Wie viele Jugendliche
die Hochschulreife erlangen sollen, wird von Professoren, Politikern und
Bildungsforschern unterschiedlich beurteilt.
Matura, Qualität oder Quantität? - Ostschweizer Kantone unter dem Durchschnitt, Thurgauer Zeitung, 12.7. von Balz Bruder
Die Zeiten, da die Kloster- oder Lateinschule vor allem dem
Zweck diente, alte Sprachen zu lernen, um die Bibellektüre zu ermöglichen, sind
zwar lange vorbei. Doch die Debatte um das Gymnasium als den Ort, an dem
gleichsam Humankapital durch humanistische Bildung geäufnet wird, um mit der
Matura die Hochschulreife zu erlangen, ist so virulent wie eh und je. Jüngstes
Beispiel: Der frühere Rektor der Universität Basel, Antonio Loprieno, sprach
sich in der «Schweiz am Wochenende» jüngst für eine Maturitätsquote von 30
Prozent aus. Zum Vergleich: Derzeit liegt sie gesamtschweizerisch bei gut 20
Prozent – in der Deutschschweiz tendenziell tiefer, in der
Romandie und im Tessin traditionellerweise höher.
Die Gründe dafür sind ebenso vielfältig wie uneindeutig.
Jedenfalls gibt es keine empirischen Untersuchungen darüber, weshalb die
Differenzen derart eklatant sind. Sind es die unterschiedlichen Anforderungen
des Arbeitsmarkts? Sind es soziodemografische Faktoren? Sind es regionale beziehungsweise
kulturelle Eigenheiten? Niemand weiss es so genau. Für Loprieno ist unabhängig
davon klar: «Die Schweiz braucht mehr Maturanden.» Denn es sei falsch zu
denken, nur die besten Schüler sollten ans Gymnasium. «Wir brauchen die besten
– und dann noch einige andere», ist der italienisch-schweizerische Ägyptologe
überzeugt. Er, der seit diesem Frühling den Zusammenschluss aller europäischen
Akademien präsidiert, argumentiert dabei mit dem Wandel der Wissensgesellschaft
in Richtung Digitalisierung ebenso wie mit dem zunehmenden Fachkräftemangel.
Loprieno befürchtet, dass die Schweiz nach der grossen Expansion des
gymnasialen Bildungswegs (und dessen Feminisierung) in den 80er- und
90er-Jahren international den Anschluss verlieren könnte. Dies für den Fall,
dass sie nicht in der Lage sein sollte, die Maturitätsquote – gemeint ist die
Anzahl Abschüsse gemessen an der Zahl der 19-Jährigen – dauerhaft zu erhöhen.
Von «Bildungsdünkel»
bis zu «Denkfehler»
Gar nicht einverstanden mit der professoralen Forderung ist
der ehemalige SP-Nationalrat und Ökonom Rudolf Strahm, der als Buchautor unter
anderem mit der «Akademisierungsfalle» in Erscheinung getreten ist. Strahm
spricht in einer gepfefferten Replik auf Loprienos Äusserung von einem
«beachtlichen Bildungsdünkel» und einer «Fehleinschätzung des
Fachkräfteproblems». Was dem früheren Preisüberwacher vor allem in die Nase
gestochen ist: Der Akademisierungsaufruf erfasst nur die gymnasialen Maturanden
(21 Prozent), nicht aber die Berufsmaturanden (15 Prozent) und die
Fachmaturanden (3 Prozent). Höhere Berufsgebildete, die der Arbeitsmarkt
problemlos absorbiert.
Das Ausblenden von anderen als gymnasialen Maturanden ist
für Strahm vor diesem Hintergrund ein «Denkfehler». Er verweist zum einen auf
die hohe Durchlässigkeit des Schweizer Bildungssystems – dies nach dem
bewährten Motto «kein Abschluss ohne Anschluss». Zum andern kann sich der
diplomierte Chemiker den Hinweis an den Ägyptologen nicht verkneifen, an den
Universitäten würden durchaus nicht nur Gymnasiasten veredelt, die in der Folge
von der Wirtschaft förmlich aufgesogen würden. Dies im Gegensatz zu
Hochschulabgängern in den Mint-Disziplinen (Mathematik, Informatik,
Naturwissenschaften, Technik), die nachweislich häufig schon in der
Mittelschule entsprechende Schwerpunkte gesetzt haben.
Königsweg ist immer
noch die duale Bildung
Für Strahm steht in Übereinstimmung mit Bund und Kantonen
denn auch fest: «Der wirtschaftspolitische Königsweg ist die Kombination von
praktischer Berufskompetenz (Skills) und hohem, auch akademischem Fachwissen
(Knowledge). Und zwar in allen Berufen und auf allen Bildungsstufen. So, wie es
heute schon gang und gäbe ist. Eindrücklich: 60 Prozent der jüngeren
Arbeitnehmenden absolvieren in irgendeiner Form einen Bildungsgang auf tertiärer
Stufe, also an universitären Hochschulen, Fachhochschulen und höheren
Fachschulen. Weshalb also sollen ausgerechnet mehr Gymnasiasten den Denk- und
Werkplatz Schweiz retten?
Der Bildungswissenschafter Lucien Criblez sieht sowohl bei
Loprieno als auch bei Strahm Ansätze, die zu verfolgen sind. Der an der
Universität Zürich lehrende Professor für Historische Bildungsforschung und
Steuerung des Bildungssystems hält dafür, die Debatte über die Maturitätsquote
nicht auf das Gymnasium zu beschränken, sondern Berufs- und Fachmaturität
einzubeziehen. Ob die Quote zu tief, gerade richtig oder zu hoch sei, ist für
Criblez allerdings nicht eine wissenschaftliche, sondern eine «normative,
politisch für eine bestimmte Zeit und ein bestimmtes Bildungssystem zu beantwortende
Frage». Zentral ist für Criblez dies: «Bildet ein Bildungssystem zu einem
gegebenen Zeitpunkt hinreichend und hinreichend gut qualifiziertes Personal für
die gegebene Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur aus?» Und gibt die Antwort
gleich selber: «In einer Situation von Fachkräftemangel, der sich weiter
zuzuspitzen scheint und immer deutlicher an Entwicklungen in den 60er-Jahren
erinnert, macht es wenig Sinn, den berufsbildenden gegen den allgemeinbildenden
Bildungsweg auszuspielen.»
Vielmehr gehe es «immer deutlicher um eine Bildungsoffensive
auf allen Ebenen und Niveaus des Bildungssystems». Das Ausspielen von
unterschiedlichen Bildungswegen erscheint Criblez dabei nicht als sinnvoll:
«Das ist keine Problemlösungsstrategie», sagt er. Und verweist auf die Debatte
über Studienrichtungen, die je nach Perspektive als nützlich oder nicht
nützlich bezeichnet werden. Ein Diskurs, der zuweilen auch die gymnasiale Matur
erfasst – beispielsweise im Ruf nach einem Mehr an Mint-Kompetenzen der
Mittelschüler und einem Weniger an humanistischem Bildungsgut. Für
Bildungsforscher Criblez greifen diese Forderungen ebenso zu kurz wie die
anhaltenden Diskussionen über die Maturitätsquote: «Sie sind sowohl empirisch
als auch historisch verkürzt», betont er.
Nicht überall ist
Studierfähigkeit, wo sie attestiert wird
Eine zusätzliche und kritische Dimension bringt Stefan C.
Wolter, Professor für Bildungsökonomie an der Universität Bern und Direktor der
Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung, ein: «Es ist
denkbar, dass die Gymnasien – nicht generell, aber doch individuell –
Studierfähigkeit bescheinigen, wo diese nicht gegeben ist», schrieb Wolter
jüngst in der «Volkswirtschaft». Und: «Der Schluss scheint zulässig, dass
Maturitätsausweise vergeben werden, bei denen die Erfolgswahrscheinlichkeit
eingeschränkt ist.» Ein entscheidender Punkt, der über die Diskussion über Sinn
und Unsinn einer Maturitätsquote hinausweist. Es geht um die Zugangs- ebenso
wie um die Ausgangsschranken des Gymnasiums. Und um das, was dazwischen ist.
«Abbrecherkarrieren»
sind schädlich und teuer
Tatsächlich werden zum Zeitpunkt, da die künftigen
Studierenden ins Gymnasium eintreten, wichtige Weichen gestellt. Individuell,
aber auch gesellschaftlich. Forschungen zeigen: Je höher die Maturitätsquote in
den Kantonen, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass die Mittelschüler das
erste Schuljahr nicht schaffen und aussteigen – oder aber in die
Repetitionsschlaufe geraten.
Bildungsforscher Wolter, unter dessen Leitung der jüngste
Bildungsbericht entstanden ist, spricht bewusst von «Abbrecherkarrieren», die
nicht nur den Jugendlichen schaden, sondern darüber hinaus auch noch viel
kosten. «Bei Kantonen mit einer Maturitätsquote von mehr als 20 Prozent
verdoppelt sich die spätere Ausfallquote an der Universität mindestens», sagte
Wolter diese Woche der NZZ gegenüber. Samt und sonders Gründe, die eine
generelle Erhöhung der gymnasialen Maturitätsquote wenig ratsam erscheinen
lassen, eine Diskussion über die vertiefte Gesellschaftsreife und allgemeine
Studierfähigkeit, wie sie das Maturitätsanerkennungsreglement postuliert, dafür
umso dringlicher. «In den Kantonen sollten nicht Quoten, sondern Kompetenzen
über das Weiterkommen entscheiden», fasst Wolter zusammen.
Übrigens: Debattenauslöser Loprieno war früher Präsident
der Rektorenkonferenz der Schweizer Universitäten (CRUS). Diese heisst heute
Rektorenkonferenz der schweizerischen Hochschulen (Swissuniversities) und mag
sich zur Frage der Maturitätsquote nicht äussern, wie Kommunikationschefin Josefa
Haas auf Anfrage sagt.
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