Seit
Jahrhunderten schreiben wir mit der Hand. Smartphone und Computer machen das
überflüssig. Manche warnen nun davor, dass Kinder sich schlechter entwickeln.
Zu Recht?
Wir verlernen die Handschrift, Zeit, 14.4. von Lara Malberger
Die
Handschrift ist eine der größten kulturellen Errungenschaften der Menschheit:
Dank ihr konnten Menschen ihr Wissen konservieren. Schrift ermöglichte es,
komplexe Gedanken und Ideen unabhängig von Zeit und Raum an andere Menschen
weiterzugeben. Und dank der Handschrift wissen wir bis heute, was Platon und
Sokrates lehrten (Unter anderem, dass das Schreiben eine Bedrohung für das
Gedächtnis der Menschen sei). Aber während derartige Gedanken früher auf
Steintafeln, Papyrus und später auf Papier notiert wurden, löst sich die
Schrift heute immer mehr von ihrer physischen Grundlage. Heute schreiben und
speichern wir vieles nur noch auf unseren Smartphones und Computern und laden
es in die Cloud hoch. Immer seltener greifen wir zum Stift, immer häufiger
tippen wir auf Displays und Tastaturen herum. Oft findet sich die Handschrift
nur noch in Notizen oder auf Grußkarten.
Bildungsforscher
sehen sie deshalb in höchster Gefahr. Und sie scheinen recht zu haben: Eine
Umfrage unter 1.900 Lehrerinnen und Lehrern ergab, dass 30 Prozent aller
Mädchen und 50 Prozent aller Jungen Probleme damit haben, flüssig Schreiben zu
lernen. In der weiterführenden Schule seien gar 40 Prozent der Schüler nicht in
der Lage, eine halbe Stunde ohne Probleme durchzuschreiben. (Neuroscience and Education: Marquardt et al., 2016).
Die
Lehrer wurden auch gefragt, was sie glauben, woran das liegt: Immerhin 53
Prozent sahen die "fortschreitende Digitalisierung der Kommunikation"
als Grund. Aber sorgen Tablets in der Schule und WhatsApp-Nachrichten am
Nachmittag wirklich dafür, dass Kinder nicht mehr richtig schreiben lernen?
Dafür, dass eine uralte Kulturtechnik wie die Handschrift verloren geht? Und
was bedeutet das für die Entwicklung der Kinder?
Keine Beweise dafür, dass die Digitalisierung
Schuld ist
Wissenschaftliche
Beweise dafür, dass die Digitalisierung die Ursache der Schreibprobleme ist,
gibt es nicht. Die meisten Erkenntnisse beruhen auf Beobachtungen von Lehrern
und Eltern. Eigentlich ist noch nicht einmal klar, ob es Schülern wirklich
schwerer fällt als früher, Schreiben zu lernen, oder ob es ihnen schon immer
schwergefallen ist. "Uns fehlen Vergleichswerte", gibt auch der
Psychologe und Bewegungswissenschaftler Christian Marquardt zu, der sich seit
vielen Jahren mit dem Thema beschäftigt und die Lehrerumfrage für das
Schreibmotorik-Institut durchgeführt hat, einer Forschungseinrichtung, die sich
vor allem für den Erhalt der Handschrift einsetzt.
Auch der
Neurologe Christian Kell ist skeptisch: "Wenn die Befragten schon vorher
eine gefestigte Meinung haben, kann das die Ergebnisse verzerren."
Trotzdem glaubt Kell, der an der Uni Frankfurt zum Thema Sprachverarbeitung
forscht, an den Wert der Handschrift. "Schreiben ist eine Meisterleistung
des Gehirns", sagt er. Schon das Lesen sei eine hochkomplexe Fertigkeit.
Wir lernen, einzelne Buchstaben mit Lauten in Verbindung zu bringen und
schließlich, diese zu Worten zu verbinden. Mit der Zeit verliert der einzelne
Buchstabe an Bedeutung, wir scannen ganze Wörter auf einen Blick und interpretieren
sie im Kontext des Satzes: Acuh wnen Bchustben vetruasht snid köenenn wri
desien Staz zmu Bspieel preobmllos lseen. Das liegt unter anderem an einem
Areal im visuellen System unseres Hirns. Es kann ganze Worte spezifisch
erkennen und steht im regen Austausch mit dem Sprachsystem.
Und beim
Schreiben mit der Hand passiert noch mehr als beim Lesen: Wir wandeln einen
Laut oder ein Wort in eine feine, sehr präzise Handbewegung um. Hier kommt das
motorische System des Hirns ins Spiel, das unsere Bewegungen steuert. Wer
schreibt, aktiviert also verschiedenste Areale seines Gehirns.
Schreiben ist ein evolutionäres Nebenprodukt
Dabei sei
die Veranlagungen zum Schreiben zwar angeboren, erklärt Christian Kell, anders
als das Sprechen sei das Schreiben aber wenig intuitiv. Deshalb müssten wir es
auch so mühsam erlernen. Etwas, das sich evolutionär erklären lasse: Das
Sprechen hat sich als einzelne Fähigkeit entwickelt, wir Menschen sprechen seit
mindestens 50.000 bis 100.000 Jahren, vielleicht sogar seit einer halben
Million Jahren (Frontiers in Psychology: Dediu & Levinson, 2013). Das Schreiben
hingegen ist evolutionär eher ein Nebenprodukt besserer motorischer Fähigkeiten,
wie sie beispielsweise auch beim Herstellen von Werkzeugen gebraucht wurden.
"Die Fähigkeit zu schreiben ist deshalb noch nicht derart stark
in unser Erbgut eingebaut wie das Sprechen", sagt Kell.
Schriftzeichen
kennen wir erst seit 5.000 bis 6.000 Jahren: Damals entwickelten die Sumerer im
heutigen Irak die sumerische Keilschrift. Eine Bilderschrift mit knapp 2.000
Zeichen, die dazu diente, den Handel zu verwalten. Die Sumerer ritzten sie mit
Holzstäbchen in Lehmplatten. Über die Jahrhunderte entwickelte sich aus dieser
Schrift unser heutiges Alphabet.
Während
sich das Sprechen von Anfang an alle Menschen aneigneten, war das Schreiben
lange Zeit nur einer Minderheit vorbehalten. Nur Händler, Adlige und Geistliche
lernten es. Auch in Deutschland ist es erst knapp 100 Jahre her, dass wirklich
jeder das Schreiben lernt: 1919 wurde die allgemeine Schulpflicht eingeführt.
Noch heute können 7,5 Millionen Menschen in
Deutschland nicht oder nur unzureichend lesen und schreiben.
Weltweit sind es knapp 750 Millionen. Kell glaubt deshalb: "Es würde den
Menschen sicher nicht von Grund auf verändern, wenn er nicht mehr mit der Hand
schreiben würde."
Mit der Hand zu schreiben trainiert das Gehirn
Trotzdem
könnte es Folgen haben, wenn wir die Fähigkeit, einen Laut in eine Handbewegung
umzuwandeln, im Alltag nicht mehr nutzen. Wir werden schlechter darin, sagt
Christian Marquardt. Die Handschrift sei außerdem eines der besten Mittel, um
die Motorik, also das gezielte Ausführen von Bewegungen, zu schulen. Christian
Kell erklärt: "Grundlegende feinmotorische Fähigkeiten wie das Zeigen oder
Greifen entwickelt jeder." Anders sei es bei den sogenannten "skills",
also dem Zeichnen oder dem Spielen eines Instruments. Diese Weiterentwicklung
der motorischen Fähigkeiten müsse man lernen. Und das fordere und schule das
Nervensystem. "Wenn Menschen sich motorisch nicht fordern, ist das weder
gut für die Hirnentwicklung noch für die Aufrechterhaltung von Hirnleistung im
Alter", sagt Kell. Christian Marquardt hält es deswegen auch für
"wichtig, dass jeder Mensch sich in seinem Leben mindestens eine
feinmotorische Fähigkeit aneignet." Wenn es nach ihm geht, wäre es das
Schreiben.
Außerdem
gibt es Studien, die zeigen, dass das Schreiben per Hand Kindern das Lernen
erleichtern könnte. Das fängt beim Lesenlernen an: Kinder, die einen Buchstaben
per Hand nachmalen, können ihn besser im Gedächtnis behalten als Kinder, die
ihn auf einer Tastatur eintippen, zeigte eine Studie an 23 Kindergartenkindern
(Advances in
Cognitive Psychology: Kiefer et
al., 2015).
Ähnlich
verhält es sich beim Fakten-Lernen: In den USA ließen eine Psychologin und ein
Psychologe eine Gruppe von 67 Studenten der Princeton University an einer
Vorlesung teilnehmen. Die Studentinnen und Studenten durften entweder Notizen
mit dem Laptop oder per Hand machen, anschließend wurden die Teilnehmenden
getestet. Das Ergebnis: Die, die per Hand geschrieben hatten, schnitten
signifikant besser ab. Die Forscher führten das darauf zurück, dass sie das
Gehörte bereits stärker verarbeitet und gedeutet hatten als ihre tippenden
Kommilitonen (Psychological Science: Müller
& Oppenheimer, 2014). "Wenn wir per Hand mitschreiben,
hören wir bewusster zu", sagt auch Marquardt. Die Verbindung von Inhalt
und Bewegung hinterlässt eine Art Erinnerungsspur. Trotzdem müsse man
aufpassen, nicht zu sehr zu verallgemeinern, sagt Kell: Manche Menschen lernten
besser durch Hören, Aufsagen oder Lesen. "Lernen ist etwas sehr Individuelles",
sagt Kell.
Die Handschrift wird nur überleben, wenn sich in
den Schulen etwas ändert
Wie aber
wollen Forscher wie Christian Marquardt, die die Handschrift wegen all dieser
positiven Effekte erhalten möchten, das anstellen? "Im Unterricht muss
sich etwas ändern", sagt er. "Es wäre viel effektiver, den Kindern
direkt zu ermöglichen, ihre eigene Handschrift auszubilden." In der
Schweiz wird das momentan ausprobiert – und es funktioniere gut, sagt
Marquardt. Die Kinder lernen eine Grundschrift, die der Druckschrift ähnelt,
und dürfen selbst entscheiden, welche Buchstaben sie verbinden und welche
nicht. Unterstützt werden sie dabei von den Lehrern. Auch in einigen anderen
Ländern setzt sich diese Herangehensweise durch. In Finnland lernen Kinder seit
2016 diese Grundschrift, während gleichzeitig das Tippen auf der Tastatur
unterrichtet wird. In Hamburg steht es Lehrern seit 2011 frei, ob sie
Schreibschrift oder Grundschrift unterrichten.
"Früher
wurde die ordentliche Handschrift als Erziehungsmittel eingesetzt, das ist
heute nicht mehr ihr Zweck", sagt Marquardt. Das müsse auch in den Schulen
ankommen, Lehrer müssten kindgerechtere Wege finden, ihren Schülern das
Schreiben beizubringen. Dazu zähle auch, die Digitalisierung nicht zu
verteufeln, sondern beide Bereiche zu verbinden. Etwa durch Stifte, die das
Geschriebene direkt digitalisieren oder durch Tablets. Marquardt arbeitet auch
an Computerprogrammen, die mithilfe von Tablets die Schreibfähigkeiten von
Schülern analysieren. Die Software erfasst den individuellen Bewegungsablauf
des Schreibenden und schlägt gezielt Übungen für die jeweiligen Probleme des
Kindes vor.
Wer die
Handschrift rettet, helfe Kindern also nicht nur, sich Wissen besser
einzuprägen und sich motorisch gut zu entwickeln, glaubt Christian Kell, er
rettet auch den persönlichen Ausdruck, der in der Schrift stecken kann. Denn in
den kurzen Strichen, weiten Bögen und engen Windungen einer Handschrift erkennt
man den Schreibenden wieder.
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