Tausende Schüler belegen in der Schweiz freiwillig Kurse in türkischer Sprache und Kultur. In Deutschland und Österreich monieren Kritiker seit längerem eine Indoktrination durch den türkischen Staat. Nun erreicht die Diskussion auch die Schweiz.
Türkische Propaganda in Schweizer Schulzimmern? NZZ, 6.5. von Christina Neuhaus
Sonntag, 25. März,
in Uttwil, Thurgau. In der Mehrzweckhalle findet eine Veranstaltung statt, die
die türkische Schule Romanshorn angemeldet hat. Die Schirmherrschaft hat die
türkische Botschaft in Bern. Einer der Höhepunkte ist ein nationalistisches
Theaterstück, das sich um die Schlacht von Gallipoli dreht. Laut Videomaterial,
das dem «Sonntags-Blick» zugespielt wurde und das dieser in seiner jüngsten
Ausgabe veröffentlicht hat, zeigt es knapp sechsjährige Buben,
die sich vor einem Riesenposter von Mustafa Kemal Atatürk gegenseitig
niederschiessen.
Die Schlacht
von Gallipoli ist in der Türkei ein nationaler Mythos. 1915 hatten Briten, Australier
und Franzosen versucht, sich den Weg durch die osmanischen Dardanellen
freizuschiessen. Der Angriff endete in einem Desaster: Die Alliierten
scheiterten an der Abwehr der Jungtürken unter Divisionskommandant Atatürk.
Das Gemetzel von
Gallipoli wird von der Regierung Erdogan seit Jahren gross inszeniert. Sie hat
den «Tag der Gefallenen», den die Türkei jeweils am 18. März in Erinnerung
an die tragischen Ereignisse feiert, zum Symbol für den Sieg des Islams über
«westliche Kreuzritter» uminterpretiert.
Schulbehörden haben keinen Einfluss auf den
Türkischunterricht
Organisiert wurde das
Theater in Uttwil vom Elternbeirat der türkischen Schule St. Gallen. Die
Kindergärtler und Primarschüler, die auf der Bühne türkische Helden und
westliche Verlierer spielten, gehören laut «Sonntags-Blick» in ihrer Mehrheit
zu einer sogenannten HSK-Klasse aus Flawil. Die Abkürzung steht für Heimatliche
Kultur und Sprache. Es handelt sich um freiwillige Kurse für Kinder aus
Migrantenfamilien, die von den jeweiligen Botschaften oder Kulturvereinen
angeboten werden. Die Teilnahme ist freiwillig. Schülerinnen und Schüler, die
sich für einen HSK-Kurs entscheiden, werden für diese Zeit vom Unterricht
freigestellt. Die Besuche können im Schweizer Schulzeugnis benotet werden. Meist
stellen die Volksschulen auch die Räumlichkeiten zur Verfügung.
HSK-Kurse müssten
eigentlich politisch, konfessionell und wirtschaftlich neutral sein. Es gibt
sie in Türkisch, Tamilisch, Italienisch, Spanisch oder auch Arabisch. Der
Türkischunterricht ist in der Vergangenheit allerdings immer wieder in den
Verdacht der Indoktrination geraten. Die Lehrerinnen und Lehrer schickt der
türkische Staat, der Unterricht folgt dem türkischen Lehrplan.
Dieser Umstand sorgte
vor einem Jahr in Basel-Stadt für eine breit diskutierte politische
Kontroverse. Eine grüne Politikerin hatte den Basler Regierungsrat
aufgefordert, den HSK-Unterricht unter die Aufsicht des kantonalen
Erziehungsdepartements zu stellen. In seiner jetzigen Form sei er tendenziös
bis propagandistisch. Der Basler Regierungsrat beantwortete die Interpellation
jedoch abschlägig: Den HSK-Unterricht zu integrieren, wäre zu aufwendig und
teuer. Das Erziehungsdepartement nahm die Lehrerinnen und Lehrer gegen die
Kritik in Schutz. Sie seien europafreundlich und verstünden sich als
Brückenbauer zwischen den Kulturen, sagte die HSK-Zuständige gegenüber Radio
SRF.
Auch in St. Gallen
sahen die Schulbehörden bis jetzt keinen Anlass, die Türkischkurse auf
Neutralität hin zu prüfen. Der Leiter des kantonalen Amts für Volksschule liess
sich im «Sonntags-Blick» lediglich mit dem Satz zitieren: «Der HSK-Unterricht ergänzt
den Sprachunterricht in der Regelklasse, da sich die jeweiligen Lernprozesse
wechselseitig positiv beeinflussen.»
Die Theateraufführung in
Uttwil ist kein Einzelfall. Im solothurnischen Biberist etwa wurden die
osmanischen Heldentaten am 18. März ebenfalls gross inszeniert.
Organisatorin war die Türkisch-Islamische Stiftung für die Schweiz, ein Ableger
des Religionsministeriums Diyanet in Ankara. Weitere Kriegsfeiern fanden laut
«Sonntags-Blick» in türkischen Moscheen im Kanton Aargau statt, darunter in
Buchs und Aarburg. Die Erlöse der Veranstaltungen fliessen an die
Mehmetçik-Stiftung, die Kriegsveteranen der türkischen Armee unterstützt.
In Deutschland und Österreich schon lange ein
Thema
In Deutschland und
Österreich ist Staatspropaganda im Türkischunterricht seit Jahren ein Thema.
Ende 2016 sagte die deutsche CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die Indoktrination von
Kindern im sogenannten Konsulatsunterricht müsse verhindert werden. Der
hessische Beamtenbund forderte unter dem Motto «Erdogan sitzt in unseren
Klassenzimmern» die Rückkehr des muttersprachlichen Unterrichts unter die
Aufsicht der Bundesländer, und die Konferenz der Kultusminister räumte Probleme
mit dem Türkischunterricht ein.
Auch über die
Gallipoli-Gedenkveranstaltungen berichten österreichische und deutsche Medien
breit. Die Wiener Stadtzeitung «Falter» veröffentlichte kürzlich Fotos, die
belegen sollten, dass bereits im Jahr 2016 Schlachten mit Kindern nachgestellt
wurden. In Deutschland fanden laut Recherchen des Senders WDR im März
bundesweit mehr als 80 Gedenkveranstaltungen statt, in denen Kinder als
Soldaten des Ersten Weltkriegs auftraten. Organisiert wurden die Inszenierungen
vom grössten Moscheeverband Europas, Ditib, der schon mehrfach wegen Propaganda
und Bespitzelung in der Kritik stand.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen