21. Juli 2018

Mehr oder weniger Maturanden?

Wie viele Jugendliche die Hochschulreife erlangen sollen, wird von Professoren, Politikern und Bildungsforschern unterschiedlich beurteilt.
Matura, Qualität oder Quantität? - Ostschweizer Kantone unter dem Durchschnitt, Thurgauer Zeitung, 12.7. von Balz Bruder


Die Zeiten, da die Kloster- oder Lateinschule vor allem dem Zweck diente, alte Sprachen zu lernen, um die Bibellektüre zu ermöglichen, sind zwar lange vorbei. Doch die Debatte um das Gymnasium als den Ort, an dem gleichsam Human­kapital durch humanistische Bildung ­geäufnet wird, um mit der Matura die Hochschulreife zu erlangen, ist so virulent wie eh und je. Jüngstes Beispiel: Der frühere Rektor der Universität Basel, ­Antonio Loprieno, sprach sich in der «Schweiz am Wochenende» jüngst für eine Maturitätsquote von 30 Prozent aus. Zum Vergleich: Derzeit liegt sie gesamtschweizerisch bei gut 20 Prozent – in der Deutschschweiz tendenziell tiefer, in der Romandie und im Tessin traditionellerweise höher.

Die Gründe dafür sind ebenso vielfältig wie uneindeutig. Jedenfalls gibt es keine empirischen Untersuchungen darüber, weshalb die Differenzen derart eklatant sind. Sind es die unterschiedlichen Anforderungen des Arbeitsmarkts? Sind es soziodemografische Faktoren? Sind es regionale beziehungsweise kulturelle Eigenheiten? Niemand weiss es so genau. Für Loprieno ist unabhängig davon klar: «Die Schweiz braucht mehr Maturanden.» Denn es sei falsch zu denken, nur die besten Schüler sollten ans Gymnasium. «Wir brauchen die besten – und dann noch einige andere», ist der italienisch-schweizerische Ägyptologe überzeugt. Er, der seit diesem Frühling den Zusammenschluss aller europäischen Akademien präsidiert, argumentiert dabei mit dem Wandel der Wissensgesellschaft in Richtung Digitalisierung ebenso wie mit dem zunehmenden Fachkräftemangel. Loprieno befürchtet, dass die Schweiz nach der grossen Expansion des gymnasialen Bildungswegs (und ­dessen Feminisierung) in den 80er- und 90er-Jahren international den Anschluss verlieren könnte. Dies für den Fall, dass sie nicht in der Lage sein sollte, die ­Maturitätsquote – gemeint ist die Anzahl Abschüsse gemessen an der Zahl der 19-Jährigen – dauerhaft zu erhöhen.

Von «Bildungsdünkel» bis zu «Denkfehler»
Gar nicht einverstanden mit der professoralen Forderung ist der ehemalige SP-Nationalrat und Ökonom Rudolf Strahm, der als Buchautor unter anderem mit der «Akademisierungsfalle» in Erscheinung getreten ist. Strahm spricht in einer ­gepfefferten Replik auf Loprienos Äusserung von einem «beachtlichen Bildungsdünkel» und einer «Fehleinschätzung des Fachkräfteproblems». Was dem früheren Preisüberwacher vor allem in die Nase gestochen ist: Der Akademisierungsaufruf erfasst nur die gymnasialen Maturanden (21 Prozent), nicht aber die Berufsmaturanden (15 Prozent) und die Fachmaturanden (3 Prozent). Höhere ­Berufsgebildete, die der Arbeitsmarkt problemlos absorbiert.

Das Ausblenden von anderen als gymnasialen Maturanden ist für Strahm vor diesem Hintergrund ein «Denkfehler». Er verweist zum einen auf die hohe Durchlässigkeit des Schweizer Bildungssystems – dies nach dem bewährten Motto «kein Abschluss ohne Anschluss». Zum andern kann sich der diplomierte Chemiker den Hinweis an den Ägyptologen nicht verkneifen, an den Universitäten würden durchaus nicht nur Gymnasiasten veredelt, die in der Folge von der Wirtschaft förmlich aufgesogen würden. Dies im Gegensatz zu Hochschulabgängern in den Mint-Disziplinen (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik), die nachweislich häufig schon in der Mittelschule entsprechende Schwerpunkte gesetzt haben.

Königsweg ist immer noch die duale Bildung
Für Strahm steht in Übereinstimmung mit Bund und Kantonen denn auch fest: «Der wirtschaftspolitische Königsweg ist die Kombination von praktischer Berufskompetenz (Skills) und hohem, auch akademischem Fachwissen (Knowledge). Und zwar in allen Berufen und auf allen Bildungsstufen. So, wie es heute schon gang und gäbe ist. Eindrücklich: 60 Prozent der jüngeren Arbeitnehmenden absolvieren in ­irgendeiner Form einen Bildungsgang auf tertiärer Stufe, also an universitären Hochschulen, Fachhochschulen und höheren Fachschulen. Weshalb also sollen ausgerechnet mehr Gymnasiasten den Denk- und Werkplatz Schweiz retten?

Der Bildungswissenschafter Lucien ­Criblez sieht sowohl bei Loprieno als auch bei Strahm Ansätze, die zu verfolgen sind. Der an der Universität Zürich lehrende Professor für Historische Bildungsforschung und Steuerung des Bildungssystems hält dafür, die Debatte über die ­Maturitätsquote nicht auf das Gymnasium zu beschränken, sondern Berufs- und Fachmaturität einzubeziehen. Ob die Quote zu tief, gerade richtig oder zu hoch sei, ist für Criblez allerdings nicht eine wissenschaftliche, sondern eine «normative, politisch für eine bestimmte Zeit und ein bestimmtes Bildungssystem zu beantwortende Frage». Zentral ist für Criblez dies: «Bildet ein Bildungssystem zu einem gegebenen Zeitpunkt hinreichend und hinreichend gut qualifiziertes Personal für die gegebene Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur aus?» Und gibt die Antwort gleich selber: «In einer Situation von Fachkräftemangel, der sich weiter zuzuspitzen scheint und immer deutlicher an Entwicklungen in den 60er-Jahren erinnert, macht es wenig Sinn, den berufsbildenden gegen den allgemeinbildenden Bildungsweg auszuspielen.»

Vielmehr gehe es «immer deutlicher um eine Bildungsoffensive auf allen Ebenen und Niveaus des Bildungssystems». Das Ausspielen von unterschiedlichen Bildungswegen erscheint Criblez dabei nicht als sinnvoll: «Das ist keine Problemlösungsstrategie», sagt er. Und verweist auf die Debatte über Studienrichtungen, die je nach Perspektive als nützlich oder nicht nützlich bezeichnet werden. Ein Diskurs, der zuweilen auch die gymnasiale Matur erfasst – beispielsweise im Ruf nach einem Mehr an Mint-Kompetenzen der Mittelschüler und einem Weniger an humanistischem Bildungsgut. Für Bildungsforscher Criblez greifen diese Forderungen ebenso zu kurz wie die anhaltenden Diskussionen über die Maturitätsquote: «Sie sind sowohl empirisch als auch historisch verkürzt», betont er.

Nicht überall ist Studierfähigkeit, wo sie attestiert wird
Eine zusätzliche und kritische Dimension bringt Stefan C. Wolter, Professor für Bildungsökonomie an der Universität Bern und Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung, ein: «Es ist denkbar, dass die Gymnasien – nicht generell, aber doch individuell – Studierfähigkeit bescheinigen, wo diese nicht gegeben ist», schrieb Wolter jüngst in der «Volkswirtschaft». Und: «Der Schluss scheint zulässig, dass Maturitätsausweise vergeben werden, bei denen die Erfolgswahrscheinlichkeit eingeschränkt ist.» Ein entscheidender Punkt, der über die Diskussion über Sinn und Unsinn einer Maturitätsquote hinausweist. Es geht um die Zugangs- ebenso wie um die Ausgangsschranken des Gymnasiums. Und um das, was dazwischen ist.

«Abbrecherkarrieren» sind schädlich und teuer
Tatsächlich werden zum Zeitpunkt, da die künftigen Studierenden ins Gymnasium eintreten, wichtige Weichen gestellt. Individuell, aber auch gesellschaftlich. Forschungen zeigen: Je höher die Maturitätsquote in den Kantonen, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass die Mittelschüler das erste Schuljahr nicht schaffen und aussteigen – oder aber in die Repetitionsschlaufe geraten.
Bildungsforscher Wolter, unter dessen Leitung der jüngste Bildungsbericht entstanden ist, spricht bewusst von ­«Abbrecherkarrieren», die nicht nur den Jugendlichen schaden, sondern darüber hinaus auch noch viel kosten. «Bei Kantonen mit einer Maturitätsquote von mehr als 20 Prozent verdoppelt sich die spätere Ausfallquote an der Universität mindestens», sagte Wolter diese Woche der NZZ gegenüber. Samt und sonders Gründe, die eine generelle Erhöhung der gymnasialen Maturitätsquote wenig ratsam erscheinen lassen, eine Diskussion über die vertiefte Gesellschaftsreife und allgemeine Studierfähigkeit, wie sie das Maturitätsanerkennungsreglement postuliert, dafür umso dringlicher. «In den Kantonen sollten nicht Quoten, sondern Kompetenzen über das Weiterkommen entscheiden», fasst Wolter zusammen.


Übrigens: Debattenauslöser Lop­rieno war früher Präsident der Rektorenkonferenz der Schweizer Universitäten (CRUS). Diese heisst heute Rektorenkonferenz der schweizerischen Hochschulen (Swissuniversities) und mag sich zur Frage der Maturitätsquote nicht äussern, wie Kommunikationschefin Josefa Haas auf Anfrage sagt.

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