22. Juli 2018

Autoritäten haben es heute schwer

Übergriffe auf Lehrpersonen nehmen zu. Schuld sei der fehlende Respekt, sagen die Experten. Daran allein liegt es aber nicht. Kinder brauchen wieder pädagogische Autoritäten, meint Carl Bossard .

Schulkinder suchen keinen Coach, sondern einen Häuptling, NZZ, 15.7. von Carl Bossard

Das Klima in den Schulen werde rauer und der Umgang rüder, die Gewalt gegenüber Lehrpersonen steige, der Anstand nehme ab, befand eine jüngst veröffentlichte Studie. Ohne Zweifel gilt: Gelebte Kooperation basiert auf gegenseitigem Respekt. Er bildet den Grundstein für den sozialen Kitt in Schulklassen. Wo der Respekt schwindet, kommt es zu verbalen Übergriffen. In fast 50 Prozent der Schweizer Schulen sei das schon vorgekommen. 

Betroffen sind vor allem Junglehrer. Das erstaunt wenig. Das Bestehen in der Manege des Klassenzimmers verlangt Führungs- und Widerstandskraft. Darauf sind manche ungenügend vorbereitet. Die hohe Ausstiegsrate von 20 Prozent der Lehrer im ersten Berufsjahr ist ein deutliches Indiz.

Schulklassen führen erfordert Leadership. Lehrer stehen dabei komplexen Kollektiven gegenüber. Widersprüche kennzeichnen ihren Alltag: Achtsam sein und gleichzeitig Disziplin verlangen, alles verstehen, ohne immer einverstanden zu sein, konfrontieren und Empathie zeigen, Nähe suchen und Distanz wahren, das Kollektiv im Auge behalten und den Einzelnen im Blick haben – oft eingezwängt zwischen dem Wohl des Kindes, den steigenden Ansprüchen seiner Eltern und der Gesellschaft generell.
Die heutige Lehrerausbildung hin zur Individualisierung darf darum das konsequente Führen einer Klasse nicht vernachlässigen. Diese Aufgabe pädagogischer Leadership müsste gezielt geschult werden. Der Neurobiologe Joachim Bauer drückt es so aus: «Kinder und Jugendliche wollen beides: Verständnis und Führung.» Das seien unerlässliche Tragpfeiler eines respektvollen und effizienten Unterrichts. Anders formuliert: Kinder wollen einen verständnisvollen Häuptling; sie wünschen sich eine mitfühlende Dirigentin. 
Gefordert sind die Pädagogischen Hochschulen. Allerdings gibt es hier durchaus auch konträre Stimmen: Angehende Lehrer würden heute nicht mehr primär Klassen führen; es werde individualisiert. Die Lehrperson sei Coach; in der Funktion als «Partnerin» oder «Berater» begleite sie die Lernenden. Die «direkte Instruktion» sei out, die Klassenführung darum sekundär geworden. Ohnehin habe das historisch kontaminierte Wort «führen» einen schalen Beigeschmack. 

Solche Tendenzen verkennen die Realität. Das umsichtige Führen einer Klasse im gemeinsamen Unterricht gehört zum didaktischen Abc eines Pädagogen. Wer die Basisschwimmart Brustschwimmen nicht beherrscht, dem fällt es schwer, als Erstes den anspruchsvolleren Crawl oder gar den Delphin zu erlernen. Doch genau diese falsche Priorität prägt die Ausbildung, wenn selbstorientiertes Lernen und anspruchsvolle Gruppenarbeiten als Unterrichtsbasis vorgegeben werden.

Das Bejahen der Leadership im Schulzimmer hängt zusammen mit einem positiven Bezug zur pädagogischen Autorität. Nicht umsonst sagt Roland Amstutz vom Verband Bildung Bern: «Ein Schüler erlaubt sich mehr, wenn eine Lehrperson nur über wenig Autorität verfügt.» Respekt ist an personale Autorität gebunden. Respekt fehlt nicht einfach, wie die Experten behaupten. Er wird zugeschrieben und braucht ein vitales Visavis: eine Lehrperson mit positiver Autorität, die schülerzentriert steuert und mit einem verbindlichen Commitment das Verhalten in der Klasse regelt. 

Autoritäten haben es heute schwer. Das Wort rückt in die Nähe zu «autoritär». Und wer will schon autoritär sein? Doch es geht nicht um jene «autoritären Personen», wie sie der Philosoph Theodor W. Adorno um 1950 analysiert hat und Siegfried Lenz sie in seiner «Deutschstunde» schildert. Das war Autorität als Position; sie setzte auf Hierarchie. Personale Autorität dagegen ist ein Beziehungsverhältnis.

Die empirische Forschung zeigt es: Zentral sind die Lehrpersonen und ihr Unterricht – und ihre spürbare Beziehung zu den Kindern. Da gibt es weder Anbiederung noch Laissez-faire oder fraternisierende Nähe. Anstand braucht auch Abstand. Das wissen begabte Pädagogen. Sie führen straff-locker und strahlen dabei eine charmante und natürliche Autorität aus. Sie kennen auch den Mut zum Nein. Solchen Autoritäten gegenüber empfindet man Respekt. Er bildet sich durch Zuschreibung personaler und sozial-humaner Werte. Einer Respektsperson begegnet man nicht mit lärmigen Übergriffen. 


Wer mit achtsamer Autorität zu führen gelernt hat, wird in der Dynamik einer pulsierenden Klasse bestehen. Das ist in der Manege des Unterrichtszimmers zwar keine Garantie gegen renitentes Schülerverhalten, aber eine wichtige Prävention – im Wissen: Kinder suchen einen Häuptling. In der amerikanischen pädagogischen Psychologie heisst es pragmatisch: «Teachers are leaders of learning and learners», Lehrer führen das Lernen und die Lernenden. Diese Botschaft bleibt aktuell.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen