Übergriffe auf Lehrpersonen nehmen zu. Schuld sei der fehlende Respekt, sagen die Experten. Daran allein liegt es aber nicht. Kinder brauchen wieder pädagogische Autoritäten, meint Carl Bossard .
Schulkinder suchen keinen Coach, sondern einen Häuptling, NZZ, 15.7. von Carl Bossard
Das Klima in den Schulen werde rauer und der Umgang rüder, die
Gewalt gegenüber Lehrpersonen steige, der Anstand nehme ab, befand eine jüngst
veröffentlichte Studie. Ohne Zweifel gilt: Gelebte Kooperation basiert auf
gegenseitigem Respekt. Er bildet den Grundstein für den sozialen Kitt in
Schulklassen. Wo der Respekt schwindet, kommt es zu verbalen Übergriffen. In
fast 50 Prozent der Schweizer Schulen sei das schon vorgekommen.
Betroffen sind vor allem Junglehrer. Das erstaunt wenig. Das
Bestehen in der Manege des Klassenzimmers verlangt Führungs- und Widerstandskraft.
Darauf sind manche ungenügend vorbereitet. Die hohe Ausstiegsrate von 20
Prozent der Lehrer im ersten Berufsjahr ist ein deutliches Indiz.
Die heutige Lehrerausbildung hin zur Individualisierung darf
darum das konsequente Führen einer Klasse nicht vernachlässigen. Diese Aufgabe
pädagogischer Leadership müsste gezielt geschult werden. Der Neurobiologe
Joachim Bauer drückt es so aus: «Kinder und Jugendliche wollen beides:
Verständnis und Führung.» Das seien unerlässliche Tragpfeiler eines
respektvollen und effizienten Unterrichts. Anders formuliert: Kinder wollen
einen verständnisvollen Häuptling; sie wünschen sich eine mitfühlende
Dirigentin.
Gefordert sind die Pädagogischen Hochschulen. Allerdings
gibt es hier durchaus auch konträre Stimmen: Angehende Lehrer würden heute nicht
mehr primär Klassen führen; es werde individualisiert. Die Lehrperson sei
Coach; in der Funktion als «Partnerin» oder «Berater» begleite sie die
Lernenden. Die «direkte Instruktion» sei out, die Klassenführung darum sekundär
geworden. Ohnehin habe das historisch kontaminierte Wort «führen» einen schalen
Beigeschmack.
Solche Tendenzen verkennen die Realität. Das umsichtige
Führen einer Klasse im gemeinsamen Unterricht gehört zum didaktischen Abc eines
Pädagogen. Wer die Basisschwimmart Brustschwimmen nicht beherrscht, dem fällt
es schwer, als Erstes den anspruchsvolleren Crawl oder gar den Delphin zu
erlernen. Doch genau diese falsche Priorität prägt die Ausbildung, wenn
selbstorientiertes Lernen und anspruchsvolle Gruppenarbeiten als
Unterrichtsbasis vorgegeben werden.
Das Bejahen der Leadership im Schulzimmer hängt zusammen mit
einem positiven Bezug zur pädagogischen Autorität. Nicht umsonst sagt Roland
Amstutz vom Verband Bildung Bern: «Ein Schüler erlaubt sich mehr, wenn eine
Lehrperson nur über wenig Autorität verfügt.» Respekt ist an personale
Autorität gebunden. Respekt fehlt nicht einfach, wie die Experten behaupten. Er
wird zugeschrieben und braucht ein vitales Visavis: eine Lehrperson mit
positiver Autorität, die schülerzentriert steuert und mit einem verbindlichen
Commitment das Verhalten in der Klasse regelt.
Autoritäten haben es heute schwer. Das Wort rückt in die
Nähe zu «autoritär». Und wer will schon autoritär sein? Doch es geht nicht um
jene «autoritären Personen», wie sie der Philosoph Theodor W. Adorno um 1950
analysiert hat und Siegfried Lenz sie in seiner «Deutschstunde» schildert. Das
war Autorität als Position; sie setzte auf Hierarchie. Personale Autorität
dagegen ist ein Beziehungsverhältnis.
Die empirische Forschung zeigt es: Zentral sind die
Lehrpersonen und ihr Unterricht – und ihre spürbare Beziehung zu den Kindern.
Da gibt es weder Anbiederung noch Laissez-faire oder fraternisierende Nähe.
Anstand braucht auch Abstand. Das wissen begabte Pädagogen. Sie führen
straff-locker und strahlen dabei eine charmante und natürliche Autorität aus.
Sie kennen auch den Mut zum Nein. Solchen Autoritäten gegenüber empfindet man
Respekt. Er bildet sich durch Zuschreibung personaler und sozial-humaner Werte.
Einer Respektsperson begegnet man nicht mit lärmigen Übergriffen.
Wer mit achtsamer Autorität zu führen gelernt hat, wird in
der Dynamik einer pulsierenden Klasse bestehen. Das ist in der Manege des
Unterrichtszimmers zwar keine Garantie gegen renitentes Schülerverhalten, aber
eine wichtige Prävention – im Wissen: Kinder suchen einen Häuptling. In der
amerikanischen pädagogischen Psychologie heisst es pragmatisch: «Teachers are
leaders of learning and learners», Lehrer führen das Lernen und die Lernenden.
Diese Botschaft bleibt aktuell.
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