Kinder
müssen auch ausserhalb der Schulstunden gefördert werden, fordert die
Erziehungswissenschafterin Marianne Schüpbach.
Wir brauchen Tagesschulen, um im internationalen Wettbewerb mitzuhalten, NZZaS, 15.4. von Regula Freuler
NZZ am
Sonntag: Frau Schüpbach, was gehört zu einer guten Tagesschule?
Marianne
Schüpbach: Klar
definierte pädagogische Zielsetzungen. Eine gute Tagesschule ist ein
Bildungsangebot, wo die Kinder im Aufbau von sozialen Kompetenzen unterstützt
und ihre Selbständigkeit gefördert werden. Dazu kommen individuelle
Fördermöglichkeiten, etwa im sprachlichen, im mathematischen oder im
naturkundlichen Bereich.
Also eine
Erweiterung des Schulunterrichts?
Bildung
kann weit mehr sein, als was im Unterricht stattfindet! In der Tagesschule geht
es darum, dass die Kinder ausserhalb des Unterrichts eine sinnvolle und
anregende Umgebung vorfinden. Auf der Primarstufe können das sehr spielerische
Formen sein. An der idealen Tagesschule, wenn wir sie so nennen wollen, gibt es
Arbeitsgruppen. Aus der amerikanischen Forschung weiss man, dass solche
Arbeitsgruppen oder Programme dann besonders wirksam sind, wenn konkret und
zielgerichtet an einem Thema über längere Zeit gearbeitet wird.
Können
Sie ein Beispiel geben?
In einer
bayrischen Tagesschule wird im Sommer ein neues Angebot eingeführt: Die Kinder
begeben sich jeweils einmal in der Woche an einem Nachmittag gemeinsam auf eine
«Reise». Die einzelnen Stationen auf dieser Reise symbolisieren Themen wie
«Gefühlslandschaft» oder «Friedenstal», wo man Streitsituationen und Konflikte
löst. Begleitend gibt es Materialien wie einen Routenplaner oder ein Reiselied,
das an jeder Station um eine passende Strophe wächst. So sollen die Kinder ihre
sozialen Kompetenzen verbessern. Wir begleiten das Projekt mit einer
Interventionsstudie.
Wie sieht
es mit der Hausaufgabenbetreuung aus?
Auch das
gehört dazu.
Sollten
die zusätzlichen Angebote freiwillig oder verpflichtend sein?
Die
vorliegenden empirischen Studien zeigen keinen Vorteil eines gebundenen,
obligatorischen Modells gegenüber einem offenen, freiwilligen. Aus
pädagogischer Perspektive und aufgrund von theoretischen Überlegungen bietet
das gebundene Modell allerdings mehr Möglichkeiten. Man kann dann eine
Zeitstruktur für alle Kinder schaffen und den ganzen Schultag mit Unterricht
und Bildungs- und Freizeitaktivitäten rhythmisieren. Wichtiger als das Modell
ist jedoch die pädagogische Qualität dieser Angebote und Aktivitäten.
Wie
erreicht man eine solche Qualität?
Es würde
zu kurz greifen, die Verantwortung dafür allein dem Betreuungspersonal
zuzuschieben. Der Ausbau der Schule über den Unterricht hinaus ist eine neuere
Entwicklung, und ob sie gelingt oder nicht, hängt davon ab, wie das Ganze
aufgegleist wird. Hier ist noch sehr vieles offen.
In der
Schweiz wird über zu viel Leistungsdruck an Schulen geklagt. Sollte man das
Freispiel nicht verteidigen, statt mit zusätzlichen Aktivitäten einzuschränken?
Wir
würden unser Bildungspotenzial verschenken, wenn wir Tagesschulen frei von
Aktivitäten halten würden. In anderen Ländern wie den USA, Südkorea oder Japan
ist die ausserunterrichtliche Betreuung ganz klar als Bildungsangebot
konstituiert. In unserem Nachbarland Deutschland verfolgt sie das Ziel von mehr
Chancengleichheit. Es geht, wie gesagt, nicht um Zusatzunterricht. Man muss
diese Betreuungszeit pädagogisch neu denken.
In der
Schweiz sind 43 Prozent des Betreuungspersonals nicht spezifisch ausgebildet.
Ausgebaut wird der Anteil der Fachangestellten Betreuung, die eine dreijährige
Lehre machen. Reicht das, um die geforderte Qualität zu erreichen?
Die
Professionalisierung ist essenziell, keine Frage. Das Personal muss eine
pädagogische Ausbildung mitbringen. Wie es in Schweden gemacht wird, finde ich
vorbildlich. Da gibt es kein ungelerntes Personal mehr an Tagesschulen. Lehr-
und Betreuungspersonen machen einen Bachelor an der Universität und besuchen
gemeinsame Lehrveranstaltungen. Danach gibt es eine Spezialisierung für jene,
die unterrichten wollen. Man entwickelt auf diese Weise ein gemeinsames
Bildungsverständnis.
Inwiefern
ist das wichtig für die Qualität?
Das ist
nicht nur eine gute Grundlage für die Betreuungsarbeit selbst, sondern genauso
für die Zusammenarbeit. Wie die Kooperation zwischen unterrichtendem und
betreuendem Personal läuft, ist ein ganz wichtiger Qualitätsfaktor. Oft
scheitern Tagesschulen daran, dass die Betreuerinnen und Betreuer nicht
dasselbe Standing und nicht dasselbe Renommee haben wie die Lehrpersonen. Auch
beim Lohn gibt es massive Unterschiede.
Sie haben
zwischen 2006 und 2017 zwei Studien zum Nutzen von Tagesschulen in der Schweiz
durchgeführt und sind zu gegenteiligen Ergebnissen gekommen:
Bei der ersten Studien zeigte sich ein Lerneffekt, bei der zweiten nicht.
Warum?
Die
Studien waren unterschiedlich konzipiert und verglichen unterschiedliche
Modelle. Ausserdem war der Längsschnitt unterschiedlich lang: bei der ersten
Studie drei Jahre, bei der zweiten etwas mehr als ein Jahr. Man weiss jedoch
von anderen Untersuchungen, dass sich ein Effekt erst nach einer gewissen Dauer
und bei intensiver Nutzung einstellt, die über das Mittagessen hinausgeht.
Ihre
Untersuchungen zeigen, dass die Ansprüche, die gegenwärtig an Tagesschulen
gestellt werden, sehr unterschiedlich sind. Sind sie generell zu hoch?
Im
Gegenteil, sie sind zu wenig hoch! Und das ist nicht etwa meine persönliche
Meinung, sondern wir haben dies untersucht. Wir haben die Eltern befragt. Diese
erhoffen sich in erster Linie mehr zeitlichen Freiraum, um arbeiten gehen zu
können, sowie bessere soziale Kontakte und die Förderung der Selbständigkeit
ihrer Kinder. Schon das Beaufsichtigen der Hausaufgaben ist für die meisten
Eltern weniger bedeutend. Geht es um die individuelle Förderung oder bessere
Leistungen ihrer Kinder, nehmen die elterlichen Ansprüche rasant ab. Sie
könnten jedoch auch nicht viel mehr verlangen, so wie die gegenwärtige
Ausstattung der Betreuung an vielen Orten angelegt ist. Hier besteht ein
grosses Potenzial. Es gibt jedoch positive Ausnahmen, das soll hier auch gesagt
werden.
Sie
fordern mehr Betreuungspersonal. Hier stösst man aber an politische Grenzen.
Lässt sich das Tagesschulen-Konzept wie etwa jenes von Zürich trotzdem
erfolgreich umsetzen?
Nicht,
ohne Geld in die Hand zu nehmen. Das sollte man aber dringend tun, um eine gute
pädagogische Qualität zu erzielen. Beim Schulunterricht sind sich ja auch alle
einig, dass es eine gute Qualität braucht und dass diese etwas kostet. Konkret
braucht es Investitionen in die Aus- und Weiterbildung des Personals und in
mehr Personal. Bei der Finanzierung ist ein Umdenken nötig: Ausser vielleicht
das Mittagessen sollte das Angebot Tagesschule für die Familien gratis sein,
wenn man damit auch mehr Chancengleichheit erzielen möchte.
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