Anna* zeichnet in ihr Tagebuch – einen Sorgenfresser, «hier, schau mal».
Dann schreibt die Siebenjährige die Buchstaben des Tierchens sorgfältig
daneben. Die vierjährige Leni* sitzt daneben und schaut Anna zu. Sie ist
bereits fertig mit Zeichnen. Die Tagebucheinträge gehören zum Morgenritual,
hier, in der Basisstufenklasse E 1 an der Primarschule Buchsee in Köniz. Anna
und Leni sind zwei von 240 Kindern, die eine der zwölf Basisstufenklassen an
der Primarschule Buchsee besuchen.
Damit liegt Köniz im Trend. Denn allein in der grössten Berner
Agglomerationsgemeinde ist die Zahl der Basisstufenklassen seit der Einführung
vor fünf Jahren um über die Hälfte angestiegen. Die Entwicklung ist überall im
Kanton zu beobachten, im urbanen Raum ebenso wie auf dem Land. Die Zahl der
Basisstufenklassen im Kanton Bern ist seit ihrer Einführung 2013 auf das
Dreifache angestiegen.
Zuerst die Arbeit, dann das Spielen, Bund, 17.4. von Mireille Guggenbühler
Das freie Spiel verschwindet
Der Siegeszug der Basisstufe geht einher mit einem Rückzug des
Kindergartens. Zwar ist gesamtkantonal noch kein Ende des klassischen
pädagogischen Konzepts in Sicht. Punktuell ist der Kindergarten aber
mittlerweile in gewissen Gemeinden von der Basisstufe ganz ersetzt oder
zumindest zurückgedrängt worden. Dies nicht nur aus pädagogischen Gründen,
sondern auch deshalb, weil die Schülerzahlen teilweise rückläufig sind,
insbesondere in den Gemeinden auf dem Land, während sie in den Städten
zunehmen.
Zudem verschmelzen ab dem kommenden Sommer die Lehrpläne für
Kindergarten und Schule. Bis anhin waren diese für den Kindergarten und die
Schule verschieden. Mit dem Lehrplan 21, der verstärkt auf die Ausbildung von
Kompetenzen setzt, wird der Kindergarten definitiv zu einem Teil der Schule und
dürfte damit seine bisherige Identität als rein vorschulische Institution
verlieren. So wird in zwei Jahren an den Berner Schulstandorten Spitalacker und
Breitenrain auf der Schuleingangsstufe flächendeckend umgestellt, Kindergärten
werden dann nicht mehr angeboten.
Wie viel Kindergarten ist in der Basisstufe noch drin? Der Kindergarten
ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Der deutsche Reformpädagoge Friedrich
Fröbel war der Erste, der mit dem Kindergarten quasi ein Konzept der frühen
Bildung vorlegte. Eine von Fröbels zentralen Erkenntnissen war, dass Kinder
lernen, indem sie möglichst viel spielen. Diese Erkenntnis hat sich im
Kindergarten bis heute gehalten. In der Basisstufe hingegen steht das
schulische Lernen stärker im Fokus.
Anna und Leni arbeiten mittlerweile im Gang. «Das hier ist mein
Lieblingsposten, sagt Anna. Gemeinsam schrauben die Sieben- und die Vierjährige
verschiedene Gläser auf und zu. Das erfordert gemäss pädagogischen
Erkenntnissen viel feinmotorisches Geschick, eine Voraussetzung für den
Schreiberwerb. Die Suche nach den passenden Deckeln in der richtigen Grösse
begünstigt erste mathematische Erkenntnisse. Die Basisstufe ist also eine
Mischform von Schule und Kindergarten.
Kindergarten oder Basisstufe? Für Margrit Stamm, emeritierte Professorin
für Pädagogische Psychologie und Erziehungswissenschaften, ist der Unterschied
gar nicht so gross: «Viele Kindergärten werden bereits heute verschult.» Das
freie Spiel werde mit den Basisstufen und dem Lehrplan 21 in Zukunft wohl noch
mehr verschwinden. Das habe positive Folgen, könne aber auch zu
Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern führen.
Von den Schulen wird der pädagogische Wert des neuen Modells betont:
«Der Übergang vom Spielen zum schulischen Lernen ist in der Basisstufe
fliessend. Und das ist ein grosser Vorteil – für alle», sagt Annas Lehrerin
Marie-Louise Fehlmann von der Schule Buchsee. Der Schullaufbahnentscheid nach
einem oder zwei Jahren Kindergarten fällt weg – und damit die Diskussionen
darüber, ob ein Kind schulbereit ist oder noch nicht. Die Lehrerinnen der
Basisstufenklasse E 1 betonen: «Das Spiel kommt nicht zu kurz.» Auch die
älteren Schülerinnen und Schüler des 3. und 4. Basisstufenjahrs kämen «zu
intensiven Spielphasen», sagt Christina Emch, die zweite Lehrerin der Klasse.
Die beiden Lehrerinnen der Basisstufenklasse E 1 sind überzeugt, dass
Schlüsselkompetenzen stärker gefördert werden als in den bisherigen Modellen.
Dies dank der Altersdurchmischung und der Möglichkeit, im eigenen Lerntempo zu
arbeiten. Es sind Kompetenzen, die im späteren Leben gebraucht werden:
«Teamfähigkeit, Selbstständigkeit und das allgemeine Sozialverhalten», sagt
Emch. Trotz der Vorteile wird die Entwicklung nicht nur mit Euphorie
aufgenommen.
Der Könizer Bildungsvorsteher Hans-Peter Kohler etwa, zugleich
FDP-Grossrat, forderte letztes Jahr im Kantonsparlament, die Einführung von
Basisstufen zu bremsen. Dass kleinere Gemeinden aus strukturellen Gründen nur
noch die Basisstufe führten und keinen Kindergarten mehr hätten, könne er zwar
verstehen. «Braucht es die Basisstufe aber wirklich überall? Persönlich möchte
ich keinen Kanton haben, in welchem es plötzlich auch in den grossen Gemeinden
keine Kindergärten mehr gibt.» Der Kindergarten gehöre zur Bildungsvielfalt und
habe einen hohen pädagogischen Wert, sagt Kohler.
Die Kinder in der Basisstufenklasse von Marie-Louise Fehlmann und
Christina Emch kümmern solche Diskussionen nicht. Die Jüngeren sind
mittlerweile müde geworden. Auch die vierjährige Leni. Deshalb dürfen sie und
die anderen jüngeren Kinder ihre Arbeit jetzt wegräumen und frei spielen gehen.
Köniz ist die Gemeinde, die im Kanton Bern die meisten Basisstufenklassen führt: Die Zahl stieg von 12 im Jahr 2013 auf heute 41. Die Einführung ist freiwillig, wie es das kantonale Volksschulgesetz vorsieht, das vor fünf Jahr revidiert worden ist. In der Stadt Bern steigt die Zahl der Basisstufenklassen ebenfalls.
AntwortenLöschenZurzeit gibt es ein Dutzend Basisstufenklassen. Bis in zwei Jahren werden es mindestens drei Mal mehr sein. Die Zahl der Basisstufenklassen im ganzen Kanton ist seit 2014 auf das Dreifache angestiegen. Damals waren es in 22 Gemeinden 33, heute sind es in 39 Gemeinden 96. Der Kanton rechnet in den kommenden Jahren mit einem weiteren Ausbau der Basisstufenklassen.
Aufgrund der bisher eingegangenen Gesuche für die nächsten Schuljahre steigt die Zahl voraussichtlich auf 117 im nächsten Jahr und auf 137 bis 2020.
Die Anzahl Kindergärten geht derweil in einzelnen Gemeinden zurück oder die Institution verschwindet sogar ganz. Auch hier fällt Köniz auf, wo es 2014 noch 32 Kindergärten gab, heute sind es 18. In 24 Gemeinden im Kanton gibt es nur noch die Basisstufe. Gemäss Angaben des Kantons ist aber die Anzahl Kindergärten im Kanton Bern seit Jahren immer noch sehr hoch und stabil. Es gibt rund 1000 Kindergärten.
Quelle: Bund, 17.4.
Im November 2012 haben wir im Kanton Zürich mit 71% Ja für die Erhaltung des Kindergartens gestimmt!
AntwortenLöschenTrotzdem soll nun mit dem Lehrplan 21 der Kindergarten definitiv verschult werden. Der «1. Zyklus» des LP21 ist eine Neuauflage der 2012 abgelehnten Grundstufe. Statt mit altersgerechtem spielerischem Lernen sollen bereits die Vier-jährigen mit schulischen Lernmethoden wie z. B. Wochen-plan, selbstgesteuertem Lernen, Lernstandserhebungen, Beurteilungskriterien und Tablets auf Leistung getrimmt werden.
In Zukunft wird es an der pädagogischen Hochschule in Zürich keine Kindergärtnerinnen-Ausbildung mehr geben.
Sind wir gefragt worden, ob wir dieser Entwicklung zustimmen?
Mehr Informationen unter:
www.eineschulefuerunserekinder.ch
www.lehrplan-vors-volk.ch
www.elternfuereinegutevolksschule.ch