Das Projekt «Lernort
Familie 5+» zeigt Eltern, wie sie ihre Kleinkinder spielerisch zum Lernen
anregen können. Damit sollen Eltern ihren Kindern den Schuleintritt
erleichtern.
Eltern lösen Hausaufgaben - die Kinder profitieren, NZZ, 3.4. von Lena Schenkel
Normalerweise sitzen hier Kinder im Halbkreis und hören der
Kindergärtnerin zu. An diesem Nachmittag in Rümlang sind es für einmal ihre
Eltern: Vier Mütter und ein Vater sind im Kindergarten Rümelbach
zusammengekommen, um zu lernen, wie sie ihre Kleinen daheim fördern können.
«Und, wie ist es gegangen mit dem Fruchtsalat?», fragt die Elternbildnerin
Sandra Stylianou-Osterwalder. Die Eltern holen bunt bemalte Blätter hervor:
Banane, Erdbeeren, Äpfel und Ananas. Weiss geblieben sind: Broccoli, Lauch und
Zwiebel. Eine Mutter berichtet, ihr Sohn habe die Früchte und Gemüse erst auf
Italienisch, dann auf Deutsch aufgezählt. Eine andere war erstaunt, dass ihr
Sohn Lauch nicht kannte.
«Lernort Familie 5+» heisst das Gruppenprojekt, an dem Eltern an
fünf Nachmittagen teilnehmen können, während ihre Kinder nebenan betreut
werden. Zwei Stunden lang geben Elternbildnerin Stylianou-Osterwalder und die
Heilpädagogin Naemi Gasser ihnen Tipps, wie sie ihre Kinder im Familienalltag
fördern können. Heute auf dem Programm: der Schuleintritt, der nach den
Sommerferien ansteht. Stylianou-Osterwalder heftet verschiedene Kärtchen an
eine Tafel, auf denen steht, was Eltern tun können, um ihre Kinder dabei zu
unterstützen. Vorab gemeinsam den Schulweg abgehen oder positive eigene
Erfahrungen von der Schulzeit erzählen, zum Beispiel. Wichtig sei auch,
Interesse zu zeigen, sagt die Elternbildnerin; das Kind zu ermuntern, von der
Schule zu erzählen.
«Das tue ich jetzt schon», sagt darauf eine Mutter, «aber mein Bub
erzählt einfach nichts vom Kindergarten.» Während die Tochter munter
drauflosplappere, bleibe der Junge wortkarg. «Wir haben gespielt», sei jeweils
das Einzige, was er rausbringe. Das komme ihr bekannt vor, wirft ihre
Sitznachbarin ein. Bei ihr habe das Abendritual geholfen, den Tag Revue
passieren zu lassen. Inzwischen falle es ihrem Sohn leichter, positive
Erlebnisse aufzuzählen und vom Kindergarten zu erzählen. Heilpädagogin Gasser
ergänzt, manche Kinder wollten daheim bewusst nichts von «ihrem» Refugium
erzählen, das sei auch zu respektieren.
Zielgerichteter Austausch
Dass die anderen Eltern ähnliche Probleme hätten, sei beruhigend,
sagt eine Mutter in der anschliessenden Kaffeepause. Auch sie hat letztes Mal
einen hilfreichen Rat bekommen. Ihr Sohn hatte morgens beim Anziehen immer
getrödelt. So sehr, dass sie ihm schon entnervt drohte, dann müsse er halt im
Pyjama in den Kindergarten. «Pack den Buben doch bei seinem Ehrgeiz», riet
darauf eine Mutter. Und tatsächlich: Seit sie und ihr Sohn jeden Morgen darum
wetteifern, wer schneller angezogen ist, klappt es. Aber hätte sie diesen Tipp
nicht auch von einer Freundin bekommen können? Vielleicht, sagt sie, aber hier
sei der Austausch zielgerichteter, professioneller.
Eine Selbsthilfegruppe für Eltern ist der Kurs jedoch mitnichten.
In erster Linie sollen nicht die Mütter und Väter, sondern die Kinder
profitieren. Etwa, wenn sie zu Hause gemeinsam würfeln und Formen ausmalen,
Katzen und Kühe auf einem Bauernhofbild zählen und benennen oder Bauklötze auf
einem Blatt drapieren. Ihr Bub schätze es sehr, dass sie sich einmal nur für
ihn Zeit nehme, sagt eine Mutter. Nebenbei fördern solche Übungen sprachliche
und kognitive Fertigkeiten, welche die Kinder später brauchen. Selbst beim
einfachen Leiterlispiel, das die Eltern heute auf einem laminierten Blatt
Papier mit nach Hause nehmen, erwerben die Kinder mathematische
Grundkompetenzen – ohne es zu merken.
Initiiert hat das Förderprogramm die Interkantonale Hochschule für
Heilpädagogik (HfH), die es wissenschaftlich begleitet und seine Wirksamkeit
untersucht. In der Umsetzung arbeitet sie eng mit dem Amt für Jugend und
Berufsberatung der Zürcher Bildungsdirektion zusammen. Dass sich eine solche
Frühförderung lohnt und Lern- und Verhaltensstörungen vorbeugen kann, bewies
bereits das Vorgängerprogramm «PAT – mit Eltern lernen» im Rahmen der
Langzeitstudie «Zeppelin». Von 2011 bis 2016 besuchten Mütterberaterinnen
regelmässig sogenannt sozial belastete Familien, die etwa von Armut, Krankheit
oder Migration betroffen waren. Sie zeigten ihnen Wege, ihr Kind von der Geburt
bis zum dritten Altersjahr bei der Entwicklung zu unterstützen.
Wie die Forscher zu Projektende aufzeigen konnten, verfügten die
derart frühgeförderten Kinder mit drei Jahren über signifikante Vorsprünge
gegenüber nicht geförderten in ähnlichen Familienverhältnissen: Sie hatten etwa
einen grösseren Wortschatz, waren weniger ängstlich oder hatten ihre Impulse
besser unter Kontrolle. Selbst zwei Jahre später sind die positiven Effekte bei
der Sprache und im Familienumfeld noch nachweisbar, wie erste Ergebnisse
zeigen, die seit März vorliegen. Abgenommen haben laut Studienautoren indes die
Unterschiede bei den mathematischen und kognitiven Kompetenzen.
Dass die anderen Kinder teilweise aufholten, liege wohl auch an
der guten Förderung im Kindergarten, sagt Andrea Lanfranchi. Er leitet das
Projekt und lehrt als Professor an der HfH. Aus der Forschung wisse man aber
auch, dass die Effekte der Frühförderung mit der Zeit nachliessen. Mit dem
neuen Programm will man die Präventionskette – Lanfranchi selbst spricht lieber
von Förderlinie – weiterziehen, vom zweiten Kindergartenjahr bis zur zweiten
Primarschulklasse. Finanziert wird es vom kantonalen Lotteriefonds und von zwei
privaten Stiftungen.
Zehn Standorte – 60 Elternteile
Gefördert wird gezielt in Gemeinden mit hohem Sozialindex, wo
Eltern mitunter erschwerte Bedingungen haben. «Lernort Familie 5+» wird zurzeit
an zehn Standorten in den Gebieten Dietikon-Schlieren, Opfikon-Kloten und
Dübendorf-Uster angeboten. Am Programm beteiligen sich derzeit insgesamt 60
Elternteile. Rund ein Drittel hat bereits am «Zeppelin»-Projekt teilgenommen,
wurde also mit dem Frühförderprogramm PAT unterstützt. Hinzu kamen weitere
hinsichtlich sozialer Schicht, Familiensprache und Beruf der Mutter
vergleichbare Familien, welche die HfH mithilfe der Kindergärtnerinnen
ausgewählt und kontaktiert hat. Insgesamt seien die Anmeldungen mit 50 Prozent
Rücklaufquote bisher deutlich unter den Erwartungen geblieben, sagt
Projektleiter Lanfranchi. Obwohl die Förderung gut gelinge, sei es nicht
einfach, die Eltern zu erreichen und zu motivieren.
In Rümlang hat Heilpädagogin Gasser deswegen von Beginn weg
sämtliche Eltern von Kindergartenkindern angeschrieben, worauf sich acht Väter
und Mütter angemeldet haben. Im Rümelbach sitzen an diesem Nachmittag solche
mit und ohne Migrationshintergrund, Bildungsnahe und -ferne: die albanische
Biochemikerin neben der Schweizer Angestellten. Profitieren könnten alle, sagt
Gasser. Sie hat bereits im ersten Kindergartenjahr einen ähnlichen Kurs
angeboten und erlebt, was für einen Vorsprung Frühförderung den
Kindergartenkindern verschaffen kann. Dass sich diesmal weniger Eltern
angemeldet hätten, liege sicher auch daran, dass diese im Rahmen des
Forschungsprojekts auch befragt und besucht würden, was einige als störend
empfänden. Sollte das Angebot einmal institutionalisiert sein, sähe dies
bestimmt anders aus, zeigt sich Gasser überzeugt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen