Die Gründungsväter der liberalen Schweiz sahen in der Schule eine wesentliche Voraussetzung für das Funktionieren einer freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft. Um an der politischen Öffentlichkeit teilzunehmen, ist eine gute schulische Bildung unerlässlich. Insofern die Schule ihrerseits eine dieser gemeinsamen Angelegenheiten darstellt, ist es nicht der Staat, sondern die Öffentlichkeit, die über die Einrichtung und den Auftrag von Schulen befindet. Auch wenn wir zwischen staatlicher und öffentlicher Schule oft nicht unterscheiden, kommt der Unterscheidung für das politische System der Schweiz zentrale Bedeutung zu.
Aus dem zirkulären Begründungszusammenhang schulischer Bildung ergibt sich, dass deren Kern nicht in der Entfaltung einer privaten Innerlichkeit liegt, sondern in der Vorbereitung auf ein öffentliches Leben. Zwar ist schulische Bildung immer auch von persönlichem Nutzen, wozu auch der Erwerb von Kompetenzen für die Arbeitswelt gehört, in einer demokratischen Gesellschaft stellt sie jedoch in erster Linie ein öffentliches Gut dar. Daraus leitet sich die Legitimation eines liberalen Staates ab, den Erwerb eines Minimums an schulischer Bildung für verbindlich zu erklären.
Haben wir noch eine öffentliche Schule? NZZ, 18.4. von Walter Herzog
Entmachtung der Laiengremien
Allerdings dürfte es schwerfallen, eine allgemeine Schulpflicht durchzusetzen, wenn deren Finanzierung gänzlich den Individuen überlassen wird. In einem liberalen Staatswesen wird daher üblicherweise nicht nur die Regulierung, sondern auch die Finanzierung des Schulbesuchs als staatliche Aufgabe wahrgenommen. So legt die schweizerische Bundesverfassung fest, dass der Besuch eines «ausreichenden Grundschulunterrichts» nicht nur für alle Kinder obligatorisch, sondern auch unentgeltlich ist, sofern er an «öffentlichen Schulen» stattfindet und unter «staatlicher Leitung oder Aufsicht» steht.
Auch eine Privatschule kann unter staatlicher Aufsicht stehen und damit die Anforderungen an eine öffentliche Schule erfüllen. In verschiedenen Kantonen der Schweiz erhalten Privatschulen denn auch staatliche Subventionen, sofern sie Leistungen erbringen, die im öffentlichen Interesse liegen.
Ebenso wenig braucht die Schulaufsicht staatlich organisiert zu sein. Gerade die Schweiz kennt eine lange Tradition der Kontrolle der Schule durch die Zivilgesellschaft. Dies im Rahmen von lokalen Schulpflegen oder Schulkommissionen, die nicht selten in autonome, von der politischen Gemeinde unabhängige Schulgemeinden eingebunden sind. Seit einigen Jahren findet jedoch eine schleichende Entmachtung dieser Gremien statt. Ersetzt werden sie durch vollamtliche Schulleitungen und professionelle Evaluationsstellen, die in der Regel in die Hierarchie der kantonalen Bildungsverwaltungen eingebunden sind. Je mehr die Aufsicht über die Schule an Expertinnen und Experten übertragen wird, desto mehr verliert die Öffentlichkeit zugunsten des Staates an Einfluss auf die Schule.
Auf nationaler Ebene ist es die Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK), die mit ihren Reformprojekten zur Schwächung des öffentlichen Charakters unserer Schule beiträgt. Ursprünglich als Zusammenschluss der Kantone entstanden, um die zentralistischen Ambitionen des Bundes im Bildungswesen zurückzubinden, ist die EDK inzwischen selber zum Protagonisten einer Bildungspolitik geworden, die ihre zentralistischen Tendenzen unter dem Etikett der «Harmonisierung» nur notdürftig verschleiern kann. Seit Annahme der neuen Bildungsartikel in der Bundesverfassung sieht sich die EDK legitimiert, die kantonalen Schulsysteme strukturell so weit zu vereinheitlichen, «dass die zwischen ihnen bestehenden Unterschiede bei den betroffenen Menschen keine erheblichen Nachteile oder gar Behinderungen bewirken».
Auffällig ist, dass die EDK den Reformcharakter ihrer Projekte bestreitet. So betonte der frühere Generalsekretär der EDK, das Harmos-Konkordat umfasse «keine bildungsinhaltliche Reform» im Sinne einer «Veränderung von Bestehendem». Analog heisst es in den «Rahmeninformationen» zum Lehrplan 21, dieser stelle «keine Schulreform» dar, sondern sei ein blosses «Harmonisierungsprojekt». Indem sie ihren Aktivitäten den Stachel der Veränderung zieht, versucht die EDK den Eindruck zu erwecken, als würde sie lediglich einen Verfassungsauftrag umsetzen. Dies ist eine Deckbehauptung: Die Umstellung auf eine konsequent am Output orientierte Steuerung des Schulsystems, die Vorgabe von leistungsorientierten Bildungsstandards, die Ausrichtung des schulischen Lernens an Kompetenzen, die Festlegung von Grundkompetenzen, die alle Schülerinnen und Schüler erwerben sollen, die periodische Überprüfung der Schülerleistungen mittels standardisierter Tests – keine dieser Zielsetzungen lässt sich unmittelbar aus den neuen Verfassungsartikeln zur Bildung ableiten.
Dass eine öffentliche Diskussion über die Ziele von Harmos und Lehrplan 21 nicht stattgefunden hat, erklärt zum grossen Teil die teilweise heftigen Reaktionen, die sich in dem Moment entluden, als die Projekte an die kantonalen Parlamente zur Ratifizierung weitergegeben wurden. Gegner wie Befürworter verbissen sich in Details oder versteiften sich auf Behauptungen, die oft gegensätzlicher nicht sein konnten. Selbst aufseiten der Befürworter wurden das Harmos-Konkordat und der Lehrplan 21 völlig widersprüchlich beurteilt. Sprachen die einen von einem «Jahrhundertwerk», das unsere Schulen gründlich verändern werde, glaubten die anderen, dass sich «nichts Grundlegendes» ändern werde, ja letztlich «alles beim Alten bleibe».
Verantwortlich für diese polemische, einer Demokratie unwürdige Auseinandersetzung ist nicht nur die Flunkerei der EDK, wonach ihre Projekte keine Reformen darstellen, sondern auch die Geheimnistuerei bei der Ausarbeitung der Projekte. Über Projektstand und Projektverlauf dringt nur an die Öffentlichkeit, was die EDK in Form von Medienmitteilungen publik machen will. Nicht einmal die Protokolle der Vorstandssitzungen und Plenarversammlungen der EDK sind öffentlich zugänglich. Und wenn ein Projekt einmal zu Ende ist, kann es nur als Gesamtpaket diskutiert werden. Selbst in den Parlamenten ist eine Detailberatung ausgeschlossen.
Verhindert wird damit die notwendige, zieloffene Auseinandersetzung um die Neugestaltung des Bildungsauftrags unserer Schule angesichts einer sich dynamisch verändernden Gesellschaft. Was Alt-Bundesrat Kaspar Villiger in Bezug auf den Einfluss internationaler Körperschaften auf den Nationalstaat feststellt, nämlich eine Verkleinerung des Volumens an politischer Substanz, das noch demokratisch bewirtschaftet werden kann, trifft irritierenderweise auch auf der nationalen bzw. interkantonalen Ebene zu, und zwar ausgerechnet im Bereich der Bildung, wo man es angesichts der konstitutiven Bedeutung einer öffentlichen Schule für ein liberales Staatswesen am wenigsten erwartet hätte.
Öffentlichkeit geschwächt
Es sind zwei Tendenzen, die dem öffentlichen Charakter unserer Schule zusetzen. Einerseits eine auf kantonaler Ebene vorangetriebene Professionalisierung der Schulaufsicht, die demokratisch nicht legitimierten Experten wachsenden Einfluss auf die Schule gewährt. Andererseits eine durch die EDK auf interkantonaler Ebene forcierte Strategie der «Harmonisierung», die sich als schlichte Befolgung einer Verfassungspflicht ausgibt und damit einer technokratischen Politik Vorschub leistet. In beiden Fällen wird die Öffentlichkeit der schulischen Bildung geschwächt. Je mehr die Schule in den Sog von expertokratisch und technokratisch motivierten Reformen gerät, desto mehr steht zu befürchten, dass ihre Akzeptanz in der Bevölkerung schwindet. Fatal wäre, wenn damit auch das Bewusstsein für die politische Bedeutung einer funktionierenden Öffentlichkeit verloren ginge. Sollten wir je an diesem Punkt anlangen, gäbe es keinen Unterschied mehr zwischen einer öffentlichen und einer staatlichen Schule. Fraglich ist, ob wir dann noch in einer demokratischen Gesellschaft leben würden.
Walter Herzog ist Professor am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Bern.
Expertokratie als neue Herrschaftsform in der Volksschule?
AntwortenLöschen("Haben wir noch eine öffentliche Schule?"NZZ 18.4.2018)
Am 30. November 2017 schrieb die NZZ: „Den OECD-Experten verdanken wir zum Beispiel das Konzept der Kompetenzorientierung in der Volksschule im Rahmen des Lehrplans 21“. 1961 fand in Washington eine Konferenz der neu gegründeten „Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung“ (OECD) statt. Die Mitgliedstaaten der OECD wurden aufgefordert, ihre Bildungssysteme nach amerikanischem Vorbild umzubauen. Das amerikanische Schulsystem produziert laut Angaben der OECD 23% Analphabeten, das sind übe 70 Millionen Erwachsene. Und dieses Schulsystem mit der OECD-„Kompetenzorientierung“ ist in die "Grundlagen für den Lehrplan 21" eingeflossen, die von 2006 bis 2010 von einem sechsköpfigen Team mit Kompetenz-, Gender- und Reformexperten unter Geheimhaltung erstellt wurden. Der Lehrerdachverband der Schweiz LCH schrieb 2013 in seiner Antwort zur Konsultation des Lehrplans 21: „Die Politik behauptet, der Lehrplan 21 sei „keine Schulreform“ und „kein Paradigmenwechsel“. „Genau das ist er aber: Er ist Teil eines Programms zur grundlegenden Umgestaltung der Steuerung im Bildungswesen.“ „Die „Methodenfreiheit“ der Lehrpersonen wird stark relativiert.“ Schlechtes umsetzen, nur weil es bisher schon viel gekostet hat?