4. Juli 2018

Jegge nütze seine Freiheiten aus

Jürg Jegge war ein gefeierter Star, bis er als Pädophiler geoutet wurde. Wie der vermeintliche Vorzeigepädagoge Schüler jahrelang sexuell missbrauchen konnte, ohne dass es jemand bemerkte.
Verhängnisvolle Freiheiten, Thurgauer Zeitung, 30.6. von Florian Schoop


Jürg Jegge war für viele ein Mann, der sich für seine Schüler einsetzte, ein Buchautor, der sich als Reformpädagoge mit dem Bildungssystem anlegte, oder gar ein Lehrer, der als «neuer Pestalozzi» gefeiert wurde. Seit April 2017 ist Jegge aber vor allem eines: ein Mann, der seine Schüler sexuell missbrauchte. Vor einem Jahr erschien ein Buch mit dem Titel «Jürg Jegges dunkle Seite». Der Autor ist Markus Zangger, ein ehemaliger Schüler. Auf knapp 200 Seiten schildert er darin die jahrelangen Übergriffe des Musterpädagogen. Der damals 12-jährige Zangger wurde zum Sonderschüler degradiert und gelangte 1970 in Embrach unter Jegges Obhut. Dort begann ein jahrelanger Missbrauch, vom Erzieher geschickt als Therapie getarnt.

Gesamtes Umfeld getäuscht
Zangger war nicht der Einzige. Auch andere Schüler wurden Opfer von Jegges Übergriffen. Es stellt sich die Frage: Wie konnte dieses System so lange unentdeckt bleiben? Schauten die Behörden weg? Dies wollte auch die Zürcher Bildungsdirektorin Silvia Steiner wissen. Nach den Enthüllungen erteilte sie dem Rechtsanwalt Michael Budliger den Auftrag, einen unabhängigen Bericht zu erstellen. Dieser sollte klären, ob sich die zuständigen Instanzen damals etwas haben zuschulden kommen lassen. Nach einem Jahr Recherche, dem Studium von mehreren hundert Akten und der Befragung der übrig gebliebenen Zeitzeugen kommt Budliger zum Schluss, dass Jegge aussergewöhnlich grosse Freiheiten genossen hat, und die Behörden in ihrer Aufsichtspflicht versagten. Jegge sei ein Pädophiler, der es verstanden habe, «sein gesamtes Umfeld zu täuschen, um so äusserst günstige Rahmenbedingungen auszuhandeln».

Bildungssystem steckte im Umbruch
Um die Umstände zu verstehen, unter welchen dieses System aus Abhängigkeit und sexuellem Missbrauch möglich war, muss man sich die damalige Zeit vergegenwärtigen. Denn Jegges Tätigkeit spaltete die Fachkräfte in zwei Lager: Die Progressiven sahen in ihm jemanden, der sich voll für die Schüler einsetzte und endlich einmal etwas zu ihrem Wohl unternahm. Für Konservative aber war er ein antiautoritärer Lehrer, der Kinder in einer trostlosen Atmosphäre zur Gesellschaftsunfähigkeit erzog. Der Zwist legt im Kleinen den Umbruch offen, in dem das Bildungssystem nach 1968 steckte. Während dieser Zeit gelang es Jegge immer wieder, sich zahlreiche Freiheiten herauszunehmen, für die er meist eine Mehrheit fand. Schliesslich war es die Publikation seines Bestsellers «Dummheit ist lernbar», die ihm endgültig den Nimbus eines Superpädagogen verlieh.

Dennoch wurde sein Erziehungsstil immer kontroverser diskutiert. Dies aber nicht, weil man damals etwas von den sexuellen Übergriffen geahnt hätte. Vielmehr geriet die Disziplinlosigkeit der Schüler im Dorf, die mangelnde Ordnung im Schulzimmer oder das Nichteinhalten des Stundenplans in die Kritik. Zudem fehlte Jegge öfters im Unterricht. Aber auch sein Unterrichtsstil wurde je länger, je weniger goutiert. Dass er Schüler auf seinem Schoss sitzend Auto fahren liess – wo es, wie man heute weiss, zu Übergriffen kam – sah man nicht gerne.

Ohne gesetzliche Grundlage
1977 hatte die Schulpflege in Embrach langsam genug. Die Stimmung kippte. Gleichzeitig aber wollte die Zürcher Erziehungsdirektion mit Jegge einen Schulversuch starten. Sie beauftragte ihn, eine Gruppe von fünf, sechs Schülern zu betreuen. Der Unterricht fand in Jegges Wohnung statt. Das Ganze geschah ohne gesetzliche Grundlage. Zudem konnte er ohne jegliche Aufsicht schalten und walten. Das ist besonders stossend, da es in jener Zeit nachweislich zu Übergriffen kam. Dass der ausgebildete Primarlehrer während seiner Zeit in Embrach als Oberstufenlehrer tätig war und Sonderklassen führte, ohne über die nötige Ausbildung zu verfügen, schien auch niemanden zu stören. Zwar kam es vor, dass in jener Zeit des Lehrermangels Pädagogen ohne die benötigte Zertifizierung eingestellt wurden. Doch die Dauer von Jegges Tätigkeit als Heilpädagoge ohne Patent war auch für damalige Verhältnisse aussergewöhnlich.

Trotz den massiven Verfehlungen zieht Michael Budliger folgendes Fazit: «Aus heutiger Sicht ist es nicht nachweisbar, dass jemand von Jegges Taten gewusst oder ihn gar unterstützt hätte.» Silvia Steiner nimmt deshalb nochmals die anfängliche Frage auf: Weshalb wurde ein solches System nicht durchschaut? Ihre Antwort: «Lehrer waren damals Autoritätspersonen, die man nicht hinterfragt hat.» Viele hätten Jegges neue Methoden bewundert. Vor allem die Laienbehörden seien stark beeindruckt gewesen. Der Vorzeigepädagoge habe sein Leben deshalb so zurechtgelegt, dass er über Kinder verfügen konnte. «Damit unterscheidet er sich durch nichts von anderen Pädophilen.»
Der Blick in die Vergangenheit zeige, dass die Schulbehörden mit Jegge überfordert gewesen seien. «Das System aber hat nicht versagt», hält Steiner fest. Für sie ist deshalb klar: Ein Fall Jegge könnte sich nicht wiederholen. Heute würden Schulen professionell geführt, und die Sensibilisierung gegenüber Übergriffen sei grösser. «Aber eine Sicherheit, dass nicht eine einzelne Person dieses System missbraucht, gibt es nicht.»
Im April 2017 erschien Markus Zanggers Buch «Jürg Jegges dunkle Seite». Darin schildert er die jahrelangen sexuellen Übergriffe des einstigen Vorzeigepädagogen. 

«Jürg Jegge verhält sich wie ein typischer Pädophiler»
Als 12-Jähriger wurde Markus Zangger vom Reformpädagogen Jürg Jegge jahrelang sexuell missbraucht – in einem Buch machte er vor einem Jahr die Übergriffe publik.

Herr Zangger, der Bericht des Zürcher Regierungsrates zeigt auf, dass die Behörden damals versagt haben. Gibt Ihnen das eine gewisse Genugtuung?
Auf jeden Fall. Man sieht hier einfach die Überforderung der Behörden. Und man sieht auch, dass Jürg Jegge ein frecher Kerl war, der jeden Spielraum ausgenutzt hat. Der Bericht zeigt aber auch, dass die Verantwortlichen nicht wussten, was wir heute wissen. In Dorfgesprächen waren die Übergriffe natürlich schon ein Thema. Doch der Weg, bis ein solches Gespräch in den Akten Niederschlag findet, ist weit. Ich bin jedenfalls sehr froh darüber, dass sich die Untersuchungsergebnisse mit den Aussagen in meinem Buch decken.

Ist für Sie der Fall Jürg Jegge aufgearbeitet, oder braucht es dazu noch mehr?
Ich kann es zwar noch nicht abschliessend sagen, doch ich denke, der Fall ist sehr gut aufgearbeitet. Meine Vorwürfe wurden in allen Belangen bestätigt. Das ist für mich eine grosse Genugtuung.

Wie haben Sie den grossen Wirbel erlebt, der nach der Publikation Ihres Buches entstanden ist? Sie standen ja quasi aus dem Nichts plötzlich im Rampenlicht.
Ich habe damit gerechnet, dass ein riesiger Wirbel entstehen kann. Dennoch war es schon schwierig, damit umzugehen. Es ist halt auch kein schönes Thema. Ich würde ja auch lieber eine fröhlichere Angelegenheit vertreten. Doch ich habe gemerkt: Wenn ich jetzt nicht hinstehe, dann macht es niemand, da niemand anderes die Kraft dazu hatte. Dennoch: Ich bin nun sechzig Jahre alt, und noch immer ist es für mich schwierig, über die Geschehnisse zu sprechen. Was mich jedoch etwas enttäuscht, ist, dass nur wenige Pädagogen und Lehrer mein Buch gelesen haben.

Woran könnte das liegen?
Ich denke, für viele Pädagogen bedeutet mein Buch die Demontage eines Denkmals. Viele Jahre galt Jürg Jegge als Vorzeigelehrer. Dass er es nun plötzlich nicht mehr ist, muss man erst verkraften und verarbeiten können – vor allem, wenn man an dieses Denkmal geglaubt hat. Es war quasi ein schönes Märchen, an welches viele Pädagogen von Anfang an geglaubt haben. Märchen hört man gerne, sie zu hinterfragen, fällt schwer.

Wäre ein solches Märchen beziehungsweise ein Fall Jegge im heutigen Schulsystem noch möglich?
Ich denke nicht. In einem solchen Ausmass dürfte das nicht mehr möglich sein.

Sie sehen sich ja auch als Fürsprecher der anderen Opfer Jegges. Wie haben diese auf das Buch reagiert?
Sie haben gut darauf reagiert. Einige haben sogar gesagt, sie würden rechtlich bestätigen, dass sie dasselbe erlebt hätten. Aber sie sagen auch ganz klar, dass sie nicht an die Öffentlichkeit treten wollten. Und das akzeptiere ich.

Ist es zu einer Aussprache zwischen Ihnen und Jegge gekommen?
Nein, ich will auch keine Aussprache.

Warum?
Wieso soll ich von ihm wieder dieselben Geschichten hören? Das bringt absolut nichts. Er müsste sich ohne Wenn und Aber entschuldigen. Dazu müsste er klar sagen, was er gemacht hat. Aber er verhält sich wie ein typischer Pädophiler. Er versucht, alles herunterzuspielen, nur zuzugeben, was unbedingt nötig ist. Zudem verdreht er alles. Das habe ich auch bei seinen Aussagen gegenüber der Staatsanwaltschaft gesehen. Jegge sagt, er könne sich nicht mehr an Namen erinnern. Ich kann ihm gut auf die Sprünge helfen. Denn ich kenne die Namen.

Sind Sie ihm nach der Publikation Ihres Buches wieder einmal begegnet?
Nein, ich bin ihm Gott sei Dank nicht mehr über dem Weg gelaufen. Und ich hoffe auch, dass das so bleibt. (fsc)

Wie man Jürg Jegge machen liess
Zuweisungsverfahren: Ab 1970 führte Jürg Jegge in Embrach Förderklassen. Die Schüler wurden diesen bis auf eine Ausnahme rechtmässig durch die Schulpflege zugeteilt. Der vorgeschriebene Einbezug der Eltern scheint weitgehend dem Ermessen des Lehrers überlassen worden zu sein. Schulärztliche Zeugnisse liegen wenige vor. An ihre Stelle traten damals vermehrt schulpsychologische Abklärungen. Diese konnte Jürg Jegge aber zum Teil selbst vornehmen – ohne Ausbildung.
Aufsicht: Viele Schulpflegeprotokolle belegen, dass über Jegges Unterrichtsstil intensiv und kontrovers diskutiert wurde. 1973 versuchte man, ihn vergeblich mit einem mit der Erziehungsdirektion abgesprochenen 12-Punkte-Programm zu disziplinieren. Es wurden ihm beispielsweise Autofahrten mit den Schülern verboten, kein Schüler durfte sich während der Schulzeit in Jegges Wohnung aufhalten, und er durfte nicht «zu persönlichen Zwecken» – etwa Vorträgen – dem Unterricht fernbleiben. Offensichtlich hatte sich Jegge schon damals grosse Freiheiten herausgenommen. Dabei blieb es auch. Seinem Wunsch nach einem Schulbetrieb ausserhalb einer Schulanlage wurde trotz schlechten Erfahrungen immer wieder entsprochen.
Schulversuch: Jegges Konzept sollte ab 1978 in dem Versuch «Schule in Kleingruppen» erprobt werden. Jegge wurde für die Vorbereitung dieses Versuchs ab Frühling 1977 von der Erziehungsdirektion in einem Setting beschäftigt, das keine Rechtsgrundlage hatte. Dazu gehörte das Unterrichten einer Gruppe von fünf Schülern. Durchgesetzt hatte die Lösung der damalige Chef der Abteilung Volksschule, Gerhard Keller. Das Setting ermöglichte Jegge, eineinhalb Jahre praktisch ohne Aufsicht zu unterrichten. (wbt.)


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