Seit den 1970er-Jahren wird bei uns, und nicht nur da, auf Kosten der Schüler am Bildungssystem herumlaboriert. Ob es funktioniert, wird am lebendigen Wesen ausprobiert. Geht es gut, dann wollen alle die Erfolge einheimsen, geht es daneben, dann tragen die Kinder die Folgen. Einer der neuesten pädagogischen Trends, der in Wirklichkeit jedoch nicht so neu ist, wie er sich gibt, nennt sich «Selbstorganisiertes Lernen SOL». Das klingt in der Theorie toll. Denn wer möchte nicht mitbestimmen, was er lernt, sich nicht eigenständig Lernziele setzen und selber geeignete Lernstrategien auswählen. Doch die Realität sieht anders, sieht nüchterner aus.
Wenn Lernformen Kinder überfordern, St. Galler Tagblatt, 27.4. von Mario Andreotti
Selbstorganisiertes
Lernen gründet in der Idee,Lernprozesse seien dann erfolgreich, wenn Kinder, wie eben
gesagt, möglichst viel mitbestimmen, sich selber Lernziele setzen können, die
sie erreichen wollen, wenn sie sich selbst motivieren und so Verantwortung für
ihr eigenes Lernen übernehmen. Betont, ja geradezu verabsolutiert wird damit
die aktive Seite des Lernens und der Lernenden. Für besonders begabte
Schülerinnen und Schüler mögen selbstgesteuerte Lernformen viel Freiheit und
Mitbestimmung bieten; die Lehrperson kann, so wird versichert, gezielter auf
einzelne Schüler eingehen. Zudem sollen diese Lernformen den Schulbetrieb
flexibler machen. Das hört sich alles gut an.
Trotzdem
ist selbstorganisiertes Lernen nicht kindgerecht, wie auch der
Kinder- und Jugendpsychologe Allan Guggenbühl festhält. Primarschülern gibt man
vor, sie könnten ihren Lernprozess selber steuern. Das setzt eine
Vorstellung von Autonomie voraus, über die Kinder noch gar nicht verfügen. Sie
fühlen sich allein gelassen, was Überforderung und Stress auslöst. Und das in
einer Zeit, in der Kinder und Jugendliche sonst schon zunehmend über Druck
und Überforderung durch Familie und Gesellschaft klagen. Selbst Gymnasiasten,
vor allem wenn es sich um leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler handelt,
bekunden mit selbstorganisiertem Lernen ihre Mühe, wie erste Erfahrungen an
Berner Gymnasien gezeigt haben.
Das
Ganze entbehrt nicht einer gewissen Paradoxie: Da werfen die Befürworter des
selbstorganisierten Lernens dem herkömmlichen Unterricht im Klassenzimmer vor,
Lernfreiheit und Eigenständigkeit der Schüler kämen darin zu kurz. Gleichzeitig
votieren sie aber für eine derart engmaschige Beurteilung der Kinder, wie es
sie nie zuvor gegeben hat. Seit einigen Jahren haben alle Lehrpersonen des
Kindergartens und der Primarschule der Nordwestschweiz für jedes Kind einen
standardisierten Lernbericht auszufüllen, in dem all seine Leistungen umfassend
festgehalten sind: 72 Kreuze auf einer Skala von 1 bis 4. Da heisst es, selbst
für Kindergartenschüler, beispielsweise: «Das Kind erledigt Aufgaben
termingerecht und vollständig», als ob Kinder Arbeitnehmer in irgendeinem
Unternehmen wären. Dass solch absurde Lernberichte, die zu unnötigem
Leistungsdruck führen und letztlich nichts bringen, bei der Lehrerschaft
umstritten sind, kann uns nicht erstaunen.
Selbstorganisiertes
Lernen erfordert folgerichtig die Auflösung des gemeinsamen Klassenunterrichts. Die Lehrer als
Wissensvermittler treten nur noch in kurzen, klassenübergreifenden
Inputlektionen in Erscheinung; ihre Rolle verändert sich zunehmend hin zum
reinen Lerncoach. Den überwiegenden Rest der Zeit verbringen die Schüler,
mehr oder weniger sich selbst überlassen, in sogenannten «Lernateliers». Dabei
haben eine ganze Reihe von Studien längst gezeigt, dass es nicht primär die
Unterrichtsmethode, nicht einmal die Klassengrösse, sondern die Persönlichkeit
der Lehrerin oder des Lehrers, ihre fachliche und pädagogisch-didaktische
Kompetenz ist, die zum Lernerfolg der Schüler entscheidend beiträgt. Und genau
diese Lehrerpersönlichkeiten, die den Klassenunterricht, immer wieder ergänzt
durch andere Lernformen, souverän gestalten, sollen irgendwelchen
gesichtslosen Unterrichtsprojekten weichen. Ist das die Schule, die wir unseren
Kindern und Jugendlichen wünschen?
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