 Seiten
schildert er darin die jahrelangen Übergriffe des Musterpädagogen. Der damals 12-jährige
Zangger wurde zum Sonderschüler degradiert und gelangte 1970 in Embrach unter
Jegges Obhut. Dort begann ein jahrelanger Missbrauch, vom Erzieher geschickt
als Therapie getarnt.
Gesamtes
Umfeld getäuscht
Zangger
war nicht der Einzige. Auch andere Schüler wurden Opfer von Jegges Übergriffen.
Es stellt sich die Frage: Wie konnte dieses System so lange unentdeckt bleiben?
Schauten die Behörden weg? Dies wollte auch die Zürcher Bildungsdirektorin
Silvia Steiner wissen. Nach den Enthüllungen erteilte sie dem Rechtsanwalt
Michael Budliger den Auftrag, einen unabhängigen Bericht zu erstellen. Dieser
sollte klären, ob sich die zuständigen Instanzen damals etwas haben zuschulden
kommen lassen. Nach einem Jahr Recherche, dem Studium von mehreren hundert Akten
und der Befragung der übrig gebliebenen Zeitzeugen kommt Budliger zum Schluss,
dass Jegge aussergewöhnlich grosse Freiheiten genossen hat, und die Behörden in
ihrer Aufsichtspflicht versagten. Jegge sei ein Pädophiler, der es verstanden
habe, «sein gesamtes Umfeld zu täuschen, um so äusserst günstige
Rahmenbedingungen auszuhandeln».
Bildungssystem
steckte im Umbruch
Um die
Umstände zu verstehen, unter welchen dieses System aus Abhängigkeit und
sexuellem Missbrauch möglich war, muss man sich die damalige Zeit
vergegenwärtigen. Denn Jegges Tätigkeit spaltete die Fachkräfte in zwei Lager:
Die Progressiven sahen in ihm jemanden, der sich voll für die Schüler einsetzte
und endlich einmal etwas zu ihrem Wohl unternahm. Für Konservative aber war er
ein antiautoritärer Lehrer, der Kinder in einer trostlosen Atmosphäre zur
Gesellschaftsunfähigkeit erzog. Der Zwist legt im Kleinen den Umbruch offen, in
dem das Bildungssystem nach 1968 steckte. Während dieser Zeit gelang es Jegge
immer wieder, sich zahlreiche Freiheiten herauszunehmen, für die er meist eine
Mehrheit fand. Schliesslich war es die Publikation seines Bestsellers «Dummheit
ist lernbar», die ihm endgültig den Nimbus eines Superpädagogen verlieh.
Dennoch
wurde sein Erziehungsstil immer kontroverser diskutiert. Dies aber nicht, weil
man damals etwas von den sexuellen Übergriffen geahnt hätte. Vielmehr geriet
die Disziplinlosigkeit der Schüler im Dorf, die mangelnde Ordnung im
Schulzimmer oder das Nichteinhalten des Stundenplans in die Kritik. Zudem fehlte
Jegge öfters im Unterricht. Aber auch sein Unterrichtsstil wurde je länger, je
weniger goutiert. Dass er Schüler auf seinem Schoss sitzend Auto fahren liess –
wo es, wie man heute weiss, zu Übergriffen kam – sah man nicht gerne.
Ohne
gesetzliche Grundlage
1977
hatte die Schulpflege in Embrach langsam genug. Die Stimmung kippte.
Gleichzeitig aber wollte die Zürcher Erziehungsdirektion mit Jegge einen
Schulversuch starten. Sie beauftragte ihn, eine Gruppe von fünf, sechs Schülern
zu betreuen. Der Unterricht fand in Jegges Wohnung statt. Das Ganze geschah
ohne gesetzliche Grundlage. Zudem konnte er ohne jegliche Aufsicht schalten und
walten. Das ist besonders stossend, da es in jener Zeit nachweislich zu
Übergriffen kam. Dass der ausgebildete Primarlehrer während seiner Zeit in
Embrach als Oberstufenlehrer tätig war und Sonderklassen führte, ohne über die
nötige Ausbildung zu verfügen, schien auch niemanden zu stören. Zwar kam es
vor, dass in jener Zeit des Lehrermangels Pädagogen ohne die benötigte Zertifizierung
eingestellt wurden. Doch die Dauer von Jegges Tätigkeit als Heilpädagoge ohne
Patent war auch für damalige Verhältnisse aussergewöhnlich.
Trotz den
massiven Verfehlungen zieht Michael Budliger folgendes Fazit: «Aus heutiger
Sicht ist es nicht nachweisbar, dass jemand von Jegges Taten gewusst oder ihn
gar unterstützt hätte.» Silvia Steiner nimmt deshalb nochmals die anfängliche
Frage auf: Weshalb wurde ein solches System nicht durchschaut? Ihre Antwort:
«Lehrer waren damals Autoritätspersonen, die man nicht hinterfragt hat.» Viele
hätten Jegges neue Methoden bewundert. Vor allem die Laienbehörden seien stark
beeindruckt gewesen. Der Vorzeigepädagoge habe sein Leben deshalb so
zurechtgelegt, dass er über Kinder verfügen konnte. «Damit unterscheidet er sich
durch nichts von anderen Pädophilen.»
Der Blick
in die Vergangenheit zeige, dass die Schulbehörden mit Jegge überfordert
gewesen seien. «Das System aber hat nicht versagt», hält Steiner fest. Für sie
ist deshalb klar: Ein Fall Jegge könnte sich nicht wiederholen. Heute würden
Schulen professionell geführt, und die Sensibilisierung gegenüber Übergriffen
sei grösser. «Aber eine Sicherheit, dass nicht eine einzelne Person dieses
System missbraucht, gibt es nicht.»
Im April
2017 erschien Markus Zanggers Buch «Jürg Jegges dunkle Seite». Darin schildert
er die jahrelangen sexuellen Übergriffe des einstigen Vorzeigepädagogen.
«Jürg
Jegge verhält sich wie ein typischer Pädophiler»
Als
12-Jähriger wurde Markus Zangger vom Reformpädagogen Jürg Jegge jahrelang
sexuell missbraucht – in einem Buch machte er vor einem Jahr die Übergriffe
publik.
Herr
Zangger, der Bericht des Zürcher Regierungsrates zeigt auf, dass die Behörden
damals versagt haben. Gibt Ihnen das eine gewisse Genugtuung?
Auf jeden
Fall. Man sieht hier einfach die Überforderung der Behörden. Und man sieht
auch, dass Jürg Jegge ein frecher Kerl war, der jeden Spielraum ausgenutzt hat.
Der Bericht zeigt aber auch, dass die Verantwortlichen nicht wussten, was wir
heute wissen. In Dorfgesprächen waren die Übergriffe natürlich schon ein Thema.
Doch der Weg, bis ein solches Gespräch in den Akten Niederschlag findet, ist
weit. Ich bin jedenfalls sehr froh darüber, dass sich die
Untersuchungsergebnisse mit den Aussagen in meinem Buch decken.
Ist für
Sie der Fall Jürg Jegge aufgearbeitet, oder braucht es dazu noch mehr?
Ich kann
es zwar noch nicht abschliessend sagen, doch ich denke, der Fall ist sehr gut
aufgearbeitet. Meine Vorwürfe wurden in allen Belangen bestätigt. Das ist für
mich eine grosse Genugtuung.
Wie haben
Sie den grossen Wirbel erlebt, der nach der Publikation Ihres Buches entstanden
ist? Sie standen ja quasi aus dem Nichts plötzlich im Rampenlicht.
Ich habe
damit gerechnet, dass ein riesiger Wirbel entstehen kann. Dennoch war es schon
schwierig, damit umzugehen. Es ist halt auch kein schönes Thema. Ich würde ja
auch lieber eine fröhlichere Angelegenheit vertreten. Doch ich habe gemerkt:
Wenn ich jetzt nicht hinstehe, dann macht es niemand, da niemand anderes die
Kraft dazu hatte. Dennoch: Ich bin nun sechzig Jahre alt, und noch immer ist es
für mich schwierig, über die Geschehnisse zu sprechen. Was mich jedoch etwas
enttäuscht, ist, dass nur wenige Pädagogen und Lehrer mein Buch gelesen haben.
Woran
könnte das liegen?
Ich
denke, für viele Pädagogen bedeutet mein Buch die Demontage eines Denkmals.
Viele Jahre galt Jürg Jegge als Vorzeigelehrer. Dass er es nun plötzlich nicht
mehr ist, muss man erst verkraften und verarbeiten können – vor allem, wenn man
an dieses Denkmal geglaubt hat. Es war quasi ein schönes Märchen, an welches
viele Pädagogen von Anfang an geglaubt haben. Märchen hört man gerne, sie zu
hinterfragen, fällt schwer.
Wäre ein
solches Märchen beziehungsweise ein Fall Jegge im heutigen Schulsystem noch
möglich?
Ich denke
nicht. In einem solchen Ausmass dürfte das nicht mehr möglich sein.
Sie sehen
sich ja auch als Fürsprecher der anderen Opfer Jegges. Wie haben diese auf das
Buch reagiert?
Sie haben
gut darauf reagiert. Einige haben sogar gesagt, sie würden rechtlich
bestätigen, dass sie dasselbe erlebt hätten. Aber sie sagen auch ganz klar,
dass sie nicht an die Öffentlichkeit treten wollten. Und das akzeptiere ich.
Ist es zu
einer Aussprache zwischen Ihnen und Jegge gekommen?
Nein, ich
will auch keine Aussprache.
Warum?
Wieso
soll ich von ihm wieder dieselben Geschichten hören? Das bringt absolut nichts.
Er müsste sich ohne Wenn und Aber entschuldigen. Dazu müsste er klar sagen, was
er gemacht hat. Aber er verhält sich wie ein typischer Pädophiler. Er versucht,
alles herunterzuspielen, nur zuzugeben, was unbedingt nötig ist. Zudem verdreht
er alles. Das habe ich auch bei seinen Aussagen gegenüber der
Staatsanwaltschaft gesehen. Jegge sagt, er könne sich nicht mehr an Namen
erinnern. Ich kann ihm gut auf die Sprünge helfen. Denn ich kenne die Namen.
Sind Sie
ihm nach der Publikation Ihres Buches wieder einmal begegnet?
Nein, ich
bin ihm Gott sei Dank nicht mehr über dem Weg gelaufen. Und ich hoffe auch,
dass das so bleibt. (fsc)
Wie man
Jürg Jegge machen liess
Zuweisungsverfahren:
Ab 1970 führte Jürg Jegge in Embrach Förderklassen. Die Schüler wurden diesen
bis auf eine Ausnahme rechtmässig durch die Schulpflege zugeteilt. Der
vorgeschriebene Einbezug der Eltern scheint weitgehend dem Ermessen des Lehrers
überlassen worden zu sein. Schulärztliche Zeugnisse liegen wenige vor. An ihre
Stelle traten damals vermehrt schulpsychologische Abklärungen. Diese konnte
Jürg Jegge aber zum Teil selbst vornehmen – ohne Ausbildung.
Aufsicht:
Viele Schulpflegeprotokolle belegen, dass über Jegges Unterrichtsstil intensiv
und kontrovers diskutiert wurde. 1973 versuchte man, ihn vergeblich mit einem
mit der Erziehungsdirektion abgesprochenen 12-Punkte-Programm zu
disziplinieren. Es wurden ihm beispielsweise Autofahrten mit den Schülern
verboten, kein Schüler durfte sich während der Schulzeit in Jegges Wohnung
aufhalten, und er durfte nicht «zu persönlichen Zwecken» – etwa Vorträgen – dem
Unterricht fernbleiben. Offensichtlich hatte sich Jegge schon damals grosse
Freiheiten herausgenommen. Dabei blieb es auch. Seinem Wunsch nach einem
Schulbetrieb ausserhalb einer Schulanlage wurde trotz schlechten Erfahrungen
immer wieder entsprochen.
Schulversuch:
Jegges Konzept sollte ab 1978 in dem Versuch «Schule in Kleingruppen» erprobt
werden. Jegge wurde für die Vorbereitung dieses Versuchs ab Frühling 1977 von
der Erziehungsdirektion in einem Setting beschäftigt, das keine Rechtsgrundlage
hatte. Dazu gehörte das Unterrichten einer Gruppe von fünf Schülern.
Durchgesetzt hatte die Lösung der damalige Chef der Abteilung Volksschule,
Gerhard Keller. Das Setting ermöglichte Jegge, eineinhalb Jahre praktisch ohne
Aufsicht zu unterrichten. (wbt.)
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