Die Erziehungswissenschafterin Marianne Schüpbach sieht im Stadtzürcher
Modell noch Verbesserungspotenzial
Frau Schüpbach, wie beurteilen Sie das Zürcher
Tagesschulmodell aus erziehungswissenschaftlicher Sicht?
Allein von der Struktur eines Tagesschulmodells lässt sich dessen
pädagogischer Gewinn nicht abschliessend beurteilen. Eine 80-minütige
gemeinsame Mittagspause bietet aber sehr wenig Zeit, um das Potenzial einer
Tagesschule voll auszuschöpfen. Es ist sicher eine gute Grundlage, die sich
unter pädagogischen Gesichtspunkten aber weiter ausbauen liesse.
«Die Tagesschule sollte mehr sein als eine blosse Wohlfühloase», NZZ, 12.5. von Lena Schenkel
Das Modell bietet auch die Möglichkeit der
freiwilligen Aufgabenhilfe nach Unterrichtsschluss.
Das ist begrüssenswert. Langfristig – wenn einmal alle Kinder
Tagesschulen besuchen – stellt sich ohnehin die Frage, ob die Erledigung der
Hausaufgaben künftig nicht ganz wegfallen wird oder die Schülerinnen und
Schüler ein Zeitfenster im Unterricht haben werden, um selbständig mit
fachkundiger Unterstützung Aufgaben zu lösen. Mit reiner Aufgabenhilfe in der
Tagesschule ist es aber nicht getan. Die Betreuungszeit sollte insgesamt
pädagogisch sinnvoll gestaltet werden: Sozial- und Schulpädagogik sind dabei gleichermassen
gefordert.
Wie muss man sich das vorstellen?
Ideal wären neben freiem Spiel geführte und zielgerichtete Aktivitäten
oder Arbeitsgruppen, wie man sie etwa in Deutschland kennt. An solchen können
die Kinder nach dem Unterricht freiwillig, aber dann verbindlich an einem oder
zwei Nachmittagen in der Woche über ein Semester hinweg teilnehmen.
Noch mehr Schule?
Gemeint ist nicht eine Verlängerung des Unterrichts, sondern eine
spielerische Förderung. Die Kinder könnten zum Beispiel angeleitet von einer
Betreuungsperson mit einem Tablet selber einen Parcours im Quartier gestalten.
Ganz nebenbei würden sie dabei Medienkompetenzen erwerben. Am besten würden
verschiedene solcher Programme mit unterschiedlicher Ausrichtung, zum Beispiel
einer eher sprachlichen oder einer eher mathematischen, parallel angeboten. Was
die zeitliche Dauer betrifft, wären eineinhalb Stunden ideal.
Wer müsste diese Programme leiten – Lehrer?
Man muss zwischen freizeit- und schulorientierten Angeboten
unterscheiden. Für Erstere braucht es nicht nur pädagogisch ausgebildetes
Personal, für Letztere unbedingt. Das müssen jedoch nicht zwingend Lehrer sein
– denn das sogar die Gefahr bergen, dass diese solche Angebote eher wieder
verschulen. Es braucht aber pädagogisch qualifiziertes Personal für diese
Arbeit. Die Programme sollten didaktisch aufgebaut und klar strukturiert sein.
Ist eine Rundumförderung denn Aufgabe der
Tagesschule?
Es kommt auf die Erwartungen an die Tagesschule an, die sich – auch
politisch – stark unterscheiden. Dass sich die Kinder dort wohl fühlen, kann
aber meiner Meinung nach nicht das einzige Ziel sein. Die Tagesschule sollte
mehr sein als eine blosse Wohlfühloase. Wenn man auch die Chancengleichheit
fördern will, böte die Tagesschule viele Ansätze dafür.
Was den pädagogischen Mehrwert von Tagesschulen
betrifft, kamen Sie selbst aber zu unterschiedlichen Ergebnissen in Ihren
Studien.
In einer ersten Studie von 2006 haben wir zwei verschiedene
Tagesschulmodelle über drei Jahre untersucht, in einer zweiten von letztem Jahr
nur ein Modell über ein Schuljahr hinweg – aus unvorhergesehenen
organisatorischen Gründen. In der ersten Studie zeigten sich positive Effekte,
in der zweiten nicht. Aus anderen Untersuchungen ist jedoch bekannt, dass ein
Angebot intensiv und über längere Zeit genutzt werden muss, damit sich ein
messbarer Effekt zeigt. Dafür braucht es mehr als ein gemeinsames Mittagessen
in der Schule.
Interview: Lena Schenkel
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