10. Juli 2018

Hohe Gymnasialquote sorgt für Probleme

Kein anderer Kanton schickt so viele Jugendliche ans Gymnasium wie Genf. Es gehört zum bildungspolitischen Konzept des Westschweizer Kantons, möglichst vielen den Weg an die Mittelschule zu öffnen: 2016 waren es mit 46 Prozent beinah die Hälfte aller Jugendlichen am Ende der obligatorischen Schulzeit. Auch die Kantone Waadt, Tessin und Basel-Stadt zeigen sich besonders grosszügig. Ganz anders die Kantone Uri, St. Gallen, Glarus oder Appenzell Ausserrhoden, in denen die Chance der Jugendlichen, ans Gymnasium zu kommen, ein Drittel so gross ist. Das föderalistisch geprägte Schweizer Bildungssystem produziert an dieser Schwelle ein hohes Mass an Chancenungleichheit.

Die verlorenen Jahre der Gymnasiasten, NZZ, 10.7. von Jürg Krummenacher

Allerdings schmeisst auch kein anderer Kanton so viele potenzielle Maturanden flugs wieder hinaus wie Genf. Stefan Wolter, der Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung, spricht von einem Anteil von gegen 50 Prozent, die innerhalb des ersten Jahres das Gymnasium bereits wieder verlassen müssten. Er nennt dies ein eigentliches Selektionsjahr.

Abbrecherkarrieren

Erstmals haben Wolter und sein Team im Rahmen des Schweizer Bildungsberichts 2018 vertiefte Erkenntnisse zu Studienabbrüchen an Gymnasien und Universitäten und deren Folgen auswerten können. Jeder Kanton hat seine Eigenheiten. Eine Konsequenz für Genf besteht beispielsweise darin, dass viele Lehrstellen gar nicht mehr an normale Schulabgänger vergeben werden, weil die Betriebe zuerst auf die aus dem Gymnasium gefallenen Jugendlichen warten.
Eine andere Politik hat das Tessin gewählt. Es öffnet die Tür zum Gymnasium ebenfalls weit, selektioniert im ersten Jahr aber weniger streng aus, sondern lässt die ungenügenden Schüler repetieren. Gemäss Stefan Wolter trifft dies auf mehr als ein Fünftel der Tessiner Gymnasiasten zu, dennoch schafft es ein weiteres Viertel nicht bis zur Matur. Die Politik der offenen Tür führt im Tessin wie in Genf trotzdem zu hohen Maturitätsquoten von über 30 Prozent. Auch in Basel-Stadt und in der Waadt bewegt sich die Quote um 30 Prozent; die Anforderungen an einen gymnasialen Abschluss sind deutlich geringer als in anderen Kantonen. Im Durchschnitt aller Kantone lag die gymnasiale Maturitätsquote 2015 bei 20,8 Prozent. Wolter zeigt wenig Freude an den gymnasialen Leerläufen. Sie führen einerseits zu hohen, bisher nicht bezifferten Kosten. Anderseits hätten systembedingte schulische Misserfolge wie in Genf auch psychische Konsequenzen für die Jugendlichen: «Daraus können sich richtige Abbrecherkarrieren ergeben.» Mit Folgen für das individuelle Weiterkommen auf dem Arbeitsmarkt: Die Stellensuche wird schwieriger, der Lohn fällt tendenziell tiefer aus. Generell steigt gemäss Wolter die Gefahr, dass schlechte Anschlusslösungen gewählt werden.

Hohe Ausfallquote an der Uni

Die gymnasiale Maturität ist in der Schweiz das Eintrittsticket für die Universität. Das soll so bleiben. Allerdings haben die unterschiedlichen Ein- und Austrittsschwellen je nach Kanton auch zur Folge, dass die Maturandinnen und Maturanden höchst unterschiedliche Kompetenzen für das Studium mitbringen. Das hat zur Folge, dass aus den Kantonen mit einer hohen Maturitätsquote auch die meisten Studienabbrecher stammen. Stefan Wolter spricht von einer exponentiellen Steigerung der Abbruchquote: «Bei Kantonen mit einer Maturitätsquote von mehr als 20 Prozent verdoppelt sich die spätere Ausfallquote an der Universität mindestens.»
Gemäss den vom Bundesamt für ­Statistik veröffentlichten Daten sind Genf, Waadt und Uri die Kantone mit den höchsten Studienabbruchquoten, Appenzell Ausserrhoden, Schaffhausen und Jura die mit den geringsten. Diese Daten sind allerdings insofern zu relativieren, als bei kleinen Kantonen wie Uri die Zahl der untersuchten Studierenden klein und die Gefahr von Schwankungen gross ist. Der Verein Schweizerischer Gymnasiallehrkräfte weist zudem darauf hin, dass sich Studienerfolg oder -abbruch ebenso mit soziodemografischen Faktoren erklären liessen.
In der Tendenz trifft aber zu, dass die grosszügige Praxis mancher Kantone bei der gymnasialen Maturität zur Folge hat, dass eine höhere Anzahl zu wenig kompetenter Studierender «produziert» wird, die vom Studium überfordert sind und dieses abbrechen müssen. Das mag in Einzelfällen der richtige Weg sein, den individuellen Weg in die Arbeitswelt zu finden, für die meisten aber sind das teure, verlorene Jahre.

Kompetenzen stärker gewichten

Es ist Sache der Politik, daraus Schlüsse zu ziehen. Eine erstmals vorliegende Studie zum Bildungsverlauf von 13 000 Jugendlichen zeigt aber, dass die Kompetenzen stärker gewichtet werden sollten. So zeigte sich wenig überraschend, dass jene Jugendlichen, die bei Pisa-Tests in allen getesteten Bereichen ein bestimmtes Kompetenzlevel (vier) erreicht hatten, die ersten beiden Jahre im Gymnasium meist (zu 83 Prozent) ohne Abbruch oder Repetition überstanden. Von jenen, die in keinem Bereich auf Level vier gekommen waren, schaffte hingegen nur knapp die Hälfte den Sprung in die dritte Gymnasialklasse.
«In den Kantonen sollten nicht Quoten, sondern Kompetenzen über das Weiterkommen entscheiden», sagt Stefan Wolter. Niemand will eine Einheitsmatur, doch der Ruf nach einer gewissen Angleichung der kantonalen Anforderungen ist lauter geworden. Dabei gerät insbesondere das Aufnahmeverfahren der Gymnasien in den Fokus. Just in mehreren Kantonen mit hohen Aufnahme- und Maturaquoten, insbesondere in Genf, erfolgt der Übertritt ohne Prüfung, sondern aufgrund von Empfehlungen. Der Weg ins Gymnasium und durchs Studium bleibt ein Stück weit Glückssache.

1 Kommentar:

  1. Dank dem föderalistischen System zeigt es sich, welche Schulsysteme sich bewähren. Eine hohe Maturaquote heisst nicht, dass die Schüler gescheiter sind, dass zeigt sich spätestens bei der Ausfallquote an der Uni. Der Ökonom Wolter hat offenbar nicht abgeklärt, warum trotzdem soviele ins Gymi wollen? In Basel-Stadt sind es die Schulreformen (Orientierungsschule, LP21), die die Volksschule derart verschlechtert haben, dass die Eltern ihre Kinder lieber ans Gymi schicken. Basel-Stadt und Genf sind die Schlusslichter beim Volksschulranking in der Schweiz. Offenbar ist Wolter auf den LP21-Zug mit den Kompetenzen aufgesprungen und hat übersehen, dass die Länder mit Kompetenzorientierung bei PISA abstürzen.

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